Kapitel 9
~ Cassandra & Garrett ~
Als sie Dulanis erreichten, erwartete Garrett, Cassandras Bruder, sie bereits. Die Gräfin stieg aus der Droschke und lief zu ihm.
»Ich grüße dich«, sagte sie und umarmte ihn anschließend.
Garrett erwiderte sie und meinte: »Wie auch ich dich begrüße, Cassandra.«
Sie lösten sich voneinander. James und Caleb kamen zu ihnen und begrüßten ebenfalls den Herzogssohn. Gemeinsam betraten sie dann die Sommerresidenz.
»Ich habe dir dein Gemach vorbereiten lassen. Für die Bediensteten steht der Ostflügel bereit und dein Gatte, wie auch euer Freund werden ein Schlafgemach bekommen«, verkündete Garret. »Und nun lass uns Tee trinken«, fuhr er fort und legte die Hand seiner Schwester auf seinen Unterarm.
Die Geschwister gingen in den Salon.
James und Caleb blieben einen Moment in der Eingangshalle stehen.
»Sollen wir ihnen folgen?«, fragte Caleb.
»Ich denke schon«, antwortete James und sagte: »Ich werde Aydan holen und dann gehen wir ihnen einfach nach.«
Garrett wusste nichts von dem Fluch der beiden Herren. Cassandra hatte es ihm verschwiegen, denn sie wollte nicht, dass er es mit der Angst zu tun bekam. Sie nahmen, einander gegenüber, Platz.
»Es gibt einen Grund, warum ich dich eingeladen habe, Cassandra«, begann er.
Sie sah ihn fragend an.
»Dann wirst du ihn mir bestimmt gleich mitteilen«, entgegnete sie.
Der Tee stand bereits auf dem Tischchen und sie schenkte zwei Tassen ein.
»Ein geheimnisvoller Bund von Jägern hat sich erhoben. Ich wurde benachrichtigt, dass sie jene verfolgen, die auch du einst gejagt hast. Allerdings ...« Garrett seufzte.
»Allerdings was, Garrett?«, fragte sie.
»Allerdings schlachten sie wahllos Menschen ab, die sie verdächtigen solche Monster zu sein. Sie haben bereits einige Adlige ermordet, deren Anwesen ausgeraubt und dann die sterblichen Überreste verbrannt. Wundersam ist, dass nur das Silber verschwunden. Ich frage mich, warum sie Personen abschlachten. Cassandra glaube mir, ich sah die Leichname und es war furchtbar. Vater weiß nicht, wie er gegen diese Mannen ankommen soll und ich weiß es auch nicht. Die Silberstreifgilde ist unsere letzte Chance. Vielleicht können diese Jäger, deine einstigen Gefährten, uns helfen gegen diese Herren anzukommen. Die Menschen sind verängstigt, ich habe Angst und sogar unsere Eltern fürchten sich«, erzählte er seiner Schwester.
Cassandra sah ihn überfordert an und trank einen Schluck Tee. Sie hatte sofort an den Herrn gedacht, der sie entführte, als sie Aydan noch unter dem Herzen getragen hatte.
James und Caleb standen vor der Tür des Gesellschaftszimmers und schauten einander an. »Die Bruderschaft der weißen Eiche«, murmelte Caleb und James nickte.
Aydan gluckste auf seinem Arm. Sie hatten Garretts Ausführung unfreiwillig mit angehört. James klopfte an die Tür und öffnete sie. Dann betraten sie den Salon. Cassandra sah ihren Gemahl an. Ihr fragender Blick durchbohrte ihn. Er nickte ihr zu, als Zeichen, dass er es vernommen hatte und sie richtete ihr Augenmerk wieder auf ihren Bruder.
»Was erhoffst du dir nun von meinem Besuch, Garrett?«, fragte sie.
»Ich hoffe, dass du nach Belron reitest und die Silberstreifgilde unterrichtest. Womöglich wissen sie noch nichts von diesem Jägersbund und greifen ein«, antwortete er.
Sie seufzte.
»Ich werde das vorher mit meinem Gemahl besprechen«, meinte sie und trank ihren Tee.
»Darf ich fragen, worum es geht?«, wollte James erfahren.
Garrett wiederholte die Geschichte für den Grafen und seinen Freund, während Cassandra sich mit Aydan beschäftigte.
»Und ich hoffe wirklich, dass meine Schwester schon bald aufbrechen kann«, schloss der zukünftige Herzog von Dulanis kleinlaut.
Sie sah ihren Bruder an.
»Sobald es mir möglich ist, Garrett.«
Dann erhob sie sich und ließ ihren Blick über die Herren schweifen.Sie war kaum angekommen und sollte wieder losreiten.
»Ist Calliope im Stall?«, fragte sie.
