Kapitel 5
~ James ~
James sah sich vor dem Stollen um, als er einen Schrei hörte. Sofort sprang er von seinem Hengst ab und rannte los.
»HALTET EIN!«, vernahm er den Ruf Calebs und versuchte die Richtung auszumachen, aus der diese Forderung gekommen war.
Er hielt an, wandte sich noch einmal um und sah seine Begleiter an.
»Ruft die Anderen, wir haben ihn gefunden«, sagte er und Julamine sah ihn an.
»Graf, auch die Anderen werden den Schrei gehört haben und ihm durch die Stollen nachgehen.« James nickte und rannte erneut los.
»Ihr werdet die Dame augenblicklich loslassen«, forderte eine weibliche Sprachmelodie und James sah sich verwirrt um.
Aus jedem der Gänge drangen die Geräusche und er entschied sich, einfach einen zu betreten und den Stimmen zu folgen. Zwar waren es Labyrinthe innerhalb dieses Berges, doch er war sich sicher, dass sein Herz ihn führen würde. Es musste irgendwie möglich sein, dass sein Instinkt ihn zu Cassandra zu brachte.
»Das werde ich nicht«, erwiderte eine weitere Sprachfärbung, sicher war es der Jäger der Bruderschaft und James zog sein Schwert. Einst hatte er Cassandra gegenüber erwähnt, dass er mit der Klinge nicht sonderlich geschickt sei und wenn sie bei Bewusstsein war, dann würde sie seine Lüge heute erkennen. Der Graf vernahm den ohrenbetäubenden Aufschrei eines wütenden Werwolfs und rannte weiter, immer tiefer in den Stollen. Die eigene Hand war kaum zu sehen, doch hielt er das Schwert mutig erhoben und tastete sich an der Wand entlang. Seine grünen Iriden gewöhnten sich an die Dunkelheit des Bergtunnels und er erkannte ganz schwach den Schein eines Feuers. Seine Begleiter waren ihm dicht auf den Fersen und er hörte das Knurren der Wölfe hinter sich, sie waren verwandelt.
»Ich werde diese Dame von der Brut des Teufels befreien«, hörte er erneut die Stimme des Jägers und in James schwoll der Hass, der bereits enorm war, ein weiter an.
Niemand, wirklich niemand, hatte das Recht ihm sein Kind zu nehmen und auch nicht Cassandra. Der Schein wurde stärker und er sah die Szenerie, zwei Werwölfe die einen Mensch umkreisten und ... Cassandra, die gefesselt und blutend an der Wand lehnte. James, der Einzige neben Cyrus und seiner Ehefrau der noch menschlich war, stellte sich auf die Seite der Lykanthropen und starrte den Jäger hasserfüllt an.
»Ihr habt meine Gemahlin entführt und gefoltert, dafür seid Ihr des Todes«, knurrte er und stürzte mit gehobenem Schwert auf das Mitglied der Bruderschaft zu.
Cyrus war bloß mit einem einfachen Dolch bewaffnet, der James nicht viel Schaden zufügen konnte, und versuchte der Klinge des Grafen auszuweichen, doch erwischte der Hieb ihn und trennte eine Sehne in seiner Schulter durch. »Ihr alle werdet sterben, wenn Ihr mich tötet«, sagte Cyrus mit einem irren Gesichtsausdruck. Cassandra wimmerte und für einen Augenblick war James abgelenkt. Besorgt sah er die Gräfin an, die auf einmal aufschrie und ihre Schenkel zusammenpresste.
»Bringt sie heraus, das Kind ... es kommt«, wies James seine Wölfe an und sah nicht, wie Cyrus mit dem Dolch ausholte.
Caleb, in Wolfsgestalt, stürzte dazwischen und verbiss sich im Arm des Jägers.
Die Gelegenheit nutzend eilte James zu Cassandra und löste die Fesseln mit dem Schwert. Schwach sah sie auf.
»James«, hauchte sie erleichtert.
»Ich bin da meine Schöne«, er sah zu Julamine, die die Gestalt eines weißen Wolfes angenommen hatte, und fuhr fort: »Sie wird dich herausbringen.«
Müde nickte die Adlige und ließ sich von James auf den Rücken des monströsen Werwolfs setzen. Mit einem letzten Blick aus roten Augen rannte Julamine den Stollen hinunter und die Gräfin hielt sich mit aller Kraft, die ihr verblieben war, an ihrem Fell fest. James wandte sich um und starrte den Jäger nieder. Noch immer hatte Caleb den Arm im Maul und riss daran. Mit einem ekelerregenden Geräusch und dem Krach brechender Knochen brach der Arm aus dem Gelenk und Caleb schleuderte ihn durch die Höhle ins Feuer. Cyrus, dessen Gesicht vor Schmerz verzehrt war, schrie nicht einmal auf und zeigte keinerlei Regung außer der seines Gesichts. Cassandra war in Sicherheit und James Augen begannen zu leuchten. Mit erhobenem Schwert ging er auf Cyrus zu und setzte es an seine Kehle. »Wenn Ihr mich tötet, werde ich Euch heimsuchen«, bedeutete der Jäger und der Graf schnaubte.
»Wer sagt, dass ich Euch töte und nicht Eure Glieder abtrenne und Euch hier den Tieren überlasse?«, fragte James.
»Ihr seid ein Mann von Ehre und kein Sadist«, erwiderte Cyrus.
»Ihr habt meine Gemahlin entführt und verletzt, fast Ihr Leben genommen und nun soll ich Gnade zeigen?« Die Stimme des Grafen war hasserfüllt. »Die Bruderschaft weiß um Eure Existenz, und wenn ich versage, werden weitere Jäger erscheinen«, murrte Cyrus.
