Kapitel 7

~ James & Caleb ~


Zwei Tage waren vergangen, seit James den Brief an seinen ältesten Freund geschrieben und Margret übergeben hatte. Nachdenklich saß der Graf in seinem Schreibzimmer und starrte auf eine Karte Avabrucks. Er hatte mit einer Bleifeder den Weg gekennzeichnet, den Cassandra genommen haben musste. Er schob sie beiseite und sah eine andere Landkarte an. Sie zeigte Dulanis und seine Umgebung. Vor Monaten hatte seine Gemahlin dort die Grundbesitze ihrer Familie eingezeichnet und beschriftet. Die Sommerresidenz lag fast am Rande des Herzogtums, sie war weiter weg, als das Schloss ihrer Eltern. James seufzte.

»Ob sie je zu mir zurückkehren wird?«, fragte er sich leise.

»Das glaube ich kaum«, hörte er Calebs Stimme und schaute auf.

Ein Lächeln breitete sich auf den Zügen seines Gefährten aus. James erhob sich.

»Caleb wie schön, dass du gekommen bist«, grüßte James.

Der Besucher nickte. Caleb musterte seinen Freund lächelnd.

»Ist dir deine Gemahlin etwa davon gelaufen?«, fragte er belustigt.

James schnaubte. »Sie besucht ihren Bruder, aber ich sah Jäger im Wald und habe Sorge, dass ihr und meinem Sohn etwas zustoßen könnte auf der Reise. Diese Herren sprachen darüber mich töten zu wollen und ich würde annehmen, dass sie auch Cassandra und Aydan etwas antun.«

Caleb nickte und trat näher an seinen Kameraden heran.

»Ich habe Barbara und die Kinder mitgebracht. Sie waren verängstigt, nachdem ich sie über deinen Brief eingeweiht habe«, erklärte er.

Diesmal stimmte James zu.

»Esra wird sich um ihre Sicherheit kümmern. Wir haben Glück, dass der Vollmond nicht naht.« Caleb nahm in einem der Sessel vor dem Schreibtisch Platz und musterte James.

»Eigentlich bist du es selbst schuld, dass Cassandra gegangen ist. James, es ist normal, dass der Körper nach einer Niederkunft nicht mehr ist wie vorher, aber ihr habt euch Aydan gewünscht. Er ist ein Zeichen eurer Liebe«, meinte Caleb.

James ließ sich wieder in seinen Ohrensessel fallen und lehnte sich zurück. Der Blick fiel auf eine Karte vor ihm. Caleb betrachtete ihn eindringlich. »Und jetzt sieh dich doch an. Es geht dir schlecht ohne sie«, fuhr er fort.

»Ich weiß«, knurrte James.

Er erinnerte sich, dass der Graf äußerst ungern auf seine Fehler aufmerksam gemacht wurde und es entlockte ihm ein Grinsen.

»Was belustigt dich mein Freund?«, fragte James, der seine Musterung gespürt haben musste.

Caleb schmunzelte. »Du natürlich.«

James hob den Kopf und sah ihn an.

»Ich? Warum belustige ich dich?«, erkundigte sich der Graf skeptisch.

»Weil du dich schon längst auf die Reise hättest begeben können, jedoch seelenruhig abwartest, bis ich eintreffe und dir helfe. Wie immer«, antwortete er.

James knurrte und schüttelte den Kopf.

»Die Gefahr, alleine nach Dulanis zu reiten, ist zu groß für mich.«

Caleb erhob sich und nahm die kleine Glocke von James‘ Schreibtisch. Er läutete sie kräftig.

»Warum bist du so ungeduldig? Meine Bediensteten sind keine Rennpferde«, fragte James. »Ich bin durstig und warte nicht gerne auf den besten Whiskey Avabrucks«, antwortete Caleb grinsend.

»Säufer«, spottete James, doch zierte ein Grinsen seine Lippen.

»Der mürrische alte Graf kann ja doch noch zum Grinsen gebracht werden«, schmunzelte er. »Natürlich, mein Weib und mein Sohn sind zwar weg, aber das ist doch nichts im Gegensatz zu der Tatsache, dass mein bester Freund meinem Whiskey zugetan ist«, erwiderte James sarkastisch. »Das hat wehgetan«, lachte Caleb.

