~ Cassandra ~
Cassandra erwachte, als sie die Pferde wiehern hörte. Normalerweise vernahm sie es nicht bis ins Gemach, doch scheinbar hatte die Schwangerschaft ihre Sinne geschärft.
Das Baby schien besonders zu sein.
Schnell erhob die Gräfin sich und ging ans Fenster, sie öffnete es und streckte den Kopf hinaus. Seufzend zog sie sich zurück in die Wärme des Hauses. James, Caleb und Barbara waren vom Anwesen geritten und sie wusste nicht, was er nun vorhatte. Nicht einmal verabschiedet hatte er sich. Eilig legte sie einen Umhang an und lief zur Tür. Sie wollte sie gerade öffnen, als es klopfte. Langsam zog sie die Tür auf und sah in Esras Augen.
»Der Herr hat mich gebeten auf Euch aufzupassen, Lady Cassandra«, verkündete er.
Sie holte tief Luft und sah ihn verständnislos an. »Könnt Ihr mir sagen, wohin er reitet?«, fragte sie. »Er sagte nichts, außer dass dieser Attentäter nach Eurem Leben trachtet und ich deshalb vermeiden soll, dass ihr das Anwesen verlasst«, antwortete er.
Cassandra nickte, schob sich aber an dem Butler vorbei auf den Korridor.
»James sollte wissen, dass ich nicht wehrlos bin«, meinte sie und ging los. Eilig wandte er sich um und stellte sich ihr in den Weg.
»Ich muss Euch bitten in Euer Gemach zurück zu gehen«, entgegnete er.
»Ich werde nicht tatenlos herumsitzen.«
»Lady Cassandra geht zurück ins Gemach«, herrschte er sie an und sie riss die Augen auf.
Nie hatte er es sich gewagt, so mit seiner Herrschaft zu sprechen.
»Was maßt Ihr Euch an? Ich bin die Herrin dieses Hauses und mein Wort ist ebenso gewichtig wie das des Grafen«, erwiderte sie aufgebracht.
»Ich werde mich nicht über die Anweisung des Grafen hinweg setzen und Euch einer Gefahr ausliefern«, meinte er und griff an ihre Oberarme. Esra schien, trotz seiner hageren Erscheinung, über große Kraft zu verfügen, denn er schob sie problemlos durch den Korridor und zurück in ihr Schlafzimmer.
Der Butler schubste sie hinein und die Gräfin stolperte zum Bett. Ohne ein weiteres Wort zog er die Tür zu und Cassandra hörte, wie er die Tür abschloss. Sie eilte zur Tür und hämmerte gegen das Holz.
»Lasst mich heraus, Esra«, forderte sie laut.
»Es tut mir leid Mylady, aber das darf ich nicht.« »Ihr öffnet jetzt die Tür, oder ich vergesse mich«, schrie sie aufgebracht.
»Nein Mylady«, erwiderte er ruhig und fuhr fort: »Außerdem dürft Ihr Euch nicht aufregen. Denkt an Euer Kind.«
Schlagartig unterließ sie es, an die Tür zu hämmern. »Ihr habt ja recht«, murmelte sie.
Cassandra wandte sich um und lehnte sich gegen die Tür. Ihr Blick schweifte durch das Gemach. Sie sah die Fenster und schlich darauf zu. Lärm wollte sie um jeden Preis vermeiden, denn sicher stand Esra noch vor der Tür und lauschte. Es stand offen und vorsichtig kletterte die Gräfin hinaus. In ihren Pantoffeln landete sie im Schnee und sah sich um. Das Fensterglas schloss sie von außen, damit es nicht sofort auffiel, dass sie hinausgeklettert war. Eilig lief sie durch die Zentimeter hohe Schneedecke am Gebäude entlang und ihr Ziel war der Pferdestall. Ihre Hausschuhe waren schnell durchnässt, während sie durch den winterlichen Garten stapfte und das Baby bewegte sich viel. Jeder Tritt ließ die Gräfin innehalten. »Ich bitte dich, hör auf mich zu treten, wir müssen deinem Vater folgen«, sagte sie zu ihrem Bauch und streichelte ihn. Doch brachte es nichts, es trat weiter. Bisher hatte niemand sie vermisst. Cassandra erreichte den Stall nach einigen Minuten und sah sich um. Sie sah den Hengst, den sie ritt, seit sie Athene verloren hatte. Kopernikus, ein braunes Tier, kaute genüsslich auf dem Heu und sie lief zu ihm. Der Sattel war zu schwer für sie geworden und so stellte sie eine Holzkiste neben ihn, damit sie auf seinen Rücken klettern konnte. Jemand räusperte sich.