Das Blut schoss bei jedem Herzschlag aus der klaffenden Wunde, wo einst sein Arm gewesen war. James sah die Werwölfe nacheinander an und nickte. Er hatte sich diesen Kampf viel schwerer vorgestellt und war nun überrascht, dass der Jäger so einfach zu erledigen war.
Langsam näherten die Verfluchten sich und knurrten, während James sich zurückzog.
»Tötet ihn nicht, lasst ihn leben. Damit niemand von Euch von seinem Geist heimgesucht wird«, wies er sie an und seine Freunde machten sich ans Werk.
Nun schrie der Jäger, als ihm seine verbliebenen Glieder herausgerissen wurden, doch der Graf störte sich nicht daran. Er wandte sich von dem Geschehen ab und rannte los. Er wollte bei Cassandra sein, denn er hatte das Blut und das Fruchtwasser gerochen. Sein Kind würde möglicherweise noch in dieser Nacht das Licht erblicken und er musste seine Gemahlin so schnell wie möglich auf sein Anwesen bringen und einen Arzt verständigen lassen.
~ James & Cassandra ~
James verließ den Stollen und sah sich um. Nirgendwo war der weiße Werwolf zu sehen und er schloss die Augen. Tief sog er die Luft ein, dabei versuchte er, Julamine zu wittern.
Leise drangen die Schreie des Jägers an sein Gehör. Zweifellos würden die Wölfe Cyrus noch ein wenig foltern, aber darum kümmerte der Graf sich nicht.
Mit halb geschlossenen Lidern lag
Cassandra auf dem Rücken des Werwolfs. Ihr Unterleib schmerzte, ihr Bauch spannte und sie hörte ihr Blut in ihren Ohren rauschen. Der Schmerz war unerträglich und übel war ihr auch. Das Ungetüm rannte weiter durch das nächtliche Avabruck, doch sie war zu verwirrt, um sich umzusehen. Die Gräfin wusste nicht, wo der Lykanthrop ihn hinbrachte.
»James?«, hauchte sie in die Stille der Nacht, die bloß von den kräftigen Pfotenschlägen des Wolfes unterbrochen wurde.
Schwach hob sie ihr Haupt, allerdings sah sie ihren geliebten Gemahl nicht. Abermals hatte sie das Gefühl, dass ihr Unterleib sich zusammenzog und sie schrie gequält auf.
James Kopf ruckte herum, als er den Schrei hörte. Erleichtert atmete der Graf auf, denn es kam aus der Richtung, die man einschlagen musste, wenn man sein Anwesen erreichen wollte. Er schwang sich auf Shadow und gab dem Pferd sofort die Sporen. Wiehernd ging der Gaul auf die Hinterläufe, bevor er losgaloppierte. Dem Tier wurde in den letzten Tagen einiges abverlangt und James musste seinem alten Freund unbedingt eine Auszeit gönnen. Als würde er wissen, wohin der Graf wollte, preschte er durch den Pulverschnee zum Anwesen des Grafen. Nicht einmal hatte James Julamine oder Cassandra gesehen und vermutete, dass sie bereits angekommen waren und man seine Gemahlin gleich in das Gemach gebracht hatte. Schnell ritt er auf das Herrenhaus zu und sprang noch vom Pferd ab, bevor es überhaupt zum Stehen gekommen war. Ein weiterer Schrei veranlasste ihn dazu, ins Gebäude zu rennen.
»Margret?«, rief er, doch die Magd antwortete nicht.
Cassandra wurde von Margret und Julamine entkleidet und in den Badezuber gesetzt. Julamine hatte ihre menschliche Gestalt angenommen, nachdem man Cassandra ins Haus gebracht hatte. Die Gräfin war schwach und ihr getrocknetes Blut klebte an ihrem Körper. Vorsichtig wurde sie von Margret gewaschen.
»Ich werde es nicht schaffen«, sagte sie leise und die Magd streichelte den Rücken der Gräfin. »Bisher ist kein Kind im Leib der Mutter geblieben«, ermutigte sie
Cassandra und lächelte ihre Herrschaft an. Julamine reinigte behutsam Cassandras Bauch, der Schnitt war tief und drohte jeden Moment erneut zu bluten. Krachend flog die Tür auf und James stürzte ins Gemach.
»Bei Gott es geht dir gut«, rief er erleichtert und näherte sich dem Badezuber.
»Gut ist übertrieben, James«, erwiderte Cassandra gequält.
»Herr ich muss Euch bitten draußen zu warten«, mischte die Magd sich ein.
»Nein, ich möchte, dass er die Geburt seines Kindes erlebt«, widersprach die Gräfin.
Mit einem Mal kniff sie die Augen zu und versuchte gleichmäßig zu atmen, eine weitere Wehe kam.
Der Graf musterte seine Gemahlin und streichelte ihre Wange.
»Ich weiche nicht von deiner Seite«, raunte er und sie nickte hastig.
Margret erhob sich und reichte James den Schwamm.
»Ich werde heißes Wasser und Tücher holen, es wird nicht mehr lang dauern«, sagte sie und der Graf nahm ihren Platz ein, um seine Geliebte weiter zu reinigen.
Erst jetzt fielen ihm ihre zahlreichen Verletzungen auf und er knirschte mit den Zähnen.
»Ich habe solche Angst James«, flüsterte Cassandra. Er ließ den Waschlappen in die Wasserschale fallen und legte seine Hände an ihre Wangen.
»Du wirst das schaffen. Deine Furcht ist völlig unnötig und schon bald wirst du unser Kind im Arm halten«, ermutigte er sie.
Er fühlte, wie sie ihre Zähne zusammenbiss und wieder die Augen zukniff. Gleichmäßig atmete sie durch die Nase ein und den Mund aus.
