Jumar, sichtbar
Christopher dachte, die Nacht würde nie enden. Es war so kalt, so kalt –
Ab und zu liefen sie hin und her, jagten sich gegenseitig durch den Schnee, zwangen sich, in Bewegung zu bleiben – dann saßen sie wieder und warteten; ihre Gedanken bei Jumar, in der Höhle des Drachen. Kein Laut drang von dort aus zu ihnen, aber das mochte an der Entfernung liegen. Niya lehnte sich an ihn, und irgendwo in der Nacht, später, kamen auch ihre Lippen wieder vor, aber Christophers Herz war bei Jumar, und als ihre Hände tun wollten, was sie damals auf dem Felsen vor der geschmolzenen Stadt getan hatten, da schüttelte er den Kopf.
»Aber wir müssen uns wärmen«, wisperte sie. »Irgendwie. Sonst werden wir erfrieren.«
»Wir können uns einfach nur ganz fest halten«, flüsterte Christopher. »Das muss reichen. Ich hätte ein schlechtes Gewissen, jetzt – weißt du, Jumar, er – er liebt dich. Ich weiß es.«
»Und du? Liebst du mich?«
Er legte ihr seinen Finger an die Lippen.
Und so hielten sie sich aneinander fest und warteten sich durch die Nacht. Manchmal standen sie auf, um herumzulaufen, damit sie nicht am Fleck festfroren. Doch Jumar kam und kam nicht wieder.
»Wie lange warten wir?«, fragte Christopher. »Wie lange warten wir, ehe wir hinaufgehen und nachsehen, was geschehen ist?«
»Bis zum Morgen«, entschied Niya.
Und als die Sonne aufging und die Schatten der Nacht vertrieb, dachte Christopher, er müsste verrückt werden vor Ungeduld und Sorge.
»Ich halte das keine Minute länger aus«, sagte er.
»Das brauchst du nicht«, antwortete Niya, und ein breites Lächeln erhellte ihr Gesicht wie eine eigene Sorte Morgensonne. Christophers Blick folgte ihrem ausgestrecktem Arm.
»Da ist er«, sagte Niya.
Ja, und da war er.
»Aber was ist das?«, fragte Christopher. »Da ist etwas in der Luft –«
»Schmetterlinge!«, rief sie und starrte ihre Hand an, auf der eines der zerbrechlichen Wesen gelandet war. »Millionen von Schmetterlingen!«
Hinter den Schmetterlingen kam langsam eine Gestalt in tarngrüner Jacke und grün gefleckten Hosen den Hang hinab, ein Gewehr über der Schulter, dicke Stiefel an den Füßen.
»Wenn ich nicht genau wüsste, dass du hier neben mir stehst«, sagte Niya kopfschüttelnd zu Christopher, »würde ich wohl sagen: Das dort bist du.«
»Ja, hm«, machte Christopher ratlos.
Es stimmte: Die Gestalt, die sich ihnen näherte, sah fast genauso aus wie er.
Sie war nicht besonders groß, etwas schmächtig, hatte dunkle Haare und flache Gesichtszüge ...
Und dann war die Gestalt bei ihnen.
»Jumar?«, fragte Christopher ungläubig.
»Ich fürchte, das bin ich«, sagte Jumar.
Niya sah von Christopher zu Jumar, von Jumar zu Christopher und wieder zurück – und schließlich warf sie den Kopf in den Nacken, wie sie es getan hatte, als Jumar ihr erklärte, wer er wirklich war – und lachte und lachte und lachte.
»Da hat sich nun der eine von euch den ganzen Weg über für den anderen ausgegeben«, prustete sie, »und dabei – dabei seht ihr genau gleich aus! Na ja, bis auf die Nase vielleicht. Christophers Nase ist trotz allem ein bisschen zu europäisch. Ihr – ihr müsstet euch sehen – verflucht will ich sein, wenn ihr nicht als Zwillinge durchgehen könntet!«
Jumar und Christopher sahen sich an, und Niya lachte noch mehr. »Und ihr könnt ein absolut gleich dummes Gesicht machen«, fügte sie zufrieden hinzu.
»Tja«, sagte Jumar.
»Tja«, sagte Christopher.
Und sie machten sich auf den Weg hinab, hinab vom Macha-puchare, fort von der tödlichen Kälte. Aber noch war der Berg nicht fertig mit ihnen. Noch hatte er eine Überraschung für sie parat. Oder eigentlich mehrere.
Die erste war, dass sie den Weg nicht mehr wiederfanden, jenen Weg über den Gletscher. Sie waren auf einem Pfad gekommen, doch der Pfad war verschwunden. Es hatte nicht geschneit. Wie konnte ein Pfad einfach so verschwinden?
»Du hast uns in die Irre geführt, Jumar«, sagte Christopher. Denn zur Abwechslung ging einmal Jumar voran. Er hatte darauf bestanden.
»Unsinn«, antwortete Jumar. »Da unten sehe ich ein Stück des Pfades.«
Christopher strengte seine Augen an, konnte aber nichts erkennen.
Und nach einer Weile sagte Niya: »Hier müsste jetzt eigentlich dein Pfad sein, was, Jumar?«
Jumar knurrte.
»He –«, sagte er dann, »was ist das dort?«
»Schafe, würde ich sagen«, meinte Niya.
Tatsächlich, etwas weiter hangabwärts war eine kleine Herde Schafe unterwegs. Ihr Fell wirkte blau gegen das Weiß des Berges, und Christopher erinnerte sich, über blaue Schafe im Himalaja gelesen zu haben.
»Sie haben einen Bronzestich im Fell«, sagte Jumar.