Esra betrat den Raum und sah James fragend an. »Ihr habt geläutet Herr?«, fragte der Butler.

»Bitte bringt uns eine Flasche Whiskey und zwei Gläser, Esra«, sagte James und der Diener wandte sich nickend ab.

James sah Esra nach, bevor er sich wieder der Karte widmete.

»Nach Dulanis dauert es mit einer Droschke vier Tage, zwei sind vorüber und ich denke, dass Cassandra mit Aydan und der Amme in Foschina Rast machen wird«, erklärte er nachdenklich.

Caleb trat an seine Seite und warf nun auch einen Blick auf die Landkarte des dulanischen Reichs. »Wie schnell ist man zu Pferd?«, fragte Caleb.

»Mit dem Pferd dauert es zwei Tage, weil wir die Wege nehmen können, die mit einer Kutsche nicht passierbar sind«, antwortete James und zeigte auf einen verflochtenen Weg.

»Wir sollten uns schleunigst auf den Weg machen«, sagte Caleb. James nickte.

»Das sollten wir wirklich, immerhin möchte ich meine Familie wieder in die Arme schließen.« Caleb klopfte ihm auf die Schulter.

»Sie wird zurückkehren«, ermutigte er James.

»Ich hoffe, du behältst das Recht auf deiner Seite, mein Freund«, murmelte der Graf.

Esra betrat das Schreibzimmer mit einem Teebrett und brachte es an den Schreibtisch.

»Ich danke Euch, Esra«, sagte Caleb und griff nach der Flasche, bevor der Butler das Tablett abgestellt hatte.

Mit einer gehobenen Augenbraue nickte Esra. »Wünscht Ihr noch etwas, Herr?«, wandte er sich an James.

»Nein Esra, Ihr könnt gehen.«

Rückwärtsgehend verließ das Esra das Schreibzimmer und schloss die Tür hinter sich. Caleb schenkte die goldbraune Flüssigkeit in die Gläser ein und stellte die Whiskeyflasche zurück. »Möchtest du heute abreisen?«, fragte er.

»So schnell wie möglich, aber vorher müssen wir festlegen, welchen Weg wir nehmen«, antwortete James.

»Dann lass ihn uns aussuchen und morgen reiten wir los«, schlug Caleb vor.

»Nein, wir brechen noch heute auf«, widersprach James. Sein Freund verdrehte die Augen.

»Gut, dennoch müssen wir unseren Weg bestimmen.«

»Du hast ja recht«, erwiderte der Graf und sah sich die Karte noch einmal genauer an.

»Wir werden die große Straße nehmen, bis wir Avabruck verlassen haben und dann diesen … «, er deutete auf den verflochtenen Weg, »Weg nehmen. So erreichen wir Foschina in weniger als einem Tag, wenn wir alles von unseren Rössern abverlangen«, sagte James.

»Foschina liegt wo auf diesem Weg?«, fragte Caleb. James nahm seine Bleifeder zur Hand und kreiste es ein. »Hier.«

Caleb sah sich die Strecke an und pfiff.

»Die armen Pferde«, schmunzelte er.

Schnell hatten sie den weiteren Weg geplant. James griff nach seinem Glas und stürzte den Inhalt in einem Zug herunter.

»Auf dein Wohl«, sagte Caleb und tat es ihm nach. James erhob sich und ging um den Schreibtisch herum.

»Lass uns aufbrechen«, meinte er und schritt zur Tür.

»Die Pferde müssen gesattelt werden, James«, wandte Caleb ein.

»Oh du hast recht«, erwiderte er und streckte seinen Kopf in den Flur.

»Esra, lasst die Pferde satteln und Margret packt eine Tasche mit Proviant«, rief er einen Tick zu laut und seine Stimme hallte von den Wänden wider. »Das wäre dann auch erledigt«, bemerkte Caleb sarkastisch.

Unruhig lief James auf und ab. Es kam ihm selbst so vor, als würde er tiefe Furchen in den Boden laufen.

Caleb musterte seinen Freund, während er sein Glas erneut füllte.