»Wie viel Abstand lag zwischen diesen Wehen?«, fragte er Julamine.
»Ungefähr drei Minuten«, antwortete sie und fuhr fort: »Sie muss sofort ins Bett, es wird gleich so weit sein.«
Der Graf nahm es zur Kenntnis und sah Cassandra an.
»Ich werde dir jetzt aus dem Badezuber helfen und du musst nur stehen bleiben, damit ich dich abtrocknen kann. Hast du das verstanden?« Cassandra nickte schnell und er griff um sie herum. Behutsam hob er sie aus dem Zuber und brachte sie vor den Kamin, weshalb sie nicht fror. Er ließ sich von Julamine ein Handtuch geben und trocknete seine Gemahlin vorsichtig ab. Kaum war sie trocken, hob er sie in seine Arme und trug sie zur Schlafstatt, ohne ihr ein Nachthemd anzuziehen. Margret erschien mit einer Schale heißem Wasser und Tüchern im Gemach und stellte die Wasserschale auf dem Nachttisch ab.
»Herr Ihr müsst Eure Hände reinigen«, sagte sie und wusch ihre.
James tat, was die Magd ihm gesagt hatte, und reinigte seine Hände. Cassandra wand sich im Bett und rutschte höher, bis sie etwas aufrechter lag. Die Qualen waren unerträglich und sie war sich sicher, dass sie nie wieder einen Nachfahren gebären wollte. Es fühlte sich an, als würde es ihren Unterleib zerreißen und sie stellte instinktiv ihre Beine auf. Mit einem Mal spürte sie, wie das Kind sich in den Geburtskanal schob und die Schmerzen ließen sie erneut aufschreien. Es war einfach furchtbar qualvoll. Julamine legte ihr einen kalten Waschlappen auf die Stirn und die Gräfin schloss die Augen. James ergriff ihre Hand und redete ihr gut zu.
»Du musst gleichmäßig atmen und pressen, Liebste«, sagte er leise, doch hörte sie seine Anspannung heraus.
Das Baby kam viel zu früh, obwohl ihr Bauch die Größe hatte, die für den neunten Monat üblich war, und sie hoffte, dass es leben würde. Margret hockte sich zwischen Cassandras Schenkel, ein Arzt war so schnell nicht erreichbar gewesen und nun war es an der Dienstmagd das Kind zur Welt zu bringen.
»Ihr müsst pressen Lady Cassandra«, sagte Margret und legte ihre Hände in die Kniekehlen der Landgräfin.
Sie hob ihre Beine hoch und James drückte das Kinn seiner Gemahlin auf ihre Brust. Cassandra schloss die Augen und presste.
»Ihr macht das gut, noch einmal«, lobte die Magd sie und übte etwas mehr Druck auf die Glieder der Gräfin aus.
Sie bemühte sich ein weiteres Mal und spürte, wie das Kind sich seinen Weg durch den Geburtskanal bahnte.
»Ich sehe das Köpfchen«, sagte Margret und sah Cassandra an. »Noch einmal, bis ich sage, dass Ihr aufhören sollt.«
»Ja«, knurrte Cassandra und tat es abermals. »Haltet ein und atmet schnell.«
Die Adlige tat, was man ihr aufgetragen hatte, und drückte James Hand so fest, dass er seine Knochen deutlich spürte. Beruhigend streichelte er ihren Hinterkopf und küsste ihr Haar.
»Ein letztes Mal müsst Ihr nun pressen.«
Die Magd war aufgeregt, es war das erste Baby, das sie zur Welt brachte und sie sah hoch zu Cassandra. Die Gräfin presste ein weiteres Mal, und als die Schultern zu sehen waren, schob Margret ihre Finger in die Achseln vom Baby und zog es vorsichtig heraus.
»Es ist ein Junge«, verkündete sie und wischte das Kind mit einem der Handtücher ab.
James strahlte über das ganze Gesicht, als er seinen Nachkommen zum ersten Mal sah und Cassandra lag schwer atmend im Bett. Margret durchtrennte die Nabelschnur mit einem Faden und träufelte etwas Olivenöl auf Nase, Augen und Mund des Babys. Schließlich wickelte sie den Erben Avabrucks in ein sauberes Tuch ein und legte ihn in Cassandras Arm. Die Gräfin bewunderte den kleinen Engel und sah James an.
»Unser Sohn«, sagte sie stolz und unendlich erleichtert, dass es dem Kind gut ging.
~ James ~
Lächelnd bewunderte das adlige Paar seinen Sohn. James konnte kaum fassen, dass er nun Vater war und nur zaghaft berührte er die kleinen Finger und die Nase des Buben.
»Wie soll sein Name lauten?«, fragte Cassandra und riss ihren Blick von dem kleinen Engel los.
»Wie wäre es mit Jonathan?«, schlug James vor. »Das klingt furchtbar«, antwortete die Gräfin. »Jim?«
»Das ist die Koseform von James«, meinte sie abwinkend.
»Elijah?«, erkundigte er sich.
»Nein, Elijah gefällt mir auch nicht.«
»Wie soll er dann heißen?« Er musterte seine Gemahlin, sie war blass und sah völlig geschafft aus.
»Aydan«, entgegnete sie. Der Graf wiederholte den Namen leise. »Aydan von Avabruck«, murmelte er und sah sie skeptisch an. »Ein zweiter Vorschlag?«
»Aydan Elijah?«, fragte Cassandra.
»Das klingt gut«, er grinste sie an und heftete seinen Blick wieder auf seinen Erben.
»Aydan Elijah, Graf von Avabruck. Das hört sich wirklich gut an«, stimmte die Gräfin ihrem Gemahl zu. Margret räusperte sich und sie beide sahen die Magd an.