»Quatsch«, sagte Niya. »Sie bewegen sich doch. Die sind nicht aus Bronze. Das sind ganz gewöhnliche Schafe.«
»Von wegen gewöhnliche Schafe!«, meinte Jumar. »Sieh nur! Da, wo sie über den Gletscher hinabklettern, verschwindet der Pfad! Sie – sie nehmen ihn einfach mit! Die Drachen«, flüsterte er. »Die Schatten der Drachen sind auf sie gefallen. Es kommt wohl nie etwas Gutes dabei heraus. Diese Schafe tilgen die Wege, auf denen sie gehen.«
Die blauen Schafe verschwanden nach und nach hinter einem Vorsprung des Berges, und Christopher schüttelte ungläubig den Kopf.
»Wir haben uns verirrt«, sagte er. »Gründlich verirrt.«
Es war, als hätte es ihren Aufstieg nie gegeben: den Pfad nicht, die Steilwand mit den Haken nicht und auch nicht das Kloster.
Schließlich kletterten, schlitterten und wanderten sie den Berg querfeldein hinunter: Jumar stapfte voran durch den Schnee, und er behauptete noch Tage später, die blauen Schafe hätten einen Bronzestich gehabt und den Pfad mitgenommen.
Schließlich taten Niya und Christopher so, als glaubten sie ihm, denn man möchte einen frischgebackenen sichtbaren Thronfolger nicht gleich am ersten Tag in seiner Ehre kränken. Zumindest wenn er ein Freund ist.
Und so entstand an jenem ersten Tag eine der seltsamsten Schöpfungen der Erde, die nur in großen Höhen oder beim Angeln auftreten: ein Ein-Mann-Gerücht.
»Wohin wollen wir eigentlich?«, fragte Christopher einige Kilometer weiter. »Ich meine: Was tun wir, wenn wir aus der Kälte und dem Schnee heraus sind? Was dann?«
»Wir gehen nach Kathmandu«, antwortete Jumar, als wäre das das Selbstverständlichste der Welt. Und Niya nickte. »War das nicht klar?«, fragte sie.
»Nein«, sagte Christopher verwirrt. »Keineswegs. Ich war einmal unterwegs zu meinem Bruder, um ihn zu befreien und nach Hause zu holen. Aber jetzt weiß ich manchmal überhaupt nicht mehr, wohin ich unterwegs bin. Die Spur meines Bruders jedenfalls haben wir verloren. Nicht wahr?«
Er hoffte, dass jemand ihm widersprach. Doch es widersprach niemand.
»Wenn der große T bereit ist, zieht er nach Kathmandu«, sagte Jumar stattdessen. »Kartan wird ihn dort erwarten. Und dann kommt die Stelle mit Schutt und Asche ... und so weiter. Bis dahin sollten wir dort sein, um das Schlimmste zu verhindern.«
»Was hast du vor?«, fragte Christopher.
»Das«, sagte Jumar bedächtig, »werde ich wissen, wenn wir dort sind.«
Weiter oben in den Bergen jedoch, weit weg von allem – vielleicht unerreichbar weit –, saß ein alter Mönch in einem Raum mit bunt bemalten Wänden. Er hatte die Augen geschlossen, und man hätte sagen können, er meditierte: Er hatte seine Seele schwerelos auf die Reise geschickt und war frei von Gedanken, in jenem Schwebezustand des Geistes, ungebunden und gänzlich jenseits der Fesseln irdischer Geschehnisse und Gefühle.
Aber vielleicht stimmte es nicht.
Vielleicht dachte er nach.
Vielleicht war auch er verstrickt in Gedanken und Gefühle ... und wo liegt die Grenze zwischen Irdischem und Unirdischem?
Vielleicht sah seine schwebende Seele einen Jungen in der Höhle eines Drachen zittern, vielleicht begegnete sie später drei Wanderern auf dem Weg hinunter.
Vielleicht neigte sich seine Seele einem Gefühl zu, das er lange vergessen hatte – einem Gefühl, das der Farbe Blau glich. Vielleicht erwog jene Seele zu vergeben.
Noch eine letzte Chance zu gewähren.
Vielleicht.
Es war Nachmittag, als sie die Geier sahen.
Ihre riesigen Schwingen kreisten in beunruhigender Tiefe vor dem Blau des Himmels, und Christopher sah ihre Schnäbel blitzen. Einer der Vögel flog einen Bogen und strich über sie hinweg, und die Spitze seines Flügels berührte Christopher beinahe.
Er schauderte.
»Irgendetwas muss dort vorne liegen«, sagte Niya. »Ein totes Tier vermutlich.«
Und dann sahen sie den dunklen Fleck auf dem weißen Hang, um den die Geier sich sammelten. Aber es war kein totes Tier. Es war ein Mensch.
Niya feuerte einen Schuss ins Leere ab, und die Tiere flogen erschrocken auf, doch sie drehten nicht ab, sie blieben in der Luft hängen und warteten, dass sie ihr Mahl fortsetzen konnten, warteten in bedrohlichen, braungrauen Schleifen.
Der Tote lag nicht auf dem Schnee, er lag auf einem notdürftig zusammengebundenen Gestell aus Ästen. Bahnen von grünem Zeltstoff hielten sie zusammen, und an einer Ecke des Gestells flatterte ein Stück roter Stoff im Wind wie eine Fahne. Christopher wollte nicht näher gehen, aber er folgte Niya und Jumar, und plötzlich merkte er, dass er genau neben dem Gestell stand.
Die Geier mussten bereits vor einer Weile mit ihrer gründlichen Arbeit begonnen haben. Stücke des Toten fehlten.
