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»Das dürfte wohl die verrückteste Weltraumschlacht in der Geschichte sein«, murmelte Admiral Clemons.
»Möchte der Admiral darauf vielleicht eine kleine Wette abschließen?«, erkundigte sich Leonidas.
»Wahrscheinlich besser nicht«, sagte Clemons. »Es gab noch schlimmere?«
»In den letzten fünftausend Jahren hat es nur wenige Kriege ähnlichen Ausmaßes wie den Angriff der Rangora auf die Glatun gegeben«, erwiderte Leonidas. »Aber es hat kleinere Konflikte gegeben. Während einer kleineren Auseinandersetzung zwischen den Ogut und den Nooh gab es einen Waffenstillstand, der vier Jahre dauerte. Als die Verhandlungen scheiterten, mussten sich die beiden Konfliktparteien aufgrund einer Vereinbarung im Waffenstillstandsvertrag jeweils exakt auf die Positionen zurückbegeben, wo sie sich zu Beginn des Waffenstillstands befunden hatten, und sämtliche damals herrschenden Bedingungen, einschließlich der Personalstärken und der jeweiligen Positionen, wiederherstellen. Auf beiden Seiten mussten demzufolge in zahlreichen Fällen Individuen neu einberufen und neu ausgebildet werden. Verschiedene Angehörige beider Streitkräfte mussten Zurückstufungen im Rang hinnehmen, um wieder die vor vier Jahren herrschenden Positionen einzunehmen. Vierzehn Angehörige der Nooh-Streitkräfte waren in der Zwischenzeit wegen Meuterei exekutiert worden, andere waren entlassen worden und mussten wieder in den aktiven Dienst zurückkehren.«
»Wer hat gewonnen?«, fragte Commodore Guptill.
»Der Ausgang der Kämpfe gilt allgemein als unentschieden. Aber die Nooh haben kurz darauf kapituliert.«
»Eine Verbindung mit Admiral Marchant, falls er einen Augenblick Zeit hat«, forderte Clemons nachdenklich. »Und, Leonidas, bitte die entsprechende Zitatstelle?«
»Schlacht von Zhuttev, GalDatum 12479. Und dann in 12483.«
»Daran wirst du mich vielleicht noch einmal erinnern müssen.«
»Admiral«, sagte Horst. »Vielen Dank, dass Sie uns den Transport ermöglicht haben.«
»Sie haben die Bedingungen definiert«, sagte Marchant. »Das ist der Anlass meines Anrufs. Den Rangora muss bewusst sein, dass sie sich in einer äußerst nachteiligen Lage befinden. Ich weiß, dass wir das Thema angeschnitten haben, aber ich möchte, dass Sie die noch einmal auf eine Verhandlungskapitulation ansprechen. Den ganzen Tag lang Horvath umzubringen, macht mir nichts aus, aber die Rangora mag ich allmählich trotz allem, was sie getan haben. Und das würde ein Massaker werden.«
»Die sind in dem Punkt ziemlich hartnäckig, aber ich werde das Thema noch einmal ansprechen«, sagte Horst. »Besonders, weil ich Ihre Ansicht teile. Wie sieht es bei deren Marines aus?«
»Nach allem, was ich von Admiral Clemons gehört habe, kommen die in unserem Rattennest von Tunnels nicht besonders gut voran, und sobald diese Feuerpause zu Ende ist, werden die Marines von der Troy sie von hinten angreifen. Auch in dem Punkt eine ungünstige Position für die Rangora. Falls es hilft, wären wir vielleicht bereit, uns auf etwas Ähnliches wie bei der Schlacht von Zhuttev zu einigen, aber nicht auf die verrückteren Aspekte dieser Vereinbarung.«
»Der Schlacht von …« Horst verstummte, als sich bei ihm ein Download anmeldete. Er überlegte kurz und schmunzelte dann. »Das kam mir doch gleich bekannt vor. Ja … ich werde Kontakt mit denen aufnehmen und es zur Sprache bringen.«