»Ihr solltet schlafen Lady Cassandra. Ihr habt eine Menge erdulden müssen«, sagte sie vorsichtig.
»Ich bin keineswegs müde«, erwiderte die Landgräfin und lächelte Margret an.
Sicher trug das Adrenalin, das durch Cassandras Venen strömte, Schuld daran und morgen würde sie möglicherweise schwächer sein. Die Dienstmagd zog sich zurück und auch von Julamine war nichts mehr zu sehen. Das Paar genoss sein Elternglück in aller Ruhe und Zufriedenheit. Aydan schlief in Cassandras Arm und sie sah James an.
»Möchtest du ihn halten?«, fragte sie leise.
»Sehr gern«, antwortete James und hob seinen Sohn vorsichtig aus ihrem Arm.
Liebevoll legte er ihn an sich und sah Aydans dunkles Kopfhaar an. Behutsam streichelte er sein Köpfchen und bemerkte nicht, wie Cassandra einschlief. Die Ausstrahlung des kleinen Menschen in seinem Arm hypnotisierte ihn und er schmunzelte, als Aydan den Mund weit zum Gähnen öffnete.
»Sieh ihn dir nur an«, murmelte er und sah zu Cassandra. Sie lag da und schlief. Der Schweiß hatte ihr Haar durchnässt und ihre vielen Verletzungen verliehen ihr eine morbide Schönheit.
Kratzer und Schnittwunden schmerzten bestimmt und James erhob sich. Er legte seinen Sohn neben Cassandra ins Bett und baute aus zwei Kissen einen kleinen Wall, wodurch er nicht herausfiel. Eilig, jedoch lautlos, verließ er das Gemach und wandte sich dem Kinderzimmer zu. Er wollte die Kinderwiege holen, damit Aydan die ersten Nächte bei ihnen schlafen konnte. Dann erreichte er das Kindergemach und sah sich in dem dunklen Raum um. Seine geschärften Sinne machten die Wiege schnell aus und er schritt zu ihr. Er nahm sie mit einer Hand hoch und trug sie zu seinem und Cassandras Gemach. In der Tür stehend musterte er seine Gemahlin und seinen Sohn. Endlich, nach so vielen Jahren, hatte er wieder eine Familie und war glücklich. Das Leben mit Unmengen von Alkohol und Schlägereien hatte er hinter sich gelassen und war Vater geworden.
In einem wehmütigen Moment wünschte er sich, dass seine Eltern es noch hätten erleben können. Aber sie waren schon Jahrzehnte tot. Auch James war nun in einem Alter, in dem man normalerweise alt und gebrechlich ist, doch sein Fluch hatte es verhindert. Seufzend schaffte er das Bettchen in sein Gemach und stellte es neben das große Bett. Behutsam nahm er seinen kleinen Erben hoch und legte ihn die Wiege, er deckte ihn zu und sanft küsste er die Stirn des Kindes. Ohne sich selbst zu waschen, entkleidete James sich und gesellte sich zur Gräfin. Sie war nackt unter der Decke und er lehnte sich an sie heran. Sie war heiß und atmete schnell. Besorgt musterte er sie.
»Cassandra?«, flüsterte er und stupste sie sachte an. Seine Gemahlin reagierte nicht.
»Cassandra?« Er wurde lauter und rüttelte sie leicht, doch noch immer zeigte sie keine Reaktion. »Margret!«, rief er, in der Hoffnung, dass die Magd ihn hörte.
Er selbst stand auf und kleidete sich wieder an.
Panisch sah James seine Gemahlin an und hoffte, dass sie aufwachen würde. Der Graf hörte die Schritte der Magd, die sich eilig seinem Gemach näherten, und riss die Tür auf, als sie gerade zum Klopfen ansetzen wollte.
»Ihr habt gerufen Herr«, sagte sie atemlos.
»Cassandra ist nicht bei Bewusstsein und glühend heiß«, erwiderte er, »Bitte seht sie Euch an.«
Er machte Margret Platz, um sie einzulassen und wieder galt sein Blick seiner Gräfin. Erst so kurz war sie bei ihm und jetzt, so dachte er, würde er sie verlieren. Die Magd ging an das große Bett und legte ihre Hand auf Cassandras Stirn. Sie war heiß und Schweiß drang aus ihren Poren.
»Wir müssen so schnell wie möglich einen Arzt kommen lassen. Ich fürchte, sie leidet am Kindbettfieber«, sagte Margret und sah James vorsichtig an.
»Julamine!«, er schrie beinahe und wieder näherten sich eilige Schritte.
Die Werwölfin stand schließlich in ihrer menschlichen Gestalt vor ihm und sah ihn fragend an. Sie war eine hübsche Dame. Langes rotes Haar, zierliche Gestalt und Iriden so klar wie ein Bergsee. »Holt einen Arzt. Reitet ins Dorf und holt ihn so schnell wie nur möglich«, bat James heiser.
Tränen füllten in seine Augen.
Noch vor Kurzem hatte er allem furchtlos entgegengesehen und nichts hätte ihn verunsichern können. Aber jetzt, wo Cassandra an diesem Fieber litt, war er nicht er selbst. Er wandte sich wieder der Schlafstatt zu und sah, dass Margret die Decke über Cassandras Beinen lüftete.
»Herr ich fürchte, wir vergaßen etwas.« Sie hob ihren Blick von der Scham der Adligen und sah ihn an.
»Was?« James näherte sich dem Bett und nahm auf der Bettkante Platz.
»Die Nachgeburt«, antwortete Margret und tastete vorsichtig den, noch immer geschwollenen, Bauch der Gräfin ab. »Holt sie heraus, egal wie.«
Die Magd schüttelte leicht den Kopf.