»Gräfin von Avabruck«, sagte ein Mann und sie sah sich um.
Cassandra erstarrte und sah direkt in seine grauen Augen.
»Ich muss Euch bitten mich zu begleiten«, fuhr er fort und ging auf sie zu.
»Noch einen Schritt weiter und ich werde schreien«, drohte sie.
Cyrus zog ein Röhrchen und schob einen Pfeil hinein.
»Dann werde ich Euch wohl betäuben müssen und dieses Mittel nicht besonders verträglich für eine Dame in Umständen«, erwiderte er.
»Was kümmert es Euch? Ihr wollt mich doch töten«, meinte sie.
Sie war gefangen in der Box und schluckte. »Werdet Ihr mich freiwillig begleiten?«
Die Gräfin schüttelte den Kopf. Der Jäger kam auf sie zu und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht.
»Es ist zu schade, dass Ihr ein solch störrisches Weibsbild seid«, knurrte er.
»Warum wollt Ihr uns auslöschen?«
»Weil die Welt von Abschaum wie Euch befreit werden muss und auch von Verrätern, so wie Ihr einer seid, Cassandra von Dulanis, Jägerin der Silberstreifgilde.«
»Ich bin keine Verräterin. Ich gab meine Berufung für ihn auf, weil ich ihn liebe. Könnt Ihr jemanden töten, den Ihr liebt?«, fragte sie.
Die Gräfin war den Tränen nahe. Der Jäger fasste sie ruppig an den Armen und zog sie aus der Box heraus.
»Ihr werdet mich begleiten, damit ich Euer Kind aus Euch herausschneiden kann. Solch ein Wesen darf nicht leben«, meinte er und hob seine Hand.
Er blockierte einen Nerv an ihrer Schulter und wenig später sackte sie in sich zusammen. Alles um Cassandra war schwarz geworden.
~ James ~
James und seine Freunde ritten auf Kowan zu, einer Stadt, die gerne von Monstren aufgesucht wurde, weil es dort selten Jäger hin verschlug. Die Provinzstadt gehörte zu einem Herzogtum und Herzog Xaniel kümmerte sich immer selbst um seine Angelegenheiten.
Es war kalt und der Tag wich der Nacht, als sie die Stadt erreichten. Kowan war eine hübsche Kleinstadt mit vielen Hütten aus Stein und größeren Häusern. Der Graf sah sich um.
»Caleb kennst du dich hier aus?«, fragte er seinen Kameraden.
»Ein wenig, aber Barbara wesentlich besser«, antwortete sein Freund. Er sah die Dame an, die sie begleitet hatte und sie nickte.
»Ich werde euch zeigen, wo sie sich aufhalten«, meinte sie.
Sie hatte sie bereits in diese Stadt geführt und kannte dort einige Familien, die ebenfalls unter dem Fluch litten. Barbara trieb ihren Wallach wieder an und die Hufen des Tieres wirbelten den frischen Schnee auf. Alle drei ahnten sie nicht, dass Cassandra und Cyrus sich begegnet waren. Caleb und James zogen mit ihr, sie führte sie über die Hauptstraße Kowans auf das Land. Sie ritten an zwei Bauernhöfen vorbei, bis sie vor einem Dritten ihr Ross stoppte.