»Es ist voll«, sagte James und im nächsten Moment trat der Whiskey über den Glasrand hinweg und verteilte sich auf dem Schreibtisch. »Verdammte … « Er brachte den Satz nicht zu Ende wegen James‘ Blick.

»Hüte dich in meinem Haus zu fluchen«, ermahnte ihn James.

»Verzeih bitte«, meckerte er und schüttelte seine Hand, die nass geworden war.

»Wo bleibt denn Esra?«, fragte James ungeduldig. »Zwei Pferde satteln sich nicht von selbst«, antwortete Caleb.

»Für diese Aufgabe habe ich einen Stallknecht und einen Stallburschen angeheuert. Esra muss diese zusätzlichen Arbeiten nicht mehr allein verrichten«, meinte James.

Er zuckte die Schultern und leerte seinen zweiten Becher Whiskey.

»Gewiss wird er dir gleich Bescheid geben«, erwiderte er.

»Vermutlich und du solltest nicht zu viel trinken, wir haben einen weiten Weg vor uns«, ermahnte ihn James abermals.

Caleb schnaubte. Geräuschvoll stellte er das Glas auf das Tablett und fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über sein Kinn. Langsam hatte seine Geduld mit James ein Ende. Immer stand er ihm zur Seite und half ihm, wenn er rief. Nun gut, auch James war stets für ihn da und so wiegte James‘ Hilfe die seines Freundes auf. Mit Seitenstichen lief der Bedienstete durch den Korridor und atmete tief durch, bevor er das Schreibzimmer betrat.

»Die … Pferde … sind … bereit«, japste er.

James nickte. »Vielen Dank Esra.«

Hinter seinem Butler tauchte die Dienstmagd auf und sah ihn schüchtern an.

In den letzten zwei Tagen war der Graf häufig ungehalten und aufbrausend gewesen, weshalb sie es vermieden hatte, ihm über den Weg zu laufen. Wortlos übergab sie James eine Ledertasche und ihm stieg der Duft des frischen Brotes in die Nase. »Danke Margret«, sagte er freundlich und schulterte die Tasche. Caleb kam neben ihn und sah ihn an. »Lass uns aufbrechen, James«, meinte er.

»Wir werden in einigen Tagen zurück sein, sollte sich etwas ändern, dann werde ich einen Brief schicken«, wandte James sich an seine Bediensteten.

»Sehr wohl Herr«, antworteten sie im Chor und traten zur Seite. James und Caleb verließen das Schreibzimmer und schritten den Korridor hinab. »Ich hoffe, dass sie wohlauf sind«, murmelte James besorgt.

Seine Stimmung schwang in den letzten Tagen häufig um. In einem Moment war er aufgebracht wegen Cassandras unangekündigter Abreise und im nächsten angstbesetzt, wegen der Nimrode die sich in Avabruck herumtrieben. Sie konnten nichts anderes, als Jäger sein. Schließlich hatten sie sich über seinen Tod unterhalten, geplant ihn zu ermorden, zumindest hatte er es so interpretiert. »Deine Gemahlin kann sich verteidigen, denk nur an ihre Vergangenheit«, sagte Caleb.

James nickte, doch er hatte Cassandra seit Monaten mit keiner Waffe üben sehen. Sie hatte ihrem Vorleben völlig den Rücken gekehrt und nicht mehr davon gesprochen.

»Ich hoffe sie weiß noch mit einem Schwert umzugehen, aber ich bezweifle, dass sie bewaffnet auf Reisen gegangen ist«, erwiderte James.

Sie verließen sein Haus und schritten auf die beiden gesattelten Hengste zu. Shadow sein treuer Kamerad scharrte mit der Hufe über den Kies. Das Pferd spürte seine Sorge. Caleb saß als Erster auf dem Rücken seines Tiers auf und auch James schwang sich in den Sattel. Die Freunde warfen sich einen Blick zu und ritten los. James fragte sich, ob Caleb sich von Barbara verabschiedet hatte, doch zuckte er die Schultern und konzentrierte sich auf das, was vor ihm lag. Cassandra zu erreichen.