»Wir sollten auf den Arzt warten, ich möchte Eurer Gattin nicht wehtun. Sie ist zu stark verletzt«, widersprach sie James zum ersten Mal, seit sie in seinem Dienst stand.
Der Graf raunte und streichelte Cassandras Haar. »Du darfst mich nicht verlassen, bitte tu mir das nicht an«, flüsterte er ihr zu.
Quälend langsam verging die Zeit. Sekunden wurden zu Minuten, Minuten wurden zu Stunden und die Gräfin regte sich nicht. Verzweifelt musterte James die junge Dame im Bett und seine Sorge wuchs ins Unermessliche. Schwerfällig sank seine linke Hand auf ihre, während seine rechte weiter ihr Haar streichelte. Ihre Haut war eiskalt. Glücklicherweise schlief Aydan selig in seiner Wiege. Denn James wusste nicht, ob er in der Lage war sich in diesen Augenblicken um seinen Sohn zu kümmern. Der Hass auf Cyrus keimte einmal mehr in ihm auf und er hoffte, dass auch er seine Chance auf Rache bekommen würde. Er hatte das Gefühl, dass die Zeit nicht verging, und sah die Magd an. »Wo bleibt dieser gottverdammte Arzt?«, herrschte er sie laut an, sodass sie zusammenzuckte.
»D-da-das weiß ich nicht, Herr.«
Ihre Stimme zitterte und sie wog sich in der Hoffnung, dass er sich nicht noch mehr aufregte.
~ Cassandra ~
Die Gräfin war gefangen in ihrem Fieberwahn. Vor sich sah sie ihren Sohn und James, sie wollte nach ihnen rufen, doch bekam sie keinen Ton heraus. Sie hörte die Sprachmelodie ihres Gemahls, aber noch immer brachte sie kein Wort über ihre Lippen.
Schritte näherten und entfernten sich, Stimmen sprachen leiser und lauter. Und auf einmal polterte James drauf los.
»Wo ist dieser Kerl?«, fragte er ungehalten.
»Er verschwand«, antwortete ein Herr.
»Wie kann ein Jäger, dem ihr die Glieder ausgerissen habt, verschwinden?«, wollte er erfahren.
Zu gern hätte Cassandra etwas gesagt, nur die Schmerzen und die Hitze, die von ihrer Körpermitte ausgingen, nahmen ihr jegliche Kraft. Ihre Arme und Beine waren schwer wie Blei. Das Ticken der Wanduhr war ohrenbetäubend, jedes noch so leise gesprochene Wort ebenfalls. Sie spürte, dass ihr Atem schnell ging und doch flach war.
»Ich weiß es nicht. Er lebte nicht mehr James und löste sich einfach auf.«
Cassandra erkannte, dass es Calebs Stimme war. Weitere Schritte näherten sich.
»Endlich seid Ihr da«, hörte sie James.
»Verzeiht Graf von Avabruck, aber mein Pferd lahmte im Schnee«, entschuldigte sich jemand.
Sie wusste, dass sie ihn bereits einmal vernommen hatte, gleichwohl erinnerte sie sich nicht an den Herrn, dem sie gehörte.
»Wie lange ist sie schon nicht mehr bei Bewusstsein?«, fragte die Stimme.
»Seit zwei Stunden, ich dachte, sie wäre eingeschlafen«, antwortete James.
Die Schritte näherten sich dem Bett, in dem sie lag. Cassandra fühlte eine eiskalte Hand auf ihrer Stirn und empfand es als Erleichterung Kühlung zu erlangen, denn ihr war unnatürlich heiß. Sie versuchte zumindest zu stöhnen, doch noch immer drang kein Laut über ihre Lippen.
»Ich nehme an, dass sie am Kindbettfieber leidet, aber das hat in ihrem Fall viel zu zügig eingesetzt«, erklärte die Stimme.
»Meine Magd sagte, dass die Nachgeburt vergessen wurde, nachdem unser Sohn das Licht erblickte«, entgegnete James.
»Dann muss ich sie so schnell, wie möglich entfernen sonst entzündet sich der Uterus der Gräfin und sie kann daran sterben.«
»Bitte tut alles, was Ihr könnt. Ich möchte meine Gemahlin nicht verlieren.«
»Ich werde tun, was in meiner Macht steht«, erwiderte der Herr und lüftete die Decke über Cassandra.
Sie spürte die frische Luft auf ihrer fiebrigen Haut und wiederholt war es eine Erleichterung Kühle auf ihrem erhitzten Leib zu fühlen.
Die Gräfin fühlte eine Hand auf ihrer Stirn und wieder hörte sie James flüstern.
»Bitte verlass mich nicht meine Schöne. Du musst bei mir bleiben.« Seine Stimme brach beinahe. »Ich weiß nicht, wie ich ohne dich leben soll.«
Zu gern hätte sie seine Wange gestreichelt und ihn geküsst, um ihn zu beruhigen, doch noch immer waren ihre Glieder schwer wie Blei und sie konnte sich nicht bewegen. Sie spürte die Faust, die kräftig auf ihren Bauch drückte und wieder war der Druck auf ihren Unterleib da. Man versuchte etwas aus ihr heraus zu bekommen und sie erinnerte sich, dass Margret und auch dieser Herr von der Nachgeburt gesprochen hatten. Es war schmerzhaft, aber es war nötig, sie herauszuholen sonst würde sie sterben und das wollte Cassandra nicht. Sie wollte Aydan aufwachsen sehen und ihr Leben mit James verbringen.