»Leben sie hier?«, erkundigte sich der Graf Avabrucks.
»Ja«, nickte sie und stieg von ihrem Pferd ab.
Eilig taten die Herren es ihr gleich und folgten ihr zum kleinen Bauernhaus. Barbara klopfte an und sie hörten, wie sich im Inneren etwas regte.
»Wer erscheint zur späten Stunde?«, fragte eine männliche Stimme.
»Freunde des Mondes«, antwortete Barbara und die Tür öffnete sich.
»Asrael, es ist schön dich zu sehen«, meinte sie und umarmte den jungen Mann.
James schätzte, dass er genauso alt war wie er. »Wer sind diese Herren?«, wollte Asrael wissen. »Dies sind mein Gemahl und der Graf von Avabruck, der dich um Hilfe bitten möchte.«
Asrael sah James an und zog seine Augenbrauen hoch.
»Bitte tretet ein«, sagte er und machte seinen Besuchern Platz.
Sie ließen Barbara den Vortritt, die sich sofort ihres Wintermantels entledigte und sich nah an den Kamin setzte. Es war bitterkalt geworden. James und Caleb traten nach ihr ein und zogen auch Mäntel und Umhänge aus.
»Bitte nehmt Platz«, forderte der Bauer sie auf und sie setzten sich an einen schweren Holztisch.
Die Bänke waren einfache Kiefernstämme, die in der Mitte geteilt worden waren und auf Baumstümpfen standen. Asrael holte eine Karaffe Wasser und eine Flasche Wein.
»Der Wein ist sehr stark, deshalb verdünnen wir ihn mit Wasser«, meinte er, als er ihn in die Becher einschenkte. Schließlich nahm er Platz und sah James an.
»Graf von Avabruck, wie kann ich Euch helfen?«, fragte er.
James musterte ihn. Die braunen Augen sahen unschuldig aus, aber meist trog der Schein.
»Wisst Ihr Asrael, meine Gemahlin, sie erwartet ein Kind und ist menschlich, und ich werde von einem Jäger der Bruderschaft der weißen Eiche bedroht«, erklärte James und Asrael nickte.
»Es heißt, dass er nur von dem getötet werden kann, was er jagt und da er ... Kreaturen wie uns verfolgt, suche ich Verbündete im Kampf gegen ihn. Natürlich sorge ich dafür, dass man Euch und Eure Familie nicht gefährdet und Ihr seid auf meinem Anwesen in Avabruck willkommen. Ich würde Euch auch für Eure Hilfe entlohnen«, fuhr James fort.
»Garantiert Ihr mir, dass meiner Gemahlin und meinen Söhnen nichts geschieht?«, fragte der Bauer.
»Ich schwöre es Euch bei meinem Leben«, antwortete der Graf.
Caleb und Barbara verfolgten die Unterhaltung schweigend. Asrael überlegte eine Weile und trank seinen Wein in einem Zug leer, obwohl er ihn noch nicht verdünnt hatte.
»Seit langer Zeit habe ich mit dieser Bruderschaft eine Rechnung offen. Ich werde Euch helfen Graf von Avabruck«, sagte er und reichte James die Hand, um es zu besiegeln.
James ergriff sie und schüttelte sie kräftig.
»Ich danke Euch. Bitte brecht sobald wie möglich nach Avabruck auf und sagt Esra, dass Ihr mein Gast seid. Er wird Euch einlassen«, erwiderte James und gab ihm einen Brief. »Das ist für Esra, meinen Butler, damit er weiß, dass er Euch vertrauen kann«, fuhr der Graf fort.
»Wenn du noch mehr von uns kennst, bitte suche sie vorher auf und bitte sie um Hilfe. Wir benötigen jeden Wolf, den wir bekommen können«, wandte Barbara sich leise an ihn.