Christopher wandte sich ab. Er kämpfte die Übelkeit gewaltsam nieder und trat einige Schritte zurück. Niyas Stimme drang zu ihm wie durch Watte.
»Die rote Fahne und die Zeltbahnen verraten genug. Das ist einer von ihnen. Einer von den Maos. Sie waren hier. Und vielleicht sind sie noch immer in der Nähe.«
Über ihnen erklangen die Schreie der Geier, schrill und ungeduldig, und so ließen sie ihnen den Toten und wanderten weiter durch die weiße Höhe. Aber jetzt sahen sie sich um, jetzt wurden sie vorsichtig: Jetzt konnte in jeder Kuhle ein Beobachter lauern, hinter jeder Kuppe des Berges eine Gestalt am Boden kauern. Hinter jedem Felsen verbarg sich die Gefahr. Niya wandte den Kopf hierhin und dorthin, nervös wie ein Tier, das die Ohren aufstellt.
Und dann begann es zu schneien.
Zuerst spürte Christopher nur die Bewegung in der Luft, dann sah er einzelne, winzige Flocken tanzen, unstet noch, zögernd, und schließlich brachen die Schranken am weißen Himmel, unsichtbare, unbekannte Schranken in weiteren Höhen, die kein Mensch je betreten würde, und der Schnee legte sich als Vorhang zwischen sie und die Welt, eine kompakte, kalte Wand in der Luft, die mit jedem Schritt wich, die ihre Schritte durchließ, nicht jedoch ihre Blicke.
»Verflucht«, sagte Niya. »Ich möchte nicht über einen zweiten Toten stolpern. Und viel weniger noch über einen Lebenden. Einen von denen.«
Und Christopher dachte, dass »denen" früher »uns" gewesen war, und wie seltsam doch das Leben sich benahm – eine dichte, weiße Wand aus Seltsamkeit, Unverstandenheit und Unver-ständlichkeit umgab jeden ihrer Schritte; eine Wand, die zu weichen schien und doch den Blick niemals durchließ. Jedes Vorwärts war nichts als ein Tappen im Dunklen.
Und ab und zu stolperte man durchaus über einen Toten.
Er merkte, wie seine Gedanken sich in feuchtschwere Symbolik verrannten, und riss sich zusammen. Auch das – das war der Schnee. Er hatte hier so eine Art Absolutheit, die die Gedanken in den Köpfen einfing ... er schluckte selbst die Geräusche und ließ einen die Welt vergessen.
»Wir dürfen uns nicht verlieren«, sagte Niyas Stimme vor ihm aus den Schneeschleiern. Hinter ihm wanderte Jumars Umriss durch den Schnee. »Gib mir deine verdammte Hand«, sagte Niya. »Und nimm Jumar an die andere.«
Christopher gehorchte wortlos. Und so wanderten sie wie Kinder durch das weiße Nichts, jenes flockige Unterwasser, jene gesichtslosen Untiefen. Drei Kinder, verloren in einer Abwesenheit von Farben und Geräusch. Niyas Hand in Christophers war schmal und steckte in einem Wollhandschuh. Er sah durch die Schneeschleier die abgeschnittenen Enden der Handschuhfinger und ihre eigenen rotkalten, nackten Fingerspitzen: Schusshand-Fingerspitzen. Er spürte ihre Kälte und dachte zurück an die Nacht vor der geschmolzenen Stadt, in der jene Kälte sich in Wärme verwandelt hatte, plötzlich und lodernd.
Oder hatte er diese Wärme nur geträumt? Aber was für ein schöner Traum es gewesen war ... er konnte die Berührung ihrer Finger, handschuhlos, noch spüren ...
... und lag bäuchlings im Schnee.
Seine ausgestreckte Hand umklammerte noch immer die von Niya, und ihre Finger krallten sich schmerzhaft in seinen fest. Jumar stolperte, ließ seine Hand los und fiel halb auf ihn, und kalter Schnee presste sich an seine Wangen.
Er sah auf, verstört, begriff nicht –
Niya war fort. Da war ihre Hand in der seinen, aber er konnte sie nicht mehr sehen. Ihr ganzes Gewicht zog an seiner Hand. Und er hörte ihr Keuchen, gedämpft vom Schnee, ihre Stimme, die etwas schrie, das er nicht verstand ...
Die Felswand. Es war die Felswand. Die gleiche Felswand, durch die sie schon einmal geklettert waren. Irgendwann hatten sie wieder auf sie stoßen müssen.
Niya war über ihre Kante getreten, ins Nichts.
Und da hing sie – hing an Christophers Hand, und der Schnee fiel, und fiel, und fiel.
Christopher schrie.
Gleichzeitig zog er. Er zog mit aller Kraft, robbte rückwärts, fühlte, wie er auf den Abgrund zurutschte, wie Jumar ihn festhielt, wie er Zentimeter um Zentimeter gewann ...
Sein Schrei verebbte, und er kämpfte in vollkommener Stille weiter gegen die Schwerkraft an. Alles, was er hörte, war sein eigenes Keuchen – ein Keuchen in seinem Kopf, das ihn ganz ausfüllte. Wenn seine Hände nur nicht so kalt gewesen wären. Wenn sie nur nicht losließ. Wenn – er bekam eine zweite Hand zu fassen, fand endlich mit den Knien Halt im verschneiten Untergrund – und dann, mit einer letzten Anstrengung, hatte er es geschafft.
Im nächsten Moment lag sie neben ihm im Schnee, schwer atmend. Er zählte vier schwere Atemzüge.
Dann fluchte sie.
Und dann setzte sie sich auf und strich sich den Schnee aus dem Gesicht. Jetzt fielen die Flocken weniger dicht. Womöglich hatte auch der Schnee sich erschreckt.