»Ja das ist sie. Ich habe sie herbringen lassen, als ich erfuhr, dass du meine Einladung annimmst«, antwortete Garrett.
Sie nickte und warf James einen Blick zu.
»Ich denke, dass meine Gemahlin und ich uns zurückziehen werden, denn wir wissen nicht, für, wie lange dieser Abschied ist. Ich sehe ihr an, dass sie am liebsten gleich auf die Reise gehen würde«, verkündete James und erhob sich.
Cassandra seufzte und sah Caleb an.
»Soll ich Euch begleiten Mylady?«, erkundigte er sich.
»Nein danke Caleb. Ich reite alleine. So ist es am Sichersten«, meinte sie.
Sie alle zogen sich für diesen Tag zurück, ließen sogar das Abendessen aus. Im Schlafgemach sah James seine Schöne an.
»Wann willst du dich auf die Reise machen?«, fragte er.
»Morgen werde ich mit euch verbringen, am Sonnabend breche ich auf«, verkündete sie.
»Bitte versprich mir, dass du auf dich aufpasst«, forderte er.
»Natürlich verspreche ich es dir.« Sie seufzte. »Glaubst du, dass es die Bruderschaft ist?«
»Ja meine Schöne. Das glaube ich auch«, entgegnete er.
Sie verbrachten einen ruhigen Abend mit Aydan, nachdem Emilia ihn genährt und zu ihnen gebracht hatte. Die Eltern spielten mit ihrem Sohn, als würde nichts ihre Leben überschatten. Schließlich gingen sie spät nachts zu Bett.
~ Cassandra ~
Sie verbrachten einen wundervollen Tag in der Sommerresidenz und nun musste Cassandra Abschied nehmen. Im Schrank hatte sie alte Kleider gefunden und sich hineingewunden. Die Corsage und die Lederhose betonten ihre neuerlichen weiblichen Rundungen, der Umhang bedeckte diese. Das weiße Hemd, das sie darunter trug sorgte für zusätzliche Wärme an diesem kühlen Sommermorgen. Nun waren sie vor dem Herrenhaus und verabschiedeten sich voneinander. James sah seine Gemahlin wehmütig an. Kaum hatte er sie zurückgewonnen, schon musste sie ihn wieder verlassen. Er umarmte sie und hauchte einen Kuss auf ihre Stirn.
»Bitte gib gut Acht auf dich«, flüsterte er.
»Das werde ich«, erwiderte sie ebenso leise.
»Ich liebe dich meine Schöne.«
»Ich liebe dich auch James.«
Sie küsste Aydans Wange und streichelte durch seine Locken.
»Dich liebe ich auch mein Sohn.« Dann sah sie Caleb an.
»Bitte pass auf die beiden auf. Nicht, dass ihnen, oder dir, auch noch etwas zustößt«, bat sie ihn.
Er kam zu ihr und schloss sie in die Arme.
»Ich werde sie wie meinen Augapfel hüten Cassandra«, versprach er.
Sie tätschelte seine Schulter und wisperte: »Danke mein Freund.«
Anschließend sagte sie ihrem Bruder Lebwohl und saß auf Calliope auf. Sie war eine treue Stute und erfahren. Cassandra ritt seit Kindertagen auf diesem Pferd.
Einen letzten Blick warf sie auf die Männer und lächelte sie an. Schwer bewaffnet trat sie ihre Reise an. Sie brachte das Ross nach kurzer Zeit schon in den Galopp und preschte mit ihm durch die Straßen von Dulanis.
Ihr Ausflug verlief ereignislos. Unangenehm ruhig sogar. Früher hatte sie häufiger Wegelagerer überlisten und abhängen müssen, nun war alles wie ausgestorben.
Einen weiteren Tag später erreichte sie Belron. Die Felsstadt ragte vor ihr auf und trieb Calliope abermals an. Sechs Tage hatte ihre Reise in Anspruch genommen. Gerastet hatte Cassandra immer nur wenige Stunden, damit sie zügig die Silberstreifgilde aufsuchen konnte.
Sechzig Minuten hatte sie gebraucht und ließ ihr Pferd auslaufen. Dann band sie die Stute an und wunderte sich, dass sie keine Menschen sah. »Normalerweise ist hier immer viel Leben«, murmelte sie dem Tier zu.
Anschließend zog sie ihr Schwert und ging vorsichtig auf den Fels zu, der die Gilde beherbergte. Ihre Schritte hallten von den Wänden wider. Die Korridore lagen verlassen dar, bis sie den Raum des Rates betrat.
»Oh mein Gott«, stieß sie aus und wandte ihren Blick ab.
Die Leichname türmten sich, die Mauern waren blutverschmiert und der Boden vor geronnenem Blut nicht mehr erkennbar. Eingeweide säumten den Gang.