~ Cassandra ~


Schweren Herzens war Cassandra abgereist und erinnerte sich nun an die Worte ihres Gemahls. »Ich finde dich nicht mehr anziehend«, hatte er gesagt und das war mit das Netteste gewesen. Wusste er denn nicht, dass sie für ihn ihr Leben aufgegeben hatte? Spürte er nicht ihre Einsamkeit? Normalerweise war James ein empathischer Mann und hatte ihre Stimmung stets richtig gedeutet, aber seit Aydans Geburt war diese Eigenschaft wie weggeblasen. Die holprige Kutschfahrt war alles andere als bequem, allerdings störte es sie nicht besonders. Cassandra wäre zwar lieber geritten, doch hatte sie sich mit Aydan nie gemeinsam auf den Rücken eines Pferdes getraut. Traurig und nachdenklich zugleich schloss sie die Augen und dachte an eine der Gelegenheiten, die James genutzt hatte, um sie zu verletzen.


»Ich habe dir doch gesagt, dass ich arbeite und mich nicht um dich, oder unseren Sohn kümmern kann«, polterte James von seinem Schreibtisch aus. »James du bist gar nicht mehr für uns da. Ständig ziehst du dich zurück und siehst nicht, wie unser Sohn wächst«, erwiderte sie.

Ihr standen die Tränen in den Augen, doch schien es ihm egal zu sein.

»Cassandra meine Liebe, siehst du denn nicht, dass ich mich um mein Land kümmern muss?«, fragte er. »Ich weiß, wie viel Zeit es in Anspruch nimmt, doch du könntest dir von mir helfen lassen und dann gehen wir gemeinsam zu unserem Sohn«, antwortete sie. James erhob sich und kam auf sie zu. Cassandra war ihm seit ihrer Heirat nie ausgewichen, so auch in diesem Moment nicht. Er fasste an ihre Schultern und starrte sie aufgebracht an.

»Ich sagte Nein und nun geh«, knurrte er. Seine Hände hielten sie fest und er schob sie auf die Tür zu.

»Warum verbringst du keine Zeit mehr mit uns?«, fragte sie heiser.

»Weil ich nicht will und nun geh«, forderte er erneut.

Seine Linke hielt noch immer ihre Schulter und mit der rechten öffnete er die Tür. Es dauerte einen Atemzug, bis er sie, etwas zu kraftvoll, aus seinem Schreibzimmer schubste. Cassandra stürzte und blieb einen Moment auf der Seite liegen. In der Hoffnung, dass James ihr aufhelfen würde, doch knallte er die Tür zu und schob den Riegel vor. »Womit habe ich das nur verdient, nachdem ich alles für ihn aufgegeben habe?«, fragte sie sich leise und erhob sich schwerfällig.

Ihre Tränen nahmen ihr die Sicht, als sie den Korridor entlang zum Gemach ihres Sohnes schlich ...


»Lady Cassandra?«

Jemand fasste an ihre Schulter und schüttelte sie vorsichtig.

Die Gräfin schlug die Augen auf und sah in das Gesicht der Gouvernante.

»Was ist denn?«, erkundigte sie sich verwirrt.

»Wir haben Foschina erreicht. Der Kutscher sagte, wir sollen eine Nacht im Gasthaus verbringen, weil die Pferde müde sind«, erklärte Emilia mit sanfter Stimme.

Diese Amme konnte keiner Fliege etwas zuleide tun, weshalb Cassandra sie mochte, auch wenn sie ihr gegenüber noch immer misstrauisch war.

Sie setzte sich auf und zupfte einen imaginären Fussel von ihrer Schulter.

»Natürlich, wir werden diese Nacht rasten«, sagte sie. Der Fuhrmann öffnete die Tür und Cassandra trat hinaus in die Nachmittagssonne. Lächelnd sah sie das Gasthaus an und die Einwohner Foschinas erkannten sie, als die dulanische Herzogstochter. Sofort kamen Schaulustige heran und musterten sie. Emilia verließ nach ihr die Kutsche, mit Aydan auf dem Arm, und ließ ihren Blick schweifen.

»Ist es nicht wunderschön hier?«, fragte Cassandra gut gelaunt, als Emilia an ihre Seite kam.

»In der Tat ist es das«, lächelte die Amme.