»Das war –«, sagte Niya und fand kein passendes Adjektiv.
»Tief?«, schlug Jumar vor.
Christopher lachte. Er spürte, wie die Erleichterung warm und weich durch seine Adern floss. Als sie aufstanden, gab der Schnee den Blick auf den Abgrund frei – einen verschleierten Blick noch, alles andere als klar, aber klar genug, um die Kante zu sehen. Zwei Meter Sicht, drei vielleicht. Dahinter war noch immer alles weiß, verhangen, ungewiss.
Der Abgrund jedoch war gewiss genug.
Sie wandten sich nach rechts und wanderten schweigend daran entlang.
Und wenn, sprach eine kleine Stimme in Christophers Kopf –wenn wir uns nicht an den Händen gehalten hätten? Wenn –
Er befahl der Stimme zu schweigen.
»Da«, sagte Niya. »Da sind sie.«
»Wer?«, fragte Christopher. Die, die den Toten aufgebahrt haben«, antwortete sie leise.
»Welchen Toten?«, fragte Christopher verständnislos. Aber dann kehrte das Bild zurück. Geierflattern. Ein lebloser Körper. Niya hatte recht gehabt. Sie waren hier.
Das Zelt: einen Steinwurf weit entfernt, weiß wie der Schnee; nur seine Kanten verrieten es. Kein großes Zelt. Es stand unerklärlich nah am Abgrund, wenige Meter trennten es von der Tiefe. Wieso? Wozu?
Die letzten Flocken schwebten lautlos nieder. Und da war noch etwas zu ihrer Linken, dort, wo der Abgrund lag, etwas ragte dort auf – verborgen noch hinter faserigen Nebelschleiern, die die Schneewolken zurückgelassen hatten wie eine Spur – aber zunächst beachteten sie es nicht. Sie standen reglos und starrten das Zelt an.
»Es ist so still«, wisperte Jumar. »Ich habe das Gefühl, es ist überhaupt niemand in dem Zelt.«
Niya nickte und legte den Finger auf die Lippen.
Und ehe jemand weitersprechen konnte, erschienen zwei Gestalten aus dem Nichts.
Oder: Sie erschienen natürlich nicht aus dem Nichts, sie hatten bis jetzt in einer Vertiefung gesessen, auf halbem Weg zwischen ihrem Zelt und den drei Wanderern, und nun standen sie auf, beide gleichzeitig, eine große und eine kleine.
Danach gingen die Dinge zu schnell.
Christopher spürte, wie jemand ihn auf den Boden warf, da war kalter Schnee in seinem Gesicht, schon wieder – eine Explosion in der Luft, direkt neben ihm. Eine zweite, weiter fort. Etwas Warmes lief an seinem Arm hinab. Er wandte den Kopf. Der Schnee neben ihm war rot, und das Rot breitete sich darin aus. Am Rand seines Blickfeldes – Niyas Gestalt in einem seltsamen Winkel von schräg unten, sie kniete und hatte das Gewehr angelegt, um noch einmal zu schießen. Christopher kam hoch und sah in die Richtung, in die sie zielte, hörte den nächsten Schuss, sah die größere der beiden Gestalten stumm fallen wie die automatisch vorbeiziehenden Metallfiguren an Schießständen, die bei jedem Treffer kommentarlos und schicksalsergeben nach hinten umklappen. Und wie schon einmal packte ihn mit Gewalt die Erkenntnis, dass dies keine Metallfigur gewesen war. Er erinnerte sich an die Nacht, in der Niya auf Kartans Leute gefeuert hatte, an die dunklen Flecken in jener Nacht –
Dies war nichts, an das er sich gewöhnen konnte. Er spürte den gleichen eisigen Triumph wie damals und die gleiche brennende Scham.
Aber da war noch eine Gestalt, noch eine Schießstandfigur, eine kleinere. Ein Junge. Er konnte kaum älter sein als elf oder zwölf, und das Gewehr, das er trug, wirkte grotesk. Als sei auch dem Jungen das aufgefallen, schleuderte er die Waffe von sich, drehte sich um und rannte. Rannte auf das Zelt zu. Der Lauf von Niyas Flinte verfolgte ihn ruhig und sicher. Er konnte so schnell laufen, wie er wollte, ihre Kugel würde ihn finden.
Christopher sah ihren Finger am Abzug. Er streckte die rechte Hand aus, über die es warm und rot von seinem Arm hinablief, und ein gemeiner Schmerz durchfuhr ihn. Aber seine Hand erreichte ihr Ziel. Sie schlug gegen den Lauf des Gewehres und lenkte die Kugel ab. Niya fluchte wieder. Die Kugel landete irgendwo im Schnee; harmlos, vergeudet.
Sie sah Christopher erst an, nachdem sie nachgeladen hatte.
Ihre Augen blitzten ärgerlich, ohne Verständnis.
»Nicht!«, bat Christopher. »Tu es nicht. Schieß nicht noch einmal.«
»Weshalb?« Sie spuckte ihm das Wort ins Gesicht, und er streckte abwehrend die Hand aus, deren Haut ein Muster aus roten Linien zierte.
»Er ist noch so jung«, sagte Christopher. »Und er läuft. Sieh nur. Er läuft um sein Leben.«
»Er wird uns verraten.«
»Wenn jemand in diesem Zelt ist, hat er die Schüsse längst gehört«, sagte Christopher.
Sie sahen gleichzeitig zu dem Zelt hinüber. Doch dort war niemand zu sehen.
»Das waren die beiden Einzigen«, sagte Christopher.