»Zhuttev?« General Sho’Duphuders Schuppen vibrierten. »Darauf wird selten Bezug genommen. Aber, nein, Gesandter. Ich weise den Vorschlag zurück. Tatsächlich ist auch die vorhergehende Verhandlungsposition hinsichtlich eines kompletten Rückzugs der Rangora-Streitkräfte vom Tisch. Die Kampfhandlungen werden sofort wiederaufgenommen, sobald die Shuttles aus der Kampfzone sind.«
»General, ich möchte dringend empfehlen, dass Sie das noch einmal in Erwägung ziehen«, riet Ghow Ve’Disuc. »Der Vertrag von Zhuttev ist eine absolut akzeptable Bedingung.«
»Nicht bei der augenblicklichen Streitkräftekonstellation«, widersprach Sho’Duphuder. »Ich hatte auch Kontakt mit dem Hohen Kommando. Man stimmt mir zu. Die Schlacht wird fortgesetzt, Gesandter.«
»Sehr wohl, General«, sagte Ve’Disuc. »Wir nähern uns jetzt endlich dem Tor. Also … viel Glück.«
»Es gibt da bei den Menschen ein Sprichwort«, erwiderte Sho’Duphuder. »Das Glück begünstigt den, der vorbereitet ist.«
»Da geht ein sehr tapferer Rangora dahin«, sagte Thunnuvuu Zho’Ghogabel mit leiser Stimme.
Der Shuttle passierte das Tor, und beide Gesandten schauderten, als sie auf dem Bildschirm die Taktiksituation im Glalkod-System sahen.
»Oder vielleicht … auch nicht«, flüsterte Ve’Disuc. »Oberst To’Jopeviq?«
»Darüber waren wir nicht informiert«, sagte To’Jopeviq. »Aber anscheinend hat das Hohe Kommando unsere Einschätzungen doch gelesen.«
»Verbindung mit dem Kommandeur der Rangora, bitte«, sagte Admiral Marchant.
»Auf dem Schirm, Sir …«
»Letzte Chance, General.«
»Wir setzen bereits die ersten Lenkwaffen ab, Admiral«, erwiderte General Sho’Duphuder. »Machen Sie, was Sie wollen.«
»Befehl lautet Waidmanns Heil«, sagte Admiral Marchant leise.
»Waidmanns Heil, aye. Alle Lenkwaffen volle Antriebsenergie. Mobile Einheiten folgend. Sämtliche Marines absetzen.«
»Das wird ein Blutbad«, sagte Marchant. Er lehnte sich in seinen Kommandosessel zurück, während die Grover Cleveland in Richtung auf den Feind beschleunigte. »Was für eine verdammte Verschwendung.«
»Admiral! Toraktivierung aus dem Glalkod-System.«
»Home again, home again, jiggedy jig«, trällerte Dana, als sie sich der Troy näherten. Sie hatten das Tor ein gutes Stück vor dem Rangora-Shuttle passiert.
»Wie war das?«, fragte Angelito.
»Das ist so ein Norté-Ausdruck«, sagte Dana. »Home again, home again, jiggedy jig. Riding the back of a fat little pig. Falls Ihr Implant das nicht übersetzen kann – das heißt: ›Wieder zu Hause, wieder zu Hause. Auf dem Rücken eines dicken, kleinen Schweinchens.‹ Keine Ahnung, weshalb die auf einem Schweinchen reiten, man sagt das einfach so, also fragen Sie mich nicht, was es wirklich bedeutet.«
»Okay.« Angelito nickte. »Ja, ich habe erkannt, dass es sich reimt. Wir sollen durch den Bypass einfliegen.«
»Hab’s gehört. Der Vogel gehört Ihnen.«
»Wie sagt man das? Mir zuliebe?«
»Das wäre …«, sagte Dana, und dann stockte ihr die Stimme, als ein Download einer taktischen Aktualisierung einsetzte. »O nein. O nein, nein, NEIN …«
»Wo zum Teufel kommen die denn her?«, schnaubte Admiral Clemons. »Verdammte SCHEISSE!«
Das Tor spie Rangora-Schiffe aus. Zwei Sturmvektoren, gefolgt von einer Aggressor-Gruppe nach der anderen.