In den letzten Wochen hatte sie häufig darüber nachgedacht sich von ihrem Geliebten wandeln zu lassen, damit sie wirklich die Ewigkeit miteinander teilen konnten. Cassandra hatte deswegen nie mit ihm gesprochen, weil sie Angst vor seiner Reaktion hatte und zurzeit hätte sie ihn zu gern darum gebeten. Werwölfe waren nicht anfällig für die einfachen Erkrankungen, die Menschen schon dahinrafften. Der Druck ließ nach.
»Die Plazenta ist draußen. Ihr müsst der Gräfin viel Flüssigkeit einflößen und sie kühlen. Jetzt bleibt nur die Hoffnung, dass sie wieder genesen wird«, sagte die Stimme.
»Vielen Dank Doktor«, erwiderte James.
»Wenn Ihr es wünscht, werde ich bleiben, um nach Eurer Gemahlin zu sehen.«
»Das ist nicht nötig. Sollte es ihr schlechter gehen, lasse ich nach Euch schicken.« Es war der unverkennbar bestimmte Ton von James, den er angeschlagen hatte.
»Sehr wohl Graf.«
Die Schritte entfernten sich und Cassandra lag weiterhin regungslos im Bett, gefangen im Delirium.
~ James ~
Die ganze Nacht hatte James an Cassandras Seite gesessen und sie beobachtet. Sie hatte nur wenige Regungen gezeigt und gelegentlich leise aufgestöhnt. Es machte den Grafen wahnsinnig, dass seine geliebte Gemahlin so leiden musste. Er fragte sich, wie es sein möglich war, dass das Kindbettfieber bei ihr so zügig ausgebrochen war, und wollte nicht recht an die Diagnose glauben, die der Arzt gestellt hatte.
Keine Dame erkrankte so schnell nach der Geburt an diesem Fieber und James dachte weiter nach. Konnte es sein, dass sein Fluch auf sie übergegangen war und sie es deshalb hatte? Es war die einzig logische Erklärung für ihn, denn auch er hatte vor so vielen Sommern daran gelitten, als der Unsegen ihn befallen hatte. Voller Sorge musterte er seine Gattin und streichelte vorsichtig ihre Wange. »Bitte wach auf meine Schöne«, flüsterte er besorgt.
Diese junge Frau hatte seinem Leben einen neuen Sinn gegeben, er war nicht mehr gelangweilt und lethargisch. Durch Cassandra hatte er endlich wieder Freude hieran gefunden.
»Ich wünschte, ich könnte dir helfen.«
Seine Stimme war nicht lauter, als ein Flüstern, und eine einsame Träne bahnte sich ihren Weg über seine Wange. Der sonst so starke Graf war in den letzten Stunden zu einem Schatten seiner selbst geworden. Margret betrat das Gemach mit einer Karaffe Wasser, ein Kelch stand noch immer auf dem Nachttisch.
»Herr?«, fragte sie leise.
James sah auf und die Magd an.
»Herr für Euren Sohn wäre es gut, wenn Ihr Euch um eine Amme bemüht. Wenn die Gräfin nicht bald erwacht wird er verhungern.«
James Kiefer mahlte und er senkte den Blick auf seine Faust, die er soeben geballt hatte. »Ich bin mir sicher, dass meine Gemahlin erwachen wird, aber ...« Er seufzte. »Bitte kümmert Euch um eine Amme, Margret.«
»Sehr wohl Herr«, sie schenkte Wasser ein und reichte dem Grafen den Kelch.
Dankbar nahm James ihn an und schob seine Hand vorsichtig unter Cassandras Kopf. Sanft hob er ihn an und setzte das Trinkgefäß an ihre leicht geöffneten Lippen an, um ihr etwas Flüssigkeit einzuflößen. Die Dienstmagd machte einen Waschlappen nass und legte ihn auf die Stirn der Gräfin. Dann heftete er seinen Blick erneut auf die junge Frau, die regungslos, im Bett lag. Irgendetwas sollte er doch tun können, dass es ihr bald wieder besser ging.
»Herr?«, fragte Margret schüchtern.
»Ja Margret?«
»Ihr müsst schlafen und stark für Euren Sohn sein. Wenn Lady Cassandra erwacht, werde ich Euch sofort wecken.«
»Ich kann nicht schlafen, wenn ich weiß, dass es ihr schlecht geht«, murmelte er und verdrängte die Tränen ein weiteres Mal.
Einige Strähnen fielen ihm ins Gesicht, die das Lederband nicht hatte halten können, und verliehen seiner traurigen Erscheinung noch einen mitleiderregenden Akzent. Tiefblau waren die Ringe unter seinen Augen, doch so übernächtigt er war, er konnte und wollte seine geliebte Gräfin nicht allein lassen. Vorsichtig legte die Dienstmagd ihre Hand auf seine Schulter.
»Ich mache mir Sorgen um Euch, Herr«, sagte sie leise.
»Eure Fürsorge in allen Ehren, aber ich kann nicht«, widersprach James.
Margret seufzte und nickte knapp. Sie war bloß die Magd und wollte deshalb nicht respektlos werden, immerhin war sie auf ihren Lohn angewiesen. Aydan gluckste in seiner Kinderwiege und drohte jeden Moment zu schreien, weshalb die Magd ihre Hand von James‘ Schulter zog und um das Bett herum ging. Vorsichtig nahm sie den kleinen Erben Avabrucks hoch, als sie vor der Wiege stand, und musterte ihn. Sie erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen, dass sie Mira das erste Mal im Arm gehalten hatte und nun war ihre Tochter mit irgendeinem Herrn durchgebrannt und hatte sich nicht mehr gemeldet. Nicht mal einen Brief hatte dieses undankbare Kind geschrieben, dabei hatte Margret alles für sie getan. In diesem Augenblick stellte die Magd sich die Frage, ob sie etwas falsch gemacht hatte in der Erziehung Miras. Ein leises Stöhnen ließ sie und James zur Gräfin blicken. Cassandra bewegte unmerklich ihren Kopf und ihre Lider flatterten. In den bordeauxfarbenen Laken sah sie aus wie eine Marmorstatue, die zum Leben erwacht war. Ihr Atem ging schwer und James starrte sie an.