Der Junge zögerte vor dem Zelteingang – eine Sekunde. Er schien zu erwägen, in das Zelt zu tauchen. Aber warum? Wie konnte ein Zelt ihm jetzt Schutz bieten? Vor was? Etwas war seltsam ...
Aber dann änderte er seine Richtung doch, ließ das Zelt hinter sich liegen, floh vom Abgrund fort. Seine dunkle Gestalt verschwand als Punkt im Weiß des Schnees.
»Es gibt nichts, wo er hinlaufen könnte«, meinte Niya. »Er wird hier draußen elend erfrieren. Meine Kugel wäre besser gewesen für ihn.«
Jumar schnalzte mit der Zunge. »Es nützt nichts, mit ihm zu streiten, Niya. Ich habe es dir bereits einmal erklärt: Er ist anders. Lass uns nach dem Mann dort im Schnee sehen.«
»Warte«, sagte Niya. »Christopher? Zeig mir die Wunde.«
Christopher knurrte, als sie seinen Arm untersuchte. Der Schmerz, der spürte, das jetzt Zeit für ihn da war, wuchs und dehnte sich rot und heiß. Der Stoff der lacke war am Oberarm zerfetzt, und darunter quoll es noch immer rot hervor.
»Streifschuss«, stellte Niya fest, als hätte Christopher geniest und sie sagte Gesundheit. »Aber wir müssen irgendetwas darumwickeln. Die Blutung stoppen ...«
Sie trennte mit dem Messer einen Streifen von ihrem Hemd ab, und er zuckte zurück, als sie ihn um seinen Oberarm wickelte.
»Halt still, verdammt«, zischte Niya. »Warum muss eigentlich immer alles dir passieren? Du würdest nicht einmal auf eine Fliege schießen – das heißt, wenn du auf sie schießen würdest, würdest du sie nicht treffen, aber wenn es einen Streifschuss abzufangen gibt, bist du es, der ihn abbekommt. Wenn es irgendwo ein Feuer gibt, bist du es, der den verfluchten Rauch einatmet, und wenn es kalt genug ist, um krank zu werden, bist du es, der sich die Seele aus dem Leib hustet... andauernd muss man dich vor irgendetwas oder irgendjemandem retten ...«
Sie befestigte den Stoffstreifen mit einem ruckartigen Knoten, und Christopher schnappte nach Luft vor Schmerz, und dann wurde der Schmerz zu Wut.
»Dann hör auf damit«, zischte er zurück. »Hör auf damit, mich zu retten. Lass mich liegen und verbluten. Ich hätte wahrhaftig nichts dagegen. Eines Tages wird es mit dir durchgehen, Niya, und dann wirst du in deinem Eifer auch mich erschießen. Einfach so. Du siehst es gern, wie sie umfallen, nicht wahr? Du liebst das Blut und das Gefühl der Macht. Du bist grausam und kalt. Du hast kein Herz.«
»Nein«, antwortete sie, »ich habe kein Herz, denn Kartan hat mein Herz mit seinen Klauen herausgerissen, als er meine Familie tötete. Dort, wo du herkommst, kann man sich vielleicht ein Herz leisten, aber hier nicht.«
Jumar räusperte sich. »Ich, äh, unterbreche euch ungern«, sagte er. »Aber könnt ihr euch später weiterstreiten? Ich höre etwas, etwas Seltsames –«
Sie verstummten, um zu lauschen. Jumar hatte recht.
Da war etwas in der Luft, erst leise nur, dann wurde es lauter –
»Jemand singt«, stellte Niya fest. »Aber wo?«
»Es ist, als käme es aus dem Nebel, jenseits des Abgrundes«, meinte Jumar, »aus der Luft. Mitten aus der Luft. Und es ist kein Lied, das ich kenne.«
Christopher legte den Kopf schief und versuchte, die Konzentration von der Wunde in seinem Arm gewaltsam in seine Ohren zu beordern.
»Ich kenne es«, sagte er schließlich langsam. »Es ist ein deutsches Kinderlied ...«
Und dann hörte er es ganz deutlich – die Worte quollen unter dem Nebel hervor und schienen ihn zur Seite zu drängen, Worte, alt und vertraut. Und vielleicht war es nicht nur ein Kinderlied. Der, der da sang, hatte wieder von vorne begonnen – vielleicht sang er das Lied schon zum hundertsten mal, wie eine Beschwörungsformel:
... die goldnen Sterne prangen
am Himmel hell und klar...
Christopher schloss die Augen, und eine Kaskade von Erinnerungen stürzte auf ihn ein wie ein Wasserfall: Arne, der ihren Hund hielt, den uralten schwarzen Hund, der in seinen Armen starb, und er sang, sang das gleiche Lied: So legt euch denn ihr Brüder in Gottes Namen nieder, kalt ist der Abendhauch. – Arne, der mit seiner Gitarre am Feuer saß, an einem Sommerabend, um sich herum Kinder, im Hintergrund der klobige Schatten einer Kirche: Irgendeine christliche Veranstaltung, deren Grund Christopher lange vergessen hatte. Da war auch ein Mädchen bei Arne, eines der Mädchen aus der Schule, und er spielte sein Lied für die Kinder, doch sie glaubte, es wäre für sie: Verschon uns Gott mit Strafen, und lass uns ruhig schlafen ... Arne, der Christophers Hand hielt, Jahre früher: Christopher war krank und konnte mal wieder nicht einschlafen, und Arne sang für ihn: ... und unsren kranken Bruder auch ... und er hatte gelacht. Der Mond ist aufgegangen ...
Wieder und wieder. Es war schon damals eine Beschwörungsformel gewesen. Christopher hatte niemals herausgefunden, warum. Vielleicht war es das erste Lied gewesen, dass Arne je gesungen hatte. Vielleicht würde es das letzte sein.