»Nach Geheimdiensteinschätzungen ist das ein Großteil der noch verbliebenen Rangora-Flotte«, sagte Leonidas. »Etwa vierzig Prozent. Und die Kräfteverteilung … ist jetzt einigermaßen nachteilig.«
»Glaubst du? Dexter?«
»Unsere Lenkwaffenmagazine sind leer, Sir«, erwiderte Guptill. »Die Lasercluster sind hin, und wir rotieren immer noch. Und was das Schlimmste ist …«
»Granadica! Kannst du die Tür jetzt schließen? Bitte?«
»Sir«, warnte Guptill. »Die Shuttles?«
»Großer Gott!«
»Rangora gehen auf vollen Lenkwaffenstart«, meldete sich Leonidas.
»Ziel?«
»Wir.«
»Manöver Sechs Eins Delta«, bellte Admiral Marchant. »Sicherstellen, dass wir volle Kontrolle über sämtliche Thermopylae-Streitkräfte haben.«
»Thermopylae-Streitkräfte auf uns geschaltet«, erwiderte Captain George Whisler. »Sechs Eins Delta, aye.«
Captain Whisler, Taktikoffizier der Second Fleet, war fast ganz auf die bevorstehende Schlacht fokussiert. Gute neunzig Prozent seines Gehirns konzentrierten sich auf das komplexe System, das die Second Fleet darstellte.
Aber jeder hat diese leise Stimme tief in seinem Gehirn. Dieses kleine Kind, gewöhnlich zwischen neun und zwölf Jahre alt, das etwas gelesen oder gesehen hat, das maßgebend für seine Zukunft wurde.
Im Falle des Captains war dieser Neunjährige abwechselnd verzückt und entsetzt über die Bilder einer BBC-Sendung über die Schlacht von Trafalgar, die immer wieder an seinem geistigen Auge vorüberzogen.
Der Unterschied war, dass »Crossing the T« das Allerletzte war, was die Flotte jetzt wollte, ein taktisches Manöver, das man in jedem Handbuch der Seekriegsführung fand und bei dem es darum ging, die Fahrtrichtung der gegnerischen Flotte dank höherer Geschwindigkeit oder besserer Ausgangsposition zu kreuzen und so deren Artilleriefeuer kein Ziel zu bieten und das eigene Feuer unbehindert auf das an der Spitze der gegnerischen Formation segelnde Schiff zu konzentrieren.
Die Menschen hatten die in Raumschlachten der galaktischen Völker eingesetzten Taktiken studiert und dabei Dinge gefunden, die ihnen gefielen, und andere, die ihnen missfielen.
Das Grundkonzept war einfach. Um welche Waffe es sich auch handeln mochte – Penetratorgeschosse, Laser, Massetreiber –, drei Dinge standen immer zwischen Waffe und Ziel: Lenkwaffen, Schilde und Panzerung. Nach Ansicht der meisten älteren Offiziere war das besser als theoretische Konzepte von Flugzeugträgerschlachten der nassen Marine zu übernehmen, wo zwischen einem Flugzeugträger und einer Exocet-Rakete lediglich Lenkwaffen standen, also ein Wettstreit zwischen Phalanx und Glück.
Was in theoretischen Abhandlungen der »nassen« Navy nur selten erwähnt wurde, war, dass es noch etwas gab, was zwischen einem Flugzeugträger und einem Schiffskiller stand – andere, kleinere Schiffe. Mannschaften von Fregatten etwa waren sich dieser Tatsache freilich sehr wohl bewusst. Und deshalb bezeichneten sie sich oft als mobile Lenkwaffen-Abfangsysteme.
Alle Schiffe rotierten, um wechselnde Angriffsflächen zu bieten, und so den Schaden zu reduzieren. Da man damit rechnen konnte, dass der Großteil des feindlichen Beschusses aus einem einzigen Vektor kam, war es Standardtaktik, einen kurzen Augenblick lang den feindlichen Beschuss in einem Bereich der Schilde oder der Panzerung hinzunehmen und dann zu rotieren oder zu gieren, um das Feuer auf einen anderen Quadranten zu lenken.