Sie nahm der Nährmutter ihren Spross ab und hielt ihn im Arm. Mit dem Daumen im Mund und aufgerissenen Augen sah er, ebenfalls, auf das Gasthaus. Die Einwohner tuschelten untereinander. Cassandra spürte die Blicke auf sich und ihrem Sohn haften, doch ignorierte sie diese gekonnt. Gemeinsam gingen sie auf ihre Herberge für die Nacht zu. Der Wirt kam an die Tür, mit solch hohem Besuch hatte er offensichtlich nicht gerechnet. Sein Blick verriet es Cassandra. Vor ihm blieben sie stehen. Cassandra lächelte ihn an. »Guter Herr, habt Ihr Zimmer frei die meine Gouvernante, mein Kutscher und ich beziehen können? Wir werden Euch gut dafür entlohnen«, sagte sie freundlich. Schweiß trat auf seine Stirn. »Lady Cassandra, es ist mir eine Ehre, dass Ihr in meinem bescheidenen Gasthof Unterkunft wünscht und selbstverständlich gibt es noch Räume, die Ihr und Eure Amme beziehen könnt«, erwiderte er schüchtern.

Der Wirt machte einen Schritt zur Seite, um die Gräfin und ihr kleines Gefolge einzulassen.

»Vielen Dank«, meinte Cassandra und schlenderte hinein.

Der Reichtum dieser Stadt war unglaublich und sie traten in ein einladendes helles Gasthaus. Ganz anders als in Avabruck. Ihr Vater hatte seine Amtszeit genutzt und dem Reich zu hohem Ansehen verholfen. Der Gastwirt folgte ihnen und marschierte hinter einen Tresen. Er nahm drei Schlüssel von einem Brett und kam wieder hervor. »Wenn ich Euch nun Eure Gemächer zeigen dürfte«, sagte er mit einer weiten Verbeugung. Cassandra nickte ihm zu. Der untersetzte Herr ging an ihnen vorbei auf eine große Treppe zu. Anders als in anderen Gasthöfen bestand diese aus Kiefernholz. Gemeinsam folgten sie dieser hinauf. Der Betreiber führte den Kutscher und Emilia zu ihren Schlafgemächern und kam zu Cassandra zurück.

»Für Euch und Euren Sohn habe ich das größte Zimmer in diesem Gasthaus vorgesehen. Ich hoffe, dass es Euch gefallen wird«, sagte er und wieder verbeugte er sich.

»Das ist sehr großzügig, wo wir Euch doch mit unserer Ankunft überrascht haben«, erwiderte sie lächelnd.

Der Wirt errötete. Er schritt den langen Flur hinab, zum entgegengesetzten Ende, und öffnete eine Tür. Mit einer einladenden Geste deutete er in das Gemach.

»Ich danke Euch«, meinte sie und trat ein.

»Ich werde nun Euer Gepäck holen«, verkündete er und ließ sie allein zurück.

Cassandra brachte Aydan zum Bett. Sie legte das glucksende Baby ab.

»Ich wünschte, dein Vater hätte uns begleitet«, flüsterte sie, als sie seine Wange streichelte.

Aydan umfasste ihren Daumen und zog ihn an seine Lippen. Es sah aus, als würde er einen Kuss darauf hauchen wollen, doch nahm er ihn in den Mund und nuckelte daran. Seine großen blauen Augen musterten seine Mutter. Ihr war wieder nach Weinen zumute, jedoch lächelte sie ihn gequält an. »Ich lebe für dich«, sagte sie leise.

»Und ich liebe dich Aydan.«

Sie beugte sich über ihn und hauchte einen Kuss auf seine Stirn.


~ James & Caleb ~


Gerade hatten die Freunde Avabruck verlassen, als sie weitere Pferde hörten. Caleb wagte einen Blick über seine Schulter.

»Ich glaube, die sind hinter uns her«, sagte er zu James.

Caleb sah wieder nach vorn auf die Straße und James sah zu den anderen Reitern.

»Das sind diese Jäger, die im Wald von meinem Tod sprachen«, erwiderte der Graf und gab Shadow die Sporen.

Wiehernd beschleunigte der Hengst und rannte im Galopp. Caleb tat es ihm gleich. Die Hufen der Tiere schlugen hart auf den Boden auf, doch hinter sich vernahmen sie, dass ihre Verfolger ebenfalls ihre Pferde antrieben. Caleb holte zu James auf und sah ihn an.