Tief atmete sie durch und sah wieder hin. Dann schritt sie auf den Leichenberg zu und erkannte Xaido, Zacharias und ihre anderen Gefährten. Tränen stiegen in ihre Augen, doch kämpfte sie diese nieder. Es stank bestialisch nach Verwesung. Fliegen labten sich bereits an dem toten Fleisch und Maden quollen aus den Mündern einiger Jäger. Unwillkürlich fing sie an zu zittern und bemühte sich keine Übelkeit aufsteigen zu lassen.
Während ihrer Lehrzeit hatte sie viel Übel gesehen, aber das hier übertraf alles.
»Hilfe«, drang es leise an ihr Ohr.
Sofort sah sie sich um. Hier lebte noch jemand. Cassandra begann zu suchen, und sich durch die verstreuten Leichenteile zu bewegen.
»Wo seid Ihr?«, fragte sie.
»Hier«, lautete die Antwort. Dann fand sie ihn und fiel neben ihm auf die Knie.
»Um Himmels willen Tylsar, was ist geschehen?«, wollte sie wissen und half unter den Leichen von vier Jägern hervor. Er hatte eine Stichwunde im Bauch, wie es schien, denn dort war sein Oberhemd voll Blut.
»Seid Ihr verletzt?«, erkundigte sie sich.
»Nicht wirklich«, entgegnete er.
»Lady Cassandra, Ihr müsst auf der Stelle verschwinden«, fuhr er fort.
Sie sah ihn verwirrt an.
»Was ist geschehen?«
»Die Bruderschaft überfiel uns und tötete alle«, begann er und zog sein Hemd auf.
Sie riss die Augen auf. Man hatte ihm das Wappen der Jäger in die Haut gebrannt. Eine kräftige Weißeiche zierte seine Brust bis hinunter zu seinem Bauch. Darunter hatte man das lateinische Wort für »Verräter« in seine Haut geschnitten.
Tylsar setzte an, um weiterzureden, als er erstarrte. Cassandra spritzte sein Blut ins Gesicht und sie schrie erschreckt auf. Mit einem Pfeil im Hals brach ihr Gefährte zusammen, röchelte, keuchte und schließlich starb er. Als sie ihren Blick von ihm lösen konnte, sah sie sich um. Dann schaute sie nach oben. Auf der Balustrade saß jemand und legte auf sie an.
~ Merphan ~
Merphan hatte gut getroffen. Er war der Einzige der Bruderschaft, der zurückgeblieben war, falls weitere Nimrode des Silberstreifordens auftauchten. Nun hatte Gott ihm geholfen und die Gräfin Avabrucks hergeführt. Er grinste und zielte auf sie. »Kommt runter und kämpft wie ein wahrer Jäger«, forderte sie und hob ihre Silberklinge, die ihr wegen des Anblicks aus der Hand geglitten war, auf.
Merphan kam der Aufforderung nach und sprang von der meterhohen Brüstung herunter. Mit einem lauten Knall landete er auf seinen Füßen und zog seine Klinge. Es war ein Zweihänder. Ein schweres Schwert, unvergleichbar mit Cassandras Langschwert.
Cassandra wartete, überließ ihm den Angriff und nahm eine defensive Grundhaltung ein. Merphan umkreiste sie, seine schwarzen Augen taxierten sie, sein Mund grinste sie an.
»Ich werde Euch auslöschen Monsterhure«, drohte er und stürzte auf sie zu.
Im nächsten Atemzug wich sie ihm aus und schlug zu. Ihre Klinge schnitt in seinen Arm und er knurrte verärgert.
»Wir kamen, um sie zu bekehren und sie verhöhnten uns, dass wir Menschen töten und keine Monster. Dass wir Abschaum sind und dabei sind wir die Unsterblichen«, verkündete er.
»Das ist kein Grund diese Männer und Frauen zu ermorden«, grollte sie und ging in den Angriff über. Merphan war sicher, dass er sie bald verletzte.
Seine Schwester würde alles Weitere übernehmen. Immerhin hatte sie die Stellung als Amme bekommen im Hause der Avabrucks. Niemand durchschaute seinen perfiden Plan, diese Linie gänzlich auszulöschen. Dieses Land seines Herrschers zu berauben und seinen Platz einzunehmen. Denn James‘ Vorfahr in sechzehnter Reihe hatte Merphans um diesen Grund betrogen. Er selbst hatte es miterlebt. Sein Leben währte schon mehrere Jahrhunderte und so hatte er die Avabrucks immer beobachtet. Diese Familie war verflucht, aber nicht mit einem Fluch, wie er an James haftete. Nein, Merphan und Emilia waren der Bannfluch dieser Sippe. Sie hatten die Avabrucks langsam ermordet, jeden außer James. Nie hatte jemand Verdacht geschöpft.
Der Bruder der Eiche hob seinen Zweihänder erneut und stieß zu.