»Das werde ich«, entgegnete der Bauer und lächelte seine Freundin an.
Sie verabschiedeten sich schnell und Asrael hatte bereits angefangen zu packen, nachdem er und James sich die Hände gereicht hatten.
»Nun das war leichter als ich dachte«, sagte Caleb und sah seine Gemahlin an.
»Wohin wirst du uns nun führen Liebste?«, fragte er.
»Ich schätze, in Dulanis halten sich auch welche von uns auf«, antwortete sie.
»Das ist sehr weit weg«, mischte James sich ein. »Ich werde nach dorthin reiten und Barbara führt dich in nähergelegene Städte. Ich werde sobald wie möglich wieder nach Avabruck zurückkehren und die Wölfe mitbringen, die sich bereit erklärt haben«, meinte Caleb.
»Bitte pass auf dich auf, Liebster«, murmelte sie und streichelte seine Wange.
»Das werde ich.«
Sie küssten sich leidenschaftlich und im vertrautesten Moment löste Caleb sich von ihr, um sich auf sein Pferd zu schwingen.
»Bis bald mein Freund«, sagte er an den Grafen gewandt und trieb seinen Hengst sofort an.
James half Barbara auf ihren Wallach und stieg dann selbst auf Shadow auf. Die Finsternis war eisig und sie konnten ihren Atem sehen.
Nachdem sie am nächsten Tag das dritte Dorf verließen, waren sie zufrieden. Insgesamt hatten sich sechs Familien bereit erklärt ihnen zu helfen und zweifellos hatten sich einige von ihnen schon nach Avabruck aufgemacht. Ausgeglichen lächelte James, während er und Barbara sich auf den Rückweg machten. Da sie die ganze Nacht durchgeritten waren und sich immer mindestens eine Stunde bei den Sippen aufgehalten hatten, würden sie Avabruck erst am kommenden Morgen erreichen.
»Denkt Ihr Caleb hatte Erfolg?«, fragte James. Barbara ritt neben ihm her.
»Er ist ein äußerst begabter Redner und mit Sicherheit werden einige seinem Ruf folgen«, antwortete sie.
»Euer Wort in Gottes Ohr«, sagte er und lächelte sie an.
»Auch wenn wir keinem Rudel angehören, so halten wir Wölfe doch zusammen«, sinnierte Barbara.
Einst hatte Caleb sie gewandelt, nachdem sie sich ineinander verliebt hatten und diese Liebe hielt nun schon sechzig Jahre. Das Glück der beiden war selten getrübt worden und dasselbe wünschte James sich für Cassandra und sich selbst. Er freute sich darauf, das Anwesen zu erreichen, und sie wieder in seine Arme schließen zu können.
~ Esra & Margret ~
Esra hatte sich auf den Weg in die Küche gemacht, um mit Margret zu sprechen. Er wollte der Magd Bescheid geben, dass Cassandra keinesfalls das Anwesen verlassen durfte. Sie mussten sie unbedingt aufhalten, denn der Befehl des Hausherrn war eindeutig gewesen.
James hatte es nie geduldet, wenn man sich über eine seiner Anordnungen hinweggesetzt hatte. Esra erinnerte sich genau daran, als er einmal nicht aufgepasst hatte und der Zorn des Grafen über ihn gekommen war. Der Butler erreichte die Küche und sah Margret, die eifrig dabei war Kartoffeln zu schälen und zu schneiden.
»Hallo Esra«, grüßte sie ihn, ohne von ihrer Arbeit aufzusehen.
»Margret«, nickte er und setzte sich ihr gegenüber an den Tisch, an dem sie immer arbeitete.
Seine Fingerspitzen trommelten auf dem Holz und sie sah kurz auf.
»Sprich aus, was du zu sagen hast«, schmunzelte die Magd.
Esra seufzte und erhob sich. Er ging zur Anrichte und schenkte sich ein Glas Wasser ein, dass er sofort in einem Zug herunterstürzte. Mit dem Ärmel wischte er sich den Mund ab, jetzt wo die Herrschaft nicht anwesend war, konnte er auch er selbst sein.