Die Menschen hatten das Wissen von Glatun-Kybernetikern, die eigenen Fähigkeit und die Erinnerung an den wahren Zweck nasser Fregatten in einer Kampfgruppe kapitaler Schiffe kombiniert und all dem, quasi als Verfeinerung, noch das Konzept »Interpenetration« hinzugefügt. Jede um ein Schiff der Constitution oder der Defender-Klasse gruppierte Kampfgruppe würde nicht nur individuell, sondern zusätzlich auch um das Führungsschiff der Gruppe rotieren. Und dies nicht nur in einer einfachen Kepler-Bahn, sondern nach einem komplexen verschlungenen Algorithmus, der theoretisch ihre individuellen Chancen optimierte, den Beschuss zu überleben. Zusätzlich durchdrangen sich auch noch die Kampfgruppen selbst gegenseitig in einer höchst komplizierten Choreografie, wie sie nur im Weltraum möglich war.
Das geheime Update, mit dem die Glatun die Leistungsfähigkeit der menschlichen Streitkräfte aktualisiert hatten, wurde offenkundig, als die Second Fleet, im Wesentlichen die Summe aller mobilen Streitkräfte der Erde, sich wie eine Origamiblüte öffnete.
»Wir bekommen Beschuss von dem Sturmvektor, Sir«, meldete Captain Whisler.
»Und genau dafür ist Manöver Sechs Eins Delta gedacht«, erklärte Marchant. »Was freilich weder den Shuttles noch den Marines ernsthaft hilft.«
»Rein in die Tunnels!«, trieb General Bolger seine Leute an und sprang von der Rampe. »Wenn ihr Rangora vorfindet, walzt sie einfach nieder! Wir müssen diese Shuttles in den Weltraum bringen. Und zwar schnell. Scheiße …«
Die Thermopylae rotierte immer noch. Aus diesem Grund und vielleicht auch, weil er mit zu viel Schwung abgesprungen war, drehte der General sich in einen unbequemen Orbit. Er korrigierte mit den Anzugdüsen und setzte schließlich auf der Therm auf.
»Nächster Tunnel auf drei Komma sieben Mark vier«, sagte Colonel Grant »Boner« Threlfall. Der Chef der First Marine Division war der festen Meinung, dass jeder Marine, der zu dämlich war, den ankommenden Lenkwaffen auszuweichen, schon im Ausbildungslager hätte durchfallen müssen.
»Beeilt euch, unter die Panzerung zu kommen, Leute«, bellte er. »Hier wird es gleich ziemlich heiß.«
»Scheiße, Scheiße, Scheiße, Scheiße …«, murmelte Barnett und presste sich an die Oberfläche der Therm. Das Taktikdisplay zeigte ausschließlich Rot an. Die Lenkwaffen hatten zwar Kurs auf die Thermopylae, aber das bedeutete keineswegs, dass sie sich als Ziel nicht auch einen terranischen Shuttle aussuchen konnten. Und jeder Einzelne dieser Schiffskiller würde einen Shuttle aufreißen wie eine Konservendose … und wenn sie dann die Therm trafen, würde es auch nicht gerade angenehm sein, sich in der Nähe zu befinden.
»Treffer!«, rief DiNote. »Gaswelle …«
»Scheiiiii…«, schrie Barnett, als die Schockwelle sie traf.
Explosionen breiten sich im Weltraum nicht besonders gut aus. Auf einem Planeten ist der Löwenanteil der von der Explosion einer Fünfhundert-Pfund-Bombe oder einer Fünfzig-Megatonnen-Atombombe angerichteten Schäden immer der sich ausbreitenden Gaswelle zuzuschreiben. Im Weltraum gibt es keine Atmosphäre.
Es sei denn, natürlich, die Explosion rührt von einer kinetischen Waffe her, die einen großen Brocken Nickeleisen trifft. In dem Fall erzeugt das eine zwar sehr kurzzeitige Atmosphäre aus Nickel- und Eisenplasma, aber nichts desto weniger eine Atmosphäre.