»Meine Schöne«, hauchte er und streichelte sanft ihre Wange.
Cassandra stöhnte schmerzvoll auf und ihr Ausdruck verriet, dass sie die Zähne zusammenbiss. Kleine Schweißperlen standen auf ihrer Haut und ihre Temperatur nahm rasch zu.
»Sie hat Fieber«, sagte James laut genug, dass Margret es hören konnte.
Der Graf zog die Decke zurück, der Schnitt an ihrem Oberkörper schien entzündet zu sein, denn um die Schnittstelle hatte sich eine rote Umrandung gebildet. Vorsichtig glitten die Finger seiner linken Hand an der Schnittwunde entlang und er ertastete die Hitze, die die Verletzung ausstrahlte. Er dachte nach und im nächsten Augenblick ließ ein gellender Schrei ihn zusammenzucken. Cassandra bäumte sich auf und schrie so laut, dass einem das Mark in den Knochen erfror.
~ Cassandra ~
Ihr Schrei tat selbst ihr in den Ohren weh, doch verstummte sie einfach nicht. Die Schmerzen waren viel zu groß und sinnesraubend. Sie wusste nicht, was in ihr vorging, bloß diese Hitze raubte ihr den Verstand. Cassandra spürte, dass ihr Körper sich veränderte und sie merkte das unkontrollierte Zucken ihrer Glieder, das plötzlich eingesetzt hatte. Der kalte Lufthauch an ihrer Haut ließ sie erzittern, aber ihre zuckenden Gliedmaßen hielten nicht still, auch nicht, als sie James‘ kraftvollen Griff um ihre Arme fühlte. Sie hörte Aydan schreien.
Ihre Beine strampelten wie wild und es erschien ihr, als würde sie von innen heraus verbrennen. Sie bäumte sich auf und ihre Schreie verstummten immer noch nicht.
»Holt Caleb her«, drang James‘ aufgebrachte Stimme an ihr Ohr.
Sie vernahm keine Antworten, ebenso wenig Schritte. Mit wem hatte er gesprochen? Vielleicht war es ein Bediensteter gewesen, dachte sie. Cassandra hörte ihren Gemahl murmeln.
»Was ist es nur, was mit dir geschieht, meine Schöne?«
Zu gern hätte sie geantwortet, dass sie es selbst nicht wusste. Ihre Lider waren schwer wie Blei und sie schaffte es nicht sie zu öffnen, bis eine erneute Hitzewelle über ihren Körper hinweg rollte. Die Gräfin riss die Lider auf und starrte ihren Mann an, weiterhin schrie sie und wurde nicht heiser. James schreckte zurück.
»Deine Augen«, sagte er erschreckt und blickte sie mit aufgerissenen Iriden an.
Sie spürte, wie etwas ihre Luftröhre hinauf kroch und sich ausbreitete, in ihr stieg Panik auf, dass sie ersticken könnte. In ihrem Kopf hallte immer nur eine Frage wider: »Was ist das?«
Mit einem Mal erstickten die Schreie und ein kehliges Grollen rollte ihre Kehle hoch. Cassandra wusste nicht, was geschah, das eigene Knurren verängstigte sie und Panik ließ ihr Herz schneller schlagen.
»Was ist los James?«, drang Calebs Stimme an ihr Ohr.
»Sieh sie dir an«, erwiderte der Angesprochene und starrte ihn an.
Calebs Blick richtete sich auf Cassandra und auch er schnappte nach Luft.
»Gelbe Augen«, presste er verblüfft hervor, fast durch ihr Dröhnen übertönt.
»Sie verändert sich«, sagte James, der ebenso überrascht, wenn nicht gar ängstlich, seiner Gemahlin gegenüberstand.
Zu gern wollte sie fragen, was er meinte und dann fielen ihr Calebs Worte wieder ein. Von gelben Iriden hatte er gesprochen und sie merkwürdig angesehen. Aber warum hatte sie diese? Die einzigen Wesen, deren Augen so schienen, waren ... Werwölfe, die sich zum ersten Mal wandelten. Doch die Mondphase musste vorüber sein und es war helllichter Tag, wie der Lichteinfall ihr verriet. Ein stechender Schmerz durchschnitt ihre Gedanken und aus ihrem Knurren wurde der gequälte Schrei eines Tieres. Die Gräfin sah auf ihre Hände und erschrak. Ihre Finger wuchsen zu Klauen und aus ihren Fingernägeln wurden scharfe Krallen. Ein Stechen durchfuhr ihren Kiefer und instinktiv tastete sie mit ihrer Zunge ihre Zähne ab. Verunsichert schlug sie ihre Pranken vor ihren Mund und riss die Augen auf. Schweiß quoll aus ihren Poren, als die Verwandlung weiter fortschritt und sie furchtbare Qualen litt. Ruckartig setzte sie sich auf, ihre Blöße war ihr egal und die Herren schien es nicht zu stören. Warum auch? Schließlich machten sie einmal im Monat alle dasselbe durch. Ein knackendes Geräusch ließ die Anwesenden zusammenzucken und Cassandra verdrehte gequält die Augen, als sie zurück aufs Bett fiel. Ihre Wirbelsäule war gebrochen und sie spürte, wie sie sich neu anordnete. Ihre Füße veränderten sich und nahmen die Form von Wolfsklauen an. Unter ihren Händen konnte sie fühlen, dass ihre Kiefer sich neu formten und verlängerten. Sie wandelte sich. Ihr widerfuhr etwas, das nie hätte geschehen dürfen. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie durch ihre Schwangerschaft den Fluch auch auf sich gezogen hatte, aber warum sie sich nun verwandelte, wusste sie nicht. Ein letztes Mal dachte die menschliche Cassandra, ein weiteres Mall wimmerte sie und schließlich ... war dort nichts anderes mehr als Jagdlust.