»Was sollen wir tun?«, fragte er.

»Reiten, mehr ist nicht möglich«, antwortete James. Caleb schaute abermals über seine Schulter und sah, dass zwei ihrer Treiber ihre Bogen spannten. »Jetzt sollten wir verdammt schnell reiten, die spannen Pfeile an«, rief er zu James.

Mit festen Tritten trieben sie ihre Pferde weiter an, verlangten alles von den Tieren ab.

James war erleichtert, dass die Jäger ihnen und nicht seiner Familie gefolgt waren. Um jeden Preis wollte er sie abschütteln, damit sie nicht herausfanden, was ihr Ziel war. Mit seinem übersinnlichen Gehör blieb es nicht unbemerkt, dass ihre Verfolger die Geschosse losließen. »Ducken«, rief er Caleb zu, der es sofort tat.

Auch James legte seinen Oberkörper auf den Rücken des Hengstes und die Pfeile flogen über ihre Köpfe hinweg. James atmete auf. Sie näherten sich einer Kreuzung.

»Links«, sagte James leise, in dem Wissen, dass sein Freund ihn hören würde.

Für die Nimrode unerwartet rissen sie die Zügel ihrer Pferde herum und bogen ab. Beide schauten hinter sich. Die Jäger schienen verwirrt zu sein, doch verfolgten sie die Männer weiter. James fluchte innerlich. Warum mussten sie ausgerechnet in solchen Momenten auftauchen? Jedes Mal, wenn er irgendwas bereinigen wollte, kam ihm etwas in den Weg. Er hoffte inständig, dass sie ihre Verfolger abschütteln konnten. Vor ihnen ragte ein Wald auf. Abermals hörte er, wie man Geschosse auf sie losließ und er duckte sich wieder darunter weg. Caleb schrie auf, er hatte scheinbar nicht so viel Glück gehabt. James sah zu ihm herüber. Ein Pfeil steckte in seinem Rücken. Caleb wurde blasser und erwiderte seinen Blick.

»Ich wurde erwischt, reite allein weiter«, keuchte er.

James schüttelte den Kopf.

»Ich lasse dich nicht im Stich«, entgegnete er.

»Halt dich an den Zügeln fest.« Caleb nickte schwach.

Er lenkte Shadow näher an den Hengst seines Freundes und ergriff die Zügel. Seine Hoffnung, dass Caleb durchhielt, verließ ihn nicht und er galoppierte auf den Wald zu. Er hoffte sie dort abhängen zu können. Die Sonne brannte auf seiner Haut, doch auch das Problem sollte sich im Forst von selbst erledigen. James trieb Shadow weiter an, Calebs Pferd hielt das Tempo. In einem Punkt war er sich sicher, er musste die Tiere nach diesem kräftezehrenden Ritt unbedingt ausruhen lassen. Ob er es rechtzeitig zu Cassandra schaffen würde, war unklar. Er wünschte sich, dass sie in Foschina rasten würde. Der Hain war erreicht und die Rösser hatten ihre Probleme auf den, offenkundig unberittenen, Wegen. Seine Verfolger fluchten, aufgeholt hatten sie noch nicht und scheinbar hatten auch ihre Pferde Schwierigkeiten. James atmete auf und lenkte die Warmblüter tiefer in den Wald. Er hörte, wie Caleb auf dem Rücken seines Vollblutes zusammensackte. Es war ihm nur wichtig, dass sein Freund überlebte und er ihn in Sicherheit bringen konnte. »Wir kriegen dich Avabruck«, hörte er einen ihrer Verfolger schreien, allerdings schenkte er sich den Blick über die Schulter. Ihre Stimmen wurden leiser, scheinbar hatten sie sich entschieden, ihre Jagd abzubrechen. Erleichtert atmete James auf, doch machte er nicht kehrt. Irgendwie würde er aus diesem Forst herausfinden und einen alternativen Weg weiter nach Foschina nehmen. »Hätte ich nur einen anderen Weg ausgesucht«, tadelte er sich selbst. Calebs Atem wurde schwächer und er warf einen Blick auf ihn.