Die Schockwelle von nicht etwa einer, sondern von Hunderten Multimegatonnen-Lenkwaffentreffern strich über die im Rückzug begriffene 142. und 143. hin. Später wurde das als »plasmaklastischer Fluss« bezeichnet.
Falls es irgendwelche visuellen Systeme gegeben hätte, die diese Plasmawelle durchdringen konnten, dann hätte das Bild ausgesehen wie unzählige Seifenblasen, die kurz in einen Feuerorkan gerieten und dann … verschwanden.
»Die sind …«, sagte Admiral Clemons und hätte sich fast übergeben. Der im Wesentlichen leere Sichtschirm – auf dem gerade noch beinahe hundert Shuttles und tausend Marines zu sehen gewesen waren – lenkte sogar von dem ständigen Poltern und Dröhnen des feindlichen Beschusses ab.
»Beide Staffeln sind von den Sekundäreffekten des feindlichen Beschusses ausgelöscht worden«, sagte Leonidas. »Das Fünfte Marine Regiment hat aus demselben Grund siebzig Prozent Verluste erlitten. General Denny ist informiert. Generale Bolger und Cortada sind gefallen. General Denny ist jetzt der ranghöchste Offizier der Marines im System. Die Verluste der verbliebenen Rangora-Streitkräfte dürften bei zwanzig Prozent liegen. Die Rotation bringt den Haupteingangsbereich der Kampfstation in Schussreichweite des Feindes. Noch zweitausend Lenkwaffen verblieben.«
»Granadica?«, sagte Clemons und versuchte, die entsetzlichen Verluste zu verdrängen. Gewinnen war im Augenblick keine Option mehr. Jetzt galt es nur noch zu verhindern, dass die Thermopylae dem Feind in die Hand fiel.
»Nicht zu machen, Admiral«, sagte Granadica. »Ich habe Mjölnir nach draußen gebracht und die Pforte teilweise zugehämmert. Aber ganz? Geht nicht. Leo. Ich brauche die Kontrolle über jeden Bot und jedes noch verbliebene schiffsähnliche Ding, das wir haben.«
»Kontrolle ist übertragen.«
»Ich gebe Mjölnir jetzt dir. Setz ihn ein.«
»Lenkwaffen nähern sich First Fleet«, sagte Captain Whisler.
»Ich frage mich, ob wir uns vielleicht ein paar davon hätten aufsparen sollen«, meinte Commodore Adam Rocco. Der Einsatzoffizier der Zweiten Flotte konzentrierte sich im Augenblick hauptsächlich darauf, möglichst viele Überlebende dieses Debakels zu bergen. »Die Sundance wurde gerade direkt von einem Laser getroffen …«
»Das macht dann sieben Indies, zwei Connies und eine Defender«, sagte Captain Whisler. »Maharashtra ist ein technisch bedingter Verlust. Der Feind hat das erkannt und sein Feuer verlegt. Etwas über zweitausend Überlebenskapseln.«
»Wenn es nur die Aggressors wären«, knurrte Admiral Marchant. »Auf Vier Drei Acht wechseln. Wir müssen die weiter verteilen. Diese SV-Laser bringen uns um.«
»Lenkwaffen absetzen?«, fragte Captain Whisler.
»Nein, noch nicht«, entschied Marchant. »Erst wenn wir das Rote in ihren Augen sehen können.«
»Wir dachten, wir wären die stählernen Kiefer«, sagte General Sho’Duphuder und beobachtete die unerbittliche Wand aus Lenkwaffen, die seiner Flotte immer näher rückte. In Anbetracht der Tatsache, dass die Menschen fast die Hälfte davon von der Erde in das System gebracht hatten, verfügten sie, sobald die Waffen einmal vom Tor weg beschleunigten, nicht mehr über genügend Treibstoff, um zu wenden und die zweite Rangora-Flotte anzugreifen. Und deshalb waren sie, obwohl das einen Overkill bedeutete, alle zu seinen Schiffen unterwegs. So wie es aussah, würde das Imperium die Schlacht gewinnen. Nicht, dass das für ihn persönlich noch von Bedeutung sein würde. Sobald die Wand aus Lenkwaffen eintraf, würde von seiner Flotte außer Plasma, sehr kleinen Bruchteilen von Schiffen und einzelnen verkohlten Karbonteilen nicht mehr viel übrig bleiben.