Er öffnete die Augen.
Da waren sie wieder, die Worte, und es war Arnes Stimme, die sie sang.
Und jetzt hatten die Worte den Nebel vertrieben. Oder vielleicht hatte der Nebel selbst diesen Moment gewählt, um sich aufzulösen. Und nicht nur sich aufzulösen: Die weißen Schlieren, die vor ihnen durch die Luft geschwommen waren, ließen sich wie von unsichtbaren Händen nach beiden Seiten fortziehen: ein Vorhang.
Fort war der Schnee, fort die Wolken. Die Sonne schien wie ein überdimensionaler Scheinwerfer, der einzig wahre Scheinwerfer auf der einzig wahren Bühne der Welt.
Auf der Bühne erwartete Christopher ein modernes Experi-mentalstück: Nichts im Gegenlicht. Doch er wurde enttäuscht. Da war nicht nichts.
Da war eine Felswand, ungefähr zehn Meter vom Rand des Abgrundes entfernt, und der Abrund war kein Abgrund, sondern eine Schlucht. Die jenseitige Wand überragte die diesseitige um ein gutes Stück, eine glatte Wand, die niemand hinauf- oder hinunterklettern konnte. Genau gegenüber des Zeltes jedoch klaffte dort im Felsen der Rand eines Lochs, ein dunkler Fleck: der Eingang einer Höhle. Vielleicht war sie schon immer dort gewesen – eine Höhle wie die Höhle des Drachen, die Jumar oben auf dem Machapuchare betreten hatte. Doch bei dieser Höhle hatte jemand nachgeholfen; ihr Eingang war zu regelmäßig, und die Geröllreste einer Sprengung lagen auf dem Vorsprung vor der Höhle wie ein Rand aus Wundschorf.
Die Schlucht war vielleicht vier Meter breit – zu breit, um sie mit einem Sprung zu überqueren. Aber nicht zu breit, um ein langes Brett darüber zu legen ...
Da war ein Brett, ein raues, graues, verwittertes Brett. Allerdings lag es nicht über der Schlucht. Es lag im Schnee, auf dieser Seite des Abgrundes, neben dem Zelt. Sie fanden den Körper des toten Kämpfers wenige Handbreit vom Abgrund entfernt, und sein Kopf war auf das Brett gesunken. Niya rollte ihn mit der Stiefelspitze zur Seite. Braunes Blut auf altem Holz.
»Eine Brücke«, stellte sie fest. »Eine Brücke nach drüben, zu ihren Gefangenen.«
Eine Brücke, dachte Christopher, zu dem Lied in der Luft. Arnes Lied.
Und so fanden sie Arne, an jenem Nachmittag, mitten im Nichts, das kein Nichts war, in der Felswand.
Das Zelt war leer. Sie entdeckten Vorräte dort, mehrere dicke Taue, Kerosin, Trockenfleisch, Reis und Konservendosen, und Christopher bestand darauf, dass sie die Hälfte der Dosen daließen, falls der Junge zurückkäme.
Niya widersprach ihm diesmal nicht. Das Lied war jetzt verstummt.
Als Christopher wieder aus dem Zelt trat, fürchtete er einen Moment lang, er hätte sich alles eingebildet – ein Trugbild der Erinnerung, eine Wunschvorstellung.
Waren da wirklich Worte aus der Felswand gedrungen?
Eine Brücke zu ihren Gefangenen ... waren sie wirklich dort?
»Aber natürlich!«, sagte Jumar. »Dort sind sie. Dort und nirgendwo anders. Das ist der perfekte Ort, wenn man nicht zu viele Männer für die Bewachung seiner Geiseln abstellen möchte.«
Christopher sah ihn an und schluckte. Er wollte rufen, doch sein Mund war mit einem Mal unerträglich trocken, und aus seiner Kehle kam kein Laut. Nur der Schmerz pochte in seinem Arm, und auf einmal fühlte er sich so müde – aber noch war keine Zeit für Müdigkeit.
Denn dies war der Grund, aus dem er gekommen war. Das Ziel seines langen Weges.
Hatte er daran geglaubt? Hatte er geglaubt, dass er Arne wirklich finden würde? Und später, als er ihn in der geschmolzenen Stadt gefunden hatte – hatte er geglaubt, dass es ihm gelingen würde, ihn zu befreien?
Es war Jumar, der schließlich seinen Namen rief. Jumar, der sich nach dem Brett bückte und es über die tödliche Tiefe schob, bis das eine Ende sicher auf dem Vorsprung vor der Höhle lag.
»Arne!«, brüllte er über die Schlucht hinweg, »Arne? Wir sind hier! Arne!«
Und dann erschien eine Gestalt im schwarzen Rachen der Höhle – ein bärtiges Gesicht – und mitten in dem Gesicht Arnes breites Lächeln.
»Na«, sagte er, »das sieht ja ganz danach aus, als gäbe es seit Langem wieder einen Weg nach drüben.«
Und da wich die Starre aus Christophers Körper, die Trockenheit aus seinem Hals – der pochende Schmerz in seinem Arm wurde bescheiden und trat in den Hintergrund. Und in seinem Kopf begann es zu singen, laut und ausgelassen. Und er dachte, dass dies der schönste Tag ihrer Reise war.
Er dachte nicht über die Tiefe nach. Er nickte Jumar zu und auch Niya, obwohl da immer noch eine Spannung zwischen ihnen in der Luft war, eine Spannung voll vom Geruch frischen Blutes. Dann setzte er einen Fuß auf das Brett, zog den zweiten nach – und war mit fünf Schritten auf der anderen Seite, auf dem Vorsprung vor der Höhle.