»Du wirst dich hüten zu sterben«, knurrte er Caleb an, der jedoch nichts erwiderte aufgrund seiner Ohnmacht.

Die Rösser kämpften sich durch das Dickicht. James hoffte, dass sie den Wald bald hinter sich ließen. Die Unsicherheit, dass ihre Verfolger auf der anderen Seite warteten, verließ ihn allerdings nicht. Seufzend überließ er es Shadow, sich einen Weg durch das Unterholz zu bahnen. Es dauerte, bis der Hain sich lichtete. Lobend tätschelte er den Hals seines Hengsts.

»Das hast du gut gemacht«, flüsterte er Shadow zu. Kaum hatten sie das Dickicht verlassen, ließ James die Tiere traben. Er vermied es seinem Instinkt zu folgen und die Vollblute galoppieren zu lassen, auch damit Caleb nicht vom Pferd fiel. James sah sich um. Es war keine Spur von ihren Verfolgern und er atmete ein weiteres Mal auf.

»Ein Glück«, sagte er leise.

Er sah sich um und suchte eine Straße, die er entlangreiten konnte. Irgendwie musste er es vor Einbruch der Dunkelheit nach Foschina schaffen. Dass Caleb auf halbem Weg verwundet werden würde, hatte niemand von ihnen erahnen können und nun bangte James um das Leben seines ältesten Freundes, auch wenn er es sich nicht anmerken ließ. Nach außen hin gab er den gelangweilten und arroganten Grafen, falls ihm Bauern über den Weg laufen sollten oder anderes Fußvolk.


~ Cassandra ~


Es schien Cassandra, als wollte die Zeit nicht vergehen in ihrem geräumigen Gemach, dabei waren Stunden an ihnen vorübergegangen. Noch immer saß sie mit Aydan auf dem Bett und spielte mit ihm. Der kleine Junge gluckste und lachte seine Mutter freudig an. Auch wenn ihr nicht nach Lachen zumute war, so erwiderte sie es. Sie wollte vermeiden, dass Aydan ihre Gefühle erahnen konnte und so bemühte sie sich seit Monaten darum alles, was James, und ihre Empfindungen, betraf vor ihrem Kind zu verbergen. Sie vermisste ihren Gemahl. Am liebsten wäre sie bei ihm geblieben, oder gemeinsam mit ihm auf diese Reise gegangen. Aydan verzog das Gesicht. »Hast du Hunger?«, fragte Cassandra. Die Stimmung ihres Sohns war von einem Augenblick auf den anderen umgeschlagen. Sie sah ihn an, doch, natürlich, gab das Baby ihr keine Antwort.

»Ich bringe dich zu Emilia, damit du deinen Hunger stillen kannst«, sagte sie zu Aydan und nahm ihn hoch.

Behutsam trug sie den Jungen aus dem Gemach. Sie ging den Flur des edlen Gasthauses hinunter und klopfte schließlich an die Tür ihrer Amme. Es dauerte, bis Cassandra eine Bewegung hinter der Tür vernahm. Beinahe wäre sie ungeduldig geworden und hätte den Raum einfach betreten, doch so unhöflich wollte sie nicht sein. Die Tür wurde geöffnet.

»Lady Cassandra«, sagte Emilia überrascht. »Ich dachte, Ihr wollt Euch ausruhen, deshalb kam ich nicht, um Aydan zu holen.«

Cassandra lächelte sie an.

»Ich beschäftigte mich mit ihm, aber nun ist er hungrig. Würdet Ihr ihn bitte nähren?«, fragte die Gräfin.

Emilia nickte und nahm das Baby aus dem Arm ihrer Herrin.

»Soll ich ihn danach zu Euch bringen?«

»Ich bitte darum«, erwiderte Cassandra und wandte sich ab.

»Ich werde ihn bringen, sobald er gesättigt ist«, meinte die Nährmutter und zog sich, hinter Cassandras Rücken, mit Aydan zurück.

Cassandra drehte sich noch einmal um und ging an die Tür der Amme. Sie klopfte abermals.

»Herein«, ertönte Emilias Stimme. Sie öffnete die Tür und sah in den Raum.

»Ich werde ein wenig spazieren und Aydan später selbst abholen«, sagte Cassandra.