»Sehr teurer Köder«, erwiderte Oberst Rowwez.
»Bei Weitem zu teuer«, sagte General Sho’Duphuder. »Schiff aufgeben.«
»Sir?«, sagte Oberst Rowwez entsetzt. »Aber …«
»Alle Schiffe, Schiff aufgeben«, herrschte Sho’Duphuder ihn an. »Schiffe auf automatische Verteidigung schalten und aufgeben. Das sind Glatun-Konstruktionen. Das merkt man an der Beschleunigung. Sie werden Fluchtkapseln erkennen und denen, so gut es geht, ausweichen. Schiff. Aufgeben. Schicken Sie den Befehl!«
»Ja, Sir!«
»Ich bin mir natürlich nicht sicher«, sinnierte der General, als der Alarm zu plärren begann, »wer dann noch übrig sein wird, um uns aufzusammeln.«
Das Problem, wenn man als Präsidentin über Hyperkom verfügte, war, dass man sofort detaillierte Bilder von Zugunfällen bekam.
»Field Marshal. Schicken Sie alles, was wir im System noch übrig haben, nach E Eridani. Mir ist egal, ob es eine veraltete Korvette ist.«
»Ma’am, wenn die Second Fleet diese Schlacht nicht gewinnen kann …«, sagte Marshal Hampson, »werden wir nichts mehr haben, um Sol zu verteidigen.«
»Den SAPL, Admiral!«, brauste die Präsidentin auf. »Die Troy. Alles! JETZT! Schicken Sie die Troy, wenn wir etwas finden, womit wir sie schieben können!«
»Lenkwaffen zur Pforte unterwegs«, meldete Commodore Guptill. »Jetzt geht’s los!«
Das Haupttor stand immer noch in einem Winkel von siebenundzwanzig Grad offen, dem exakten Winkel, den richtig gemischter Beton einnimmt, wenn man ihn sorgfältig auf eine flache Oberfläche gießt.
Binnen eines Lidschlags jagten dreiundvierzig Lenkwaffen, jede mit fast zehn Megatonnen kinetischer Energie, über die Torfläche. Vierzig davon trafen das Tor selbst und schlossen es mit einer solchen Endgültigkeit, dass die gigantischen Dellen, die sie hinterließen, eigentlich »SAPL-JOB« auf seine Oberfläche hätten schreiben sollen. Aber in Wirklichkeit waren die Dellen ziemlich willkürlich verteilt.
Drei rutschten bedauerlicherweise vorher durch.
Sie mussten immer noch ein wenig manövrieren. Und sie konnten nicht direkt in den Haupthangar fliegen. Was aus der Perspektive der Rangora gut war. Wären sie einfach direkt quer durch den Haupthangar geflogen, hätten sie nur an der Innenseite von Nord Beulen erzeugt und den Innenraum der Station mit Gas gefüllt. Weder das eine noch das andere wäre für die menschlichen Verteidiger ein besonderes Problem gewesen.
Eine Kombination aus Fügung und schlechter Planung sorgte aber leider dafür, dass sie stattdessen direkt auf Horn zwei gerichtet waren. Dem Ort, wo sich in erster Linie Granadica befand.
Granadica war eine KI. Und KIs denken sehr schnell. Bedauerlicherweise hatte niemand darüber nachgedacht, nicht einmal Granadica selbst, wo exakt am Horn der Schiffsfabber nach taktischen Erwägungen untergebracht werden sollte. Deshalb »schlechte Planung«. Im Rückblick war es offensichtlich, dass man den Schiffsfabber auf der dem Tor abgewandten Seite des Horns hätte anbringen sollen. Einfach für den Fall, dass das Tor im offenen Zustand klemmte und feindliche Lenkwaffen in den Haupthangar eindrangen. Tatsächlich hätte man den Schiffsfabber unter Berücksichtigung der Scharniere und des vermutlichen Winkels einer im offenen Zustand klemmenden Tür auf der Hinterseite von Horn eins anbringen müssen. Granadica hatte auch eine entsprechende Notiz verfasst und sie über das Hyperkomnetz versandt, mit diversen Adressaten, aber ganz speziell und persönlich an den kleinwüchsigen Mistkerl, der sie ausgetrickst und veranlasst hatte, dass sie in diese Situation geraten war.