»He«, sagte Arne.
»He«, sagte Christopher.
Arne war noch immer größer als er, natürlich, und noch immer breiter und kräftiger, aber gleichzeitig hatte sich alles geändert.
»Würde es dich sehr stören, wenn ich dich in den Arm nehme?«, fragte Arne. »Ich weiß, dass man das nicht mag, wenn man vierzehn ist.«
»Halt den Mund«, sagte Christopher, und dann umarmten sie sich, lange, lange.
Und Christohper merkte, das ihm etwas Nasses über das Gesicht lief. Er versuchte es unauffällig wegzuwischen, denn wenn man vierzehn ist, heult man nicht. Aber da war auch etwas Nasses auf Arnes Gesicht. Arne machte sich überhaupt keine Mühe, seine Tränen zu verbergen.
»Weißt du, was für Sorgen ich mir gemacht habe?«, flüsterte er. »Mein kleiner Bruder bei den Maos! Verdammt, und ich wollte es dir nicht sagen, damals, als wir uns in der geschmolzenen Stadt gesehen haben. Mein kleiner Bruder, der es sich in den Kopf gesetzt hat, mich zu befreien!«
»Hm«, sagte Christopher. »Ich dachte immer, ich war es, der sich Sorgen um dich gemacht hat. Du weißt ja, das haben sie alle. Mama und Papa und die gesamte Schule ...«
»Ja«, flüsterte Arne, »aber du bist hier.«
Seine Stimme klang etwas heiser, und er räusperte sich ein wenig zu ausführlich.
»Wenn dir bei den Maos etwas passiert wäre«, sagte er dann streng, »das hätte ich dir nie verziehen.«
Christopher grinste.
»Oh, bis auf eine Lungenentzündung und einen Streifschuss ist mir eigentlich nichts weiter passiert, seit wir uns zuletzt gesehen haben«, meinte er. »Da war natürlich vorher noch die Sache mit der Brücke, von der Kartan mich hinunterstürzen wollte. Und –«
Arne hielt ihm den Mund zu.
»Das will ich alles gar nicht wissen«, sagte er und umarmte Christopher noch fester als zuvor. »Zumindest nicht jetzt.«
»Und hier also findet man dich nach all dieser Zeit«, meinte Christopher schließlich. »In einer Höhle im Nichts.«
»Ja, hier findet man mich«, sagte Arne. »Wer hätte das gedacht?«
Dann wurde er ernst.
»Ich bin nicht allein«, sagte er. »Die beiden anderen sind auch hier. Die US-Jungs. Komm.«
In der Mitte der Höhle gab es eine Feuerstelle, und an einer Wand stapelte sich Holz und die gleiche Sorte rostiger Konservenbüchsen, die sie auch im Zelt gefunden hatten.
»Es lag ihnen wohl nichts daran, dass wir verhungern oder erfrieren«, sagte Arne. »Sie haben gesagt, wir würden ihnen noch sehr nützlich sein. Und sie waren so besorgt wie ich – wegen der beiden. Aber sie haben auch gesagt, sie können nichts machen. Einer von ihnen hustet seit zwei Tagen Blut. Und auch der andere hat Fieber.«
Es dauerte, bis Christophers Augen sich an die Dunkelheit gewöhnten und er die beiden Körper auf dem Boden entdeckte. »Sie – sie leben doch?«, flüsterte er.
Arne nickte, und sie kauerten sich neben die beiden Jungen auf den Boden. Ihr Atem ging regelmäßig und ruhig. Sie schliefen, doch gleich darauf wachte der eine auf, und Christopher sah für einen Moment das Erschrecken in seinen Augen. Es war das Erschrecken eines Kindes. Die beiden mussten ungefähr so alt sein wie Arne, aber Angst und Krankheit hatten sie auf paradoxe Weise jünger gemacht, hilflos, ausgeliefert.
»What's happenin'?« flüsterte der Junge. »Who is that? One of them?«
Nein. Keiner von denen. Keiner von den Maos. Nicht mehr.
Christopher kniete sich neben den Kranken und erklärte – versuchte, zu erklären –
»I don't understand«, sagte der Junge, Verwirrung in den Schweißperlen auf seiner Stirn.
»Ja, hm«, sagte Christopher, »das hatte ich mir gedacht. Womöglich kann man es nicht verstehen.«
»Und wir können sie nicht mitnehmen«, sagte Arne.
Christopher sah zu ihm auf. »Nein?«
Aber er brauchte keine Erklärungen. Arne hatte recht. Er bückte sich ebenfalls und sprach flüsternd auf den Kranken ein. Flüsternd und lächelnd. Sein Lächeln versprach, dass er wiederkommen würde, dass sie keine Angst haben müssten, dass es noch genug Vorräte gab, dass das Feuerholz reichen würde, dass bald alles gut wäre, bald ...
Und schließlich sagte das Lächeln zu Christopher, zögernd: »Vielleicht sollte ich bleiben. Vielleicht ist es besser, ich kümmere mich um sie.«
»Nein«, sagte Christopher. »Arne. Komm mit. Du kannst hier nichts für sie tun. Aber uns kannst du helfen.«
»Wobei?«, fragte Arne. »Was habt ihr vor?« Sein Lächeln war nicht mehr da.
»Ich weiß es nicht«, sagte Christopher. »Aber Jumar brütet irgendetwas aus. Es muss sich alles ändern. Die Stadt, Kathman-du, wartet auf uns. Jumar sagt ... er sagt, es wird Chaos geben und Durcheinander und Tod... aber wenn all das vorbei ist, werden wir zurückkommen, um die beiden hier herauszuholen.«
»Glaubst du das?«, fragte Arne und sah ihn an. Christopher blickte zu Boden. »Komm«, sagte er.