Nach quälenden, schier endlosen, Minuten lag ein Werwolf auf den bordeauxfarbenen Laken und knurrte. Ihre Sinne waren geschärft und sie sah James durch ihre gelben Augen an. Die beiden Herren starrten sie noch immer an, als sie auf einmal auf ihre vier Beine kam und die Zähne fletschte.
»Ganz ruhig Cassandra, wir werden dir nichts antun«, sagte James deutlich.
Der schwarze Wolf wandte sich ab und sah die Wiege. Ein Glucksen drang daraus hervor und sie witterte die leichte Beute. Mit aufgestellten Nackenhaaren schlich sie sich an das Bettchen. Tief sog das Tier den Duft des Kindes ein und machte sich zum Absprung bereit. Der schwarze Lykanthrop setzte zum Sprung an, als hinter ihr ein donnerndes »Nein« ertönte.
Ein Schrei zerriss die Stille. Das Baby weinte und wollte beruhigt werden. Sie sah ihre Chance und steckte die Schnauze in die Kinderwiege. Cassandra versuchte den kleinen Arm zu schnappen, als sie auf einmal von einem braunen Ungetüm zur Seite gestoßen wurde. Caleb sah seinen Kameraden an, der sich binnen Sekunden verwandelt hatte und nun seine Gemahlin am Boden hielt. Die Wölfe rangen miteinander, fletschten die Zähne und knurrten sich an. Der Freund der Familie sah seine Chance und sprang eilig aufs Bett, er kroch zur Wiege und holte Aydan heraus. Die Werwölfe waren glücklicherweise so sehr beschäftigt, dass sie ihn nicht wahrnahmen und so rutschte er zur Bettkante zurück und verließ das Gemach mit dem Baby.
~ James & Cassandra ~
Cassandra schaffte es in ihrer wölfischen Gestalt ihren Gemahl abzuwerfen und kam auf alle viere. Sie bäumte sich auf, um monströser zu erscheinen und knurrte ihn zähnefletschend an. James, der auch als Wolf größer war als sie, baute sich ebenfalls vor ihr auf.
Minuten vergingen, während sie einander knurrend musterten. Langsam begannen sie sich zu umkreisen, gelbe Augen starrten in grüne, abwartend was der vermeintliche Feind, als Nächstes tun würde. Ein Luftzug zog Cassandras Aufmerksamkeit auf die Tür und sie wandte sich dahin um. Ohne, dass James reagieren konnte, rannte der schwarze Lykanthrop los und sprang auf den Korridor. Der braune Werwolf folgte ihr und versuchte sie zu bremsen, doch da ertönte schon der Schrei eines Mannes in der Eingangshalle.
Tief schlug Cassandra ihre Fangzähne in das Fleisch des Bediensteten und riss es von seinen Knochen. Knurrend baute James sich hinter dem fressenden Wolf auf und vergrub seine Zähne in ihrem Genick, kraftvoll zog der Alpha des Hauses sie von ihrem Opfer weg, was sie wimmern ließ. Die Haustür stand offen und vermutlich hatte Cassandras Beute gerade erst das Herrenhaus betreten. Zumindest ließ seine Kleidung darauf schließen. Der braune Lykanthrop zerrte den Schwarzen zur Tür hinaus und warf ihn die Stufen herunter. Ein lautes Knurren und Cassandra kam wieder auf ihre Pfoten. Ohne nachzudenken, wandte sie sich ab und rannte los, die vielen Gerüche und Eindrücke brannten sich sofort in ihr Gedächtnis, auch wenn sie ihr völlig fremd erschienen.
Hinter sich hörte sie James heulen und schwere Pfotenschläge, die ihr folgten. Unbedingt musste sie ihren Verfolger abschütteln, denn sie verlangte danach, allein zu sein. Jagen, einsam durch die Wälder Avabrucks streifen und Beute reißen. Der Duft des Blutes hatte sie rasend werden lassen, der Geschmack ihren Blutdurst geweckt und diesen wollte die Gräfin stillen. Ihr empfindlicher Geruchssinn witterte ein verletztes Tier oder einen Bauern, der Geruch war kaum zu unterscheiden für sie. Es war ihre erste Verwandlung in einen Wolf. Ihre Pfoten trugen sie näher an den angrenzenden Forst und der schwere Duft des Mooses stieg ihr in die Nase. James verfolgte seiner Gemahlin. Er kannte diese Gegend besser als jeder andere Mensch oder Monstrum. Immerhin war er hier aufgewachsen, und seit ihn dieser Fluch ereilt hatte, war er immer in den Wald geflohen, um dort seinen tierischen Instinkten zu folgen. Es war kein Vollmond, seine Verwandlung war freiwillig erfolgt und so konnte er noch menschlich denken. Er fragte sich, wohin Cassandra lief und ob sie eine weitere Person riss. Der Graf war erleichtert, dass er es hatte verhindern können, dass sie Aydan angriff, ganz gleich das es ein Opfer erfordert hatte. Er hatte den Herrn, den sie getötet hatte, nicht mehr erkannt, so sehr hatte sie ihn entstellt und er bedauerte es. James wollte sie nicht allein auf die Jagd lassen, obwohl es schwer sein würde sie aufzuhalten, wenn sie erst einmal im Blutrausch war.