Margret legte das Messer aus Hand, nachdem sie die letzte Kartoffel in den Topf geworfen hatte, und sah den Butler an.
»Esra, was ist?«, fragte sie besorgt, denn sie erlebte ihn nicht häufig so.
»Der Herr hat angeordnet, dass wir die Gräfin nicht vom Anwesen lassen dürfen, wegen des Attentäters, aber sie möchte dem Grafen unbedingt folgen. Ich habe sie nun in ihr Gemach gesperrt, aber ich glaube, es wird großen Ärger geben, wenn ich sie wieder herauslasse, sobald der Herr zurückgekehrt ist«, antwortete der Butler niedergeschlagen.
Die Magd schmunzelte.
»Ich glaube, dass er überaus dankbar sein wird, dass du sie um jeden Preis beschützt«, sagte sie. »Ich hoffe, dass du recht hast, Liebste«, erwiderte er.
Sie waren bis dato nicht lange liiert, doch über die Trauer, die Margret durchlebt hatte, weil Mira durchgebrannt war, hatten sich die Bediensteten des Hauses angenähert. Bisher wussten weder James noch Cassandra etwas darüber und sie wollten es auch weiterhin verheimlichen.
»Würdest du den Topf für mich herüber heben?«, fragte Margret.
»Natürlich«, antwortete er und nahm den großen Pott hoch.
Er hievte ihn zum Herd und setzte ihn auf die Flamme, die sie kurz zuvor entzündet hatte. Eilig füllte sie Trinkwasser in den Kessel, bis das Gemüse bedeckt war. Die Bediensteten unterhielten sich eine Weile, bis die Magd das Gespräch unterbrach. »Ich werde der Gräfin nun einen Tee bringen, sicher ist sie außer sich und wir beide wissen, wie gut der Kräutertee sie beruhigt.«
Sie lächelte Esra zu und goss heißes Wasser auf die Kräutermischung.
»Natürlich«, erwiderte er und schenkte ihr ebenfalls ein Lächeln.
Margret bereitete ein Tablett vor und legte noch etwas Gebäck auf einen Teller. Cassandra hatte eine überaus große Leidenschaft für ihre kleinen Törtchen entwickelt, die sie jeden Morgen frisch zubereitete.
»Den wirst du brauchen«, sagte der Butler und reichte ihr den Schlüssel für das Gemach. Sie nahm ihn an sich.
»Vielen Dank«, erwiderte sie und gab ihm einen sachten Kuss auf die Wange, was ihn dazu veranlasste, die Augen zu schließen. Die Magd löste sich wieder von ihm und hob das Tablett hoch.
»Ich werde sie beruhigen, falls sie außer sich ist«, meinte sie und verließ die Küche. Sie balancierte das Tablett den Korridor entlang und erreichte nach wenigen Minuten das Gemach der Herrschaft. Umständlich hob Margret das Bein und stützte es gegen die Wand, um das Tablett auf ihrem Oberschenkel abzustellen und schloss die Tür auf. »Lady Cassandra ich habe Tee für Euch«, sagte sie, als sie das Zimmer betrat, und sah sich verwirrt um. Normalerweise saß die Gräfin auf dem großen Sofa und las häufig, doch nun war sie nicht zu sehen. Ein kalter Windhauch streifte ihr Gesicht und Margret ließ das Teebrett fallen.
»Esra!«, rief sie laut.
Der Butler kam angerannt, weil ihr Ton ihn alarmiert hatte, und sah sie an.
»Was ist geschehen?«, fragte er atemlos.
Die Magd sah ihn an und er sah, wie kreidebleich sie geworden war. »Die Gräfin ist verschwunden«, antwortete sie mit zitternder Stimme.