»Aber Herrin, es wird bereits dunkel«, widersprach Emilia.

»Ich kann auf mich aufpassen«, lächelte sie und schloss die Tür.

Eilige Schritte führten sie in ihr Gemach. Cassandra legte ihren Umhang an und ging hinunter in die Schänke. Sie meldete sich beim Wirt ab für die nächsten Stunden und verließ das Gasthaus. Die kühle Abendluft beruhigte ihr Gemüt, als sie die Straße Foschinas entlangschritt. Die Einwohner, die noch unterwegs waren, musterten sie akribisch. »Als ob ich mich verändert habe«, dachte Cassandra.

Sie lächelte die Menschen an und setzte ihren Weg fort. So oft war sie in ihrer Kindheit hier gewesen und nun mit ihren 25 Jahren, war sie in Avabruck und einer, mittlerweile, lieblosen Ehe gefangen. Wie so oft fragte sie sich, was es mit James‘ abwehrendem Verhalten auf sich hatte. Cassandra und er hatten sich nicht gestritten, beide hatten nur das Bett miteinander geteilt, wobei sie sich nun nicht mehr sicher war, und Gefahr drohte ihnen auch keine. Seufzend sah sie sich um. Der helle Tag war beinahe der schwarzen Nacht gewichen, doch die Öllampen erhellten ihren Weg. Es war an der Zeit umzukehren und sich für den nächsten Tag auszuschlafen. Hinter sich hörte sie Hufgeklapper und sah über ihre Schulter. Sie erkannte die Reiter nicht und sah wieder vor sich. Cassandras Schritte führten sie zum Gasthof zurück. In Foschina gab es vier Stück und das war ungewöhnlich. Normal waren ein oder zwei Gasthäuser, aber Foschina war immer ein beliebtes Reiseziel gewesen, weshalb die Stadt sehr auf Reisende ausgelegt war. Die Leute ritten an ihr vorüber und sie wagte einen Blick nach rechts. Sie erkannte den Hengst ihres Gemahls und hob den Kopf, um den Reiter zu sehen.

»James«, sagte sie überrascht. Angesprochener sah zu ihr und atmete auf.

»Oh Gott sei Dank, ich habe Euch gefunden«, erwiderte er und zügelte sein Pferd.

Sie hob eine Augenbraue. Warum war er so förmlich? Sie waren doch verheiratet!

»Nun, wie Ihr seht, bin ich wohlauf und Ihr könnt nach Avabruck zurückkehren«, meinte sie und setzte ihren Weg fort. Anschließend hörte sie ihn hinter sich seufzen und er stieg von Shadows Rücken. Er folgte ihr wohl. Sie spürte seine Hand auf ihrer Schulter und er drehte sie zu sich herum. Er umfasste ihre Oberarme. Cassandra sah zu ihm auf.

»Ich habe mir Sorgen gemacht«, gab er zu.

»Das ist schwer vorstellbar nach der Behandlung, die Ihr mir habt zuteilwerden lassen«, spottete sie. James‘ Griff verfestigte sich an ihren Armen, es wurde schmerzhaft.

»Lasst mich los«, forderte sie. James seufzte.

»Es tut mir leid, wie ich Euch behandelt habe, meine Schöne«, flüsterte er.

Tränen brannten in ihren Augen, aber sie kniff sie zu, um sie am Fließen zu hindern. Die Gräfin schwieg. Die Verletzung und Enttäuschung saß einfach zu tief.

»Sagt doch etwas«, flehte er leidlich. Sie schlug die Lider auf und sah zu den Rössern.

»Wer begleitet Euch?«, fragte sie. James versteifte sich und ließ sie los.

»Das ist Caleb. Er wurde von einem Pfeil getroffen, als wir verfolgt wurden«, antwortete er.

»Und dann steht Ihr hier herum?«

Cassandra eilte um ihn herum zu den Pferden.

Er blieb wie angewurzelt stehen und sah ihr nach. Danach musterte sie Caleb und ergriff die Zügel. »Wir bringen ihn ins Gasthaus«, entschied sie. Langsam ging sie los, das Tier folgte ihr, und James war ihr in diesem Augenblick egal. Gerade war es nur wichtig, dass Caleb seine Verletzung überlebte.