Aber ein junger Maoist, auf dessen Schulter ein Gewehr grotesk gewirkt hatte, hatte erwogen, in einem Zelt Schutz zu suchen. Im Schatten eines Zeltes. Und er hatte es nicht grundlos erwogen.
Nachdem der nepalesische Thronfolger zu seiner Sammlung aus neuen Dingen, die er seit einigen Wochen stetig vermehrte, Schneeschlieren und unerwartete Abgründe und den Wunsch, Streit zu schlichten hinzugefügt hatte, – als er vor einem gewissen tarnweißen, menschenleeren Zelt stand –, da fiel sein Blick auf die Felswand gegenüber, und aus einem unerfindlichen Grund wanderte jener Blick an ihr empor.
Und oben, wo sie aufhörte, blieb der Blick hängen.
Und der nepalesische Thronfolger trat einen Schritt zurück und griff nach dem Arm seiner Begleiterin.
»Niya«, wisperte Jumar. »Niya, sieh nur! Dort oben!«
»Psst«, machte Niya. »Steh ganz still. Nicht bewegen. Vielleicht haben sie uns noch nicht gesehen.«
Und jeder, der Zeuge dieses Gespräches geworden wäre, hätte geglaubt, dort oben eine Gruppe von Kämpfern zu finden. Aber das war es nicht, was die beiden Wanderer erstarren ließ.
Am Rand der Felswand, über der Höhle, saßen zwei riesige, blausilbern schimmernde Drachen. Sie saßen ganz ruhig, die Flügel auf dem Rücken gefaltet, die Pranken mit den gigantischen Krallen vor sich auf der Kante des Felsens – wie große, träge Katzen auf einem überdimensionalen Fensterbrett. Nur ihre Köpfe pendelten auf den langen, geschmeidigen Hälsen hin und her, beobachtend, abwartend, ohne Eile.
»Wir müssen Christopher warnen«, flüsterte Jumar.
Niya nickte grimmig.
»Vielleicht sollten wir zusehen, dass wir zu ihnen hinüber in diese Höhle kommen«, wisperte sie.
Aber in jenem Augenblick trat Christopher aus dem Eingang eben jener Höhle und betrat das Brett, und hinter ihm folgte Arne. Und in jenem Augenblick pendelten die Köpfe der silberblauen Drachen zum letzten Mal von links nach rechts und wieder zurück. In jenem Augenblick entschieden sie sich, zufällig vielleicht, grundlos, ihren Posten zu verlassen. In jenem Augenblick breiteten sie ihre schillernden Schwingen aus und erhoben sich mit der ganzen Eleganz des Verderbens in die Luft, und ihre großen, dunklen Schatten schwebten unter ihnen über die Schlucht. In jenem Augenblick –
Warum ging Christopher voraus? Warum, wenn sonst immer Arne vorausgegangen war?
Warum warteten sie nicht noch einen Moment?
Und warum sahen sie Jumars verzweifelte Zeichen nicht?
Warum verstand Christopher den Schrei auf Niyas Gesicht nicht?
Er spürte den Wind – den Wind von Flügeln in der kalten Luft, die über sie strichen. Flügel, so nah, dass sie sie beinahe streiften. Aber nur beinahe.
Was sie streifte, war der Schatten jener Flügel. Ein tödlicher Schatten.
Christopher hob den Kopf – er begann, den Kopf zu heben. Das blausilberne Schillern verfing sich in seinem Augenwinkel, doch ehe er den Drachen wirklich sah, sah er den Schatten über Arne gleiten. Die Sonne trat durch die Schneeschleier hervor, und er sah das bronzene Glitzern in ihrem Licht. Und dann verlor das, was hinter ihm auf der hölzernen, geländerlosen Brücke stand, das Gleichgewicht und fiel.
Christopher taumelte, griff nach etwas – nach was griff er? Nach Arne? Oder nach etwas, das Arne gewesen war? Er fand sich auf dem Bauch liegend wieder: Hatte er genau das nicht eben schon einmal erlebt? Aber jetzt war es nicht Schnee, in dem er lag, jetzt war es ein hartes Brett, und die Finger, die sich um seine schlossen, waren aus Bronze.
Er sah hinab.
Während über ihm der Drache in der Ferne verschwand, spielte unter ihm das grausame Sonnenlicht auf kaltem Metall.
Das Entsetzen packte Christopher wie eine Faust. Er wollte loslassen, wollte das Ding, das er da festhielt, nicht mehr festhalten: Nein, das dort, das war nicht Arne. Das war etwas Fremdes, etwas, das er nicht kannte, etwas Hohles, Gefühlloses. Etwas, das ihn in die Tiefe zog – und er konnte nicht einmal ihren Grund sehen, so tief war die Tiefe. Was hohle Bronze für ein Geräusch machte, wenn sie unten auf harten Felsen schlug? Würde sie zerbersten? War sie wirklich hohl?
Aber da war diese Hand, die genau aussah wie Arnes Hand, diese Hand, die er im Fallen gepackt hatte. Er brachte es nicht übers Herz, sie loszulassen.
Und er zog die Figur aus hohler, kalter Bronze an dieser Hand hoch, zog sie hinauf auf das Brett, kämpfte mit seinem Gleichgewicht und gewann den Kampf. Schließlich robbte er rückwärts, vorsichtig, millimeterweise, und er erreichte das Ende des Brettes, erreichte festen Boden und eisigen Schnee: in den Armen eine Bronzestatue.
Und dann schloss er die Augen und lag ganz still im Schnee und konnte nicht glauben, was geschehen war.