~ Cassandra ~
Flatternd öffneten sich Cassandras Lider und sie schlug die Lider auf. Das dumpfe Licht einer Öllampe ließ sie die Augen verengen und sie spürte das Pochen in ihrem Kopf. Ihre Schulter schmerzte fürchterlich und sie sah sich um.
»Hallo?«, fragte sie schwach, ihre Mädchenstimme hallte von den Wänden wider und ihr war kalt. Schritte näherten sich und die Landgräfin biss die Zähne zusammen. Jedes Geräusch hörte sich furchtbar laut an , ebenso stieg Übelkeit in ihr auf. »Ihr seid endlich erwacht Gräfin von Avabruck«, sagte eine männliche Stimme verächtlich.
Sie wusste nicht mehr, wie sie hergekommen war und was vor ihrer Ohnmacht geschehen war.
»Wer seid Ihr?«, fragte sie und versuchte sich zu bewegen, ebenso zu orientieren, aber es gelang ihr nicht. Erst jetzt spürte sie die Fesseln, die man ihr angelegt hatte.
»Wir kennen uns Cassandra von Dulanis. Mein Name ist Cyrus und ich gehöre der Bruderschaft an«, antwortete ihr Entführer.
»Warum habt Ihr mich hergebracht?«, wollte sie wissen.
»Weil Ihr die Brut des Teufels in Euch tragt«, meinte er verächtlich.
»Mein Nachkomme ist für niemanden eine Gefahr«, sagte sie und war den Tränen nahe.
»Wisst Ihr es so genau? Habt Ihr je einen geborenen Werwolf getroffen?«, fragte er wütend und näherte sich ihr weiter.
Ihr Atem kondensierte und sie sah sich um.
»Nein, aber ich weiß, dass kein Kind eine Bedrohung ist«, antwortete Cassandra.
Cyrus trat in den schwachen Schein der Öllampe und musterte sie von oben herab.
»Ihr habt gegen Euren Kodex verstoßen, einen Lykanthropen geehelicht und nun erwartet Ihr die Brut des Teufels«, meinte er und griff in ihr Haar. Kraftvoll zog er ihren Kopf in den Nacken und zwang sie ihn anzusehen.
»Bitte verschont mich und mein Kind«, bettelte sie, nun, weinend.
»Ich verschone Verräter ebenso wenig, wie Monstren«, ätzte er und zog sie hinter sich her. Cyrus zog sie über den Boden und Cassandra erkannte, dass sie sich in einer Höhle befinden musste.
»Bitte«, flehte sie erneut.
»SCHWEIGT!«, schrie er sie an und sein Schrei hallte wieder.
Die Gräfin schloss die Lider und biss die Zähne zusammen, noch immer schmerzte ihr Kopf. Er zog sie tiefer, vermutlich war es ein alter Stollen, doch sah sie nichts, als sie die Augen öffnete.
Eine Weile später wurde es beinahe taghell und sie verengte ihren Blick. Cyrus griff an ihre Schultern und zog sie auf die Beine. Das Seil mit dem ihre Hände gefesselt waren, zog er durch zwei Ringe, die er scheinbar an der Felswand angebracht hatte. »Bitte lasst mich gehen«, sagte sie leise, als er sie angebunden hatte.
Cyrus lachte verächtlich und holte aus. Er schlug ihr mit der Rückhand ins Gesicht, Cassandra schrie und die Haut an ihrem Auge platzte auf.
»Ich werde Euch diesen Teufel austreiben«, erwiderte der Jäger der Bruderschaft und sah sie hasserfüllt an.
Seine Ohrfeige hatte ihr fast die Sinne geraubt und sie sah die Höhle nur noch verschwommen.
»Bitte verschont mich und mein Kind«, wiederholte sie ihre Bitte.
»Nein!«, herrschte er sie an und entfernte sich einige Schritte.
Cassandra blinzelte mehrmals und erkannte, dass er an ein Feuer getreten war. Ein Eisen lag dort in den Flammen und er zog es hinaus. Die Spitze des Hakens glühte und sie starrte ihn ängstlich an. Sie zerrte an ihren Fesseln, doch sie saßen zu fest. Ihr Atem beschleunigte sich um ein Vielfaches und die Tränen wollten nicht mehr versiegen.
»Bitte!«, kreischte sie beinahe und fing an zu zappeln.
Cyrus verdrehte die Augen und näherte sich ihr wieder. Den Metallhaken hielt er vor sich.
»Lasst mich Euch schreien hören«, sagte er mit einem irren Ausdruck in den Iriden und stieß die glühende Spitze an ihre Handfläche.
Ein Schrei hallte durch die Höhle, als er ihre Epidermis verbrannte. Der Jäger zog den Haken weg und riss ihr die verkohlte Haut vom Körper. Es war ein höllischer Schmerz, der nicht nachlassen wollte und Cassandra atmete schwer. Der Fötus in ihrem Leib bewegte sich hektisch und sie spürte seine Tritte und Schläge.
»Bitte lasst mich gehen«, forderte sie und der Schweiß stand auf ihrer Stirn.
Er grinste und führte den heißen Metallhaken an ihre andere Hand, auch dort verbrannte er die Handfläche und riss ihr die Haut ab, als er ihn wiederkehrend wegzog. Ein weiterer Schmerzensschrei der Gräfin war die Antwort darauf gewesen.
»Nun, da Ihr scheinbar eine Menge ertragt werde ich wohl an Eurem Oberkörper fortfahren«, sagte er und brachte den Haken wieder ins Feuer.
Cassandra schüttelte wild den Kopf und spürte, wie sich ihr Unterleib zusammenzog. Sie begann abermals schneller zu atmen und schloss die Augen. Schweigend schickte sie Stoßgebete gen Himmel, dass das Baby nun nicht das Licht der Welt erblicken sollte. Sie hörte zwar, dass Cyrus sich näherte, doch öffnete sie diese nicht. Stoff riss und ihre Angst sorgte für eine Gänsehaut auf ihrem gesamten Körper. Leise lachte der Jäger und sie schlug die Lider.
»Wenn ich jemals von diesen Fesseln befreit werde, töte ich Euch«, drohte sie und sein Messer schnitt in die Haut ihres Bauches.
Fest biss die Gräfin die Zähne zusammen und der Schmerz ließ sie abermals in die Schwärze sinken.
~ James ~
Der frische Schnee wirbelte auf unter den Hufen der Pferde. Die Kälte stach, wie tausender kleiner Nadelstiche in die Haut und der Atem kondensierte. Der Winter in Avabruck war hart und doch genoss der Graf ihn. Der Mond wurde häufig hinter den Wolken gefangen gehalten und noch war ihm eine Verwandlung erspart geblieben.
Um Cassandra zu schützen hatte er sich an Vollmondnächten trotz allem von Esra in den Keller einsperren lassen.
»Wir haben das Anwesen bald erreicht«, sagte James.
Der Schnee dämpfte das Hufgeklapper und so musste er seine Stimme nicht erheben.
»Freut Ihr Euch auf Eure Gemahlin?«, fragte Barbara.
»Mehr als das, ich sehne mich nach ihr«, antwortete er und schenkte ihr ein charmantes Lächeln.
»Ich hoffe, dass Caleb Erfolg hatte«, meinte Barbara nachdenklich.
»Wenn jemand stets erfolgreich ist, dann ist es Caleb«, erwiderte James.
Mit einem Schrei trieb der Graf seinen Hengst erneut an und Shadow legte an Tempo zu. Barbara trieb ihr Tier ebenfalls an und sie preschten durch die Landschaft Avabrucks. Ihre Gesichter wurden von Schals geschützt und bloß ihre Augenpartien waren sichtbar, damit sie sich keine Erfrierungen holten. Die Pferde schnaubten schwer, doch war es ihm egal. Er wollte so bald wie möglich Cassandra in seine Arme schließen. Sie sprangen über Schnee, der zu Hügeln aufgetürmt war, und sahen schließlich das Herrenhaus des Grafen.
»Lauf mein Freund«, trieb James Shadow an und der Hengst gehorchte.
Abermals wurde er schneller und ritt die Kiesstraße entlang. Er sah, dass Esra und Margret herausgestürmt kamen und sie vor der Tür erwarteten. Shadow stand noch nicht, da war James längst abgesprungen und lief eilig auf das Haus zu. »Esra kümmert Euch um die Pferde«, wies er seinen Butler glücklich an und marschierte weiter. »Herr?«, rief die Dienstmagd und folgte ihm. Er war bereits in der Eingangshalle, als sie ihn erreichte.
»Was ist denn Margret?«, fragte er fröhlich.
Die Magd trat von einem Fuß auf den anderen und sah ihn scheu an.
»Also ... die Gräfin ...«, begann sie und James‘ Blick durchbohrte sie.
»Fühlt sie sich schlecht?«, fragte er besorgt und wandte sich wieder um, um zu seinem Gemach zu gelangen.
»Sie ist verschwunden«, antwortete sie leise. »WAS!?«, er wirbelte herum und in ihm brodelte es.
»Die Gräfin ist verschwunden. Esra hatte sie in Euer Gemach zurückgebracht und wir unterhielten uns danach, als er in die Küche kam. Ich wollte ihr Tee bringen, öffnete die Tür und sie war nicht mehr dort«, erklärte die Magd hastig.
Der Graf ging auf sie zu und instinktiv wich sie zurück.
»Ihr müsst Euch nicht vor mir fürchten Margret«, sagte er sanfter.
»Herr es tut mir außerordentlich leid«, erwiderte sie scheu und blieb stehen.
»Sind bereits Besucher eingetroffen?«, fragte er.
Er musste so schnell wie möglich mit der Suche nach Cassandra beginnen. James machte sich Vorwürfe, dass er sie allein gelassen hatte, und wusste nicht, ob sie es ihm jemals verzeihen könnte. Ihm war bewusst, dass sie ihm hatte folgen wollen, nachdem Margret es erklärt hatte und er hoffte, dass sie nicht in Cyrus‘ Fänge geraten war. »Ja es sind vier Familien angereist«, antwortete Margret, doch hörte er ihr gar nicht richtig zu.
Dann nickte er und wandte sich ab. Er ging in sein Schreibzimmer und setzte sich an den Schreibtisch. Der Graf stützte seinen Kopf in seine Hände und schloss die Augen.
»Bitte Herr, lass sie nicht in Gefahr sein«, betete er flüsternd und wiederholte es wie ein Mantra.
James wusste nicht, wie lange er so dort gesessen hatte, als es an der Tür klopfte.
»Herr es wurde etwas für Euch gebracht, der Bote befindet sich noch im Hof«, sagte Esra leise und reichte James ein weiches Paket.
»Was ist es?«, fragte er.
»Ich habe nicht hinein gesehen«, antwortete der Butler.
James begutachtete es und fand kein Siegel darauf, es war in ein weißes Tuch eingehüllt und er zog die Kordel auf. Als der Inhalt freigelegt war, riss der Graf die Augen auf.
»Herr?«
»Schickt mir die Gäste. ALLE!«, forderte James und zog Cassandras Taschentuch aus dem Päckchen.
Es war blutbeschmiert und seine feine Nase verriet ihm, dass dieses Blut tatsächlich von seiner geliebten Gemahlin stammte.
In ihm verkrampfte alles und er starb beinahe vor Sorge. Neben dem Tuch war die Kette in dem Paket, die sie am Tag seiner Abreise getragen hatte. James schickte einige Stoßgebete zum Himmel und hoffte inständig, dass er Cassandra lebend finden würde, doch wo er suchen sollte, wusste er nicht.