Der absolut ungünstigste Ort wäre auf der Vorderseite des Horns, direkt auf einer Linie mit dem Tor gewesen. Granadica hatte genügend Zeit gehabt, um festzustellen, dass sie nach dem ursprünglichen Plan tatsächlich dort gewesen wäre. Infolge eines Fehlers beim Bau der Energiesysteme an den Hörnern war diese Stelle besetzt gewesen. Und deshalb befand sich unmittelbar gegenüber dem Tor nicht etwa ein Schiffsfabber, sondern dort waren Kraftwerke im Wert von etwa sechs Milliarden Credits.
Granadica befand sich, je nachdem wie man es betrachtete, oberhalb oder unterhalb jener Position und ein wenig hinter dem drei Kilometer langen Horn. Was nicht reichen würde. Wenn diese Lenkwaffen das Horn trafen, würde allein schon der Plasmaschwall sie in Stücke reißen. Ganz zu schweigen von einer Unmenge nicht plasmoider Trümmer, die mit sehr hoher Geschwindigkeit im Inneren der Station herumfliegen würden.
Deshalb galt es zu verhindern, dass die Lenkwaffen das Horn trafen. Oder zumindest nichts, was wirklich wichtig war. Wie beispielsweise sie.
Kinetische Energie war kinetische Energie. Nicht elastischer Abprall. Wenn die Lenkwaffen auf irgendetwas trafen, ausgenommen Vakuum oder dünne Gase – also praktisch alles, was sich zwischen Granadicas neuer Hülle und der Tür befunden hatte –, würden sie und die entsprechende Materie zu Plasma werden. Plasma, das sich in Richtung Granadica bewegte. Aber das könnte sie möglicherweise überleben. Nicht überleben würde sie hingegen, wenn die Lenkwaffen das Horn trafen.
Und aus diesem Grund hatte Granadica jeden Bot, jeden unbesetzten Schlitten, jeden Filter, jedes bewegliche Stück Schrott im ganzen Haupthangar zwischen dem Tor und ihrer nagelneuen Hülle aufgestapelt. Im Nachhinein wünschte sie sich, sie hätten die Paw-Schlepper behalten. Das Einzige, was sich nicht zwischen ihr und dem Tor befand, war ein Schlepper der Monkey-Klasse, der sich in Reparatur befand.
Als die Rangora-Lenkwaffen durch das Tor einflogen, beschleunigte sie jeden Bot, jedes Gerät und jedes Stück Schrott in Richtung auf den relativ schmalen Spalt.
Und deshalb rasten nicht drei Lenkwaffen durch den Spalt, sondern ein gewaltiger Plasmavulkan, der aus den in Ionen verwandelten Überresten dreier Rangora-Projektile und zweihundert Stück mobilen menschlichen Geräts bestand.
Und dieser Plasmavulkan traf auf etwa zweihundert Tonnen Schrott jeglicher Art und Herkunft, einschließlich dreier großer Brocken Wandmaterial, Teilen von Rangora- und Horvath-Schiffen und vier fast vollen Schiffscontainern mit beinahe unersetzlichen Einzelteilen.
Die durch die Temperatur und die Kinetik des Plasmas stärker beschleunigt wurden, als sie es aushielten.
Die Wolke aus Material breitete sich auf eine Art und Weise vor der Plasmawand aus, dass es Argus wirklich großen Spaß machte, diese Bewegung vorherzusagen. Er war voll mit Granadica verlinkt und leicht verstimmt, als die letzten paar übertragenen Bilder anzeigten, dass er in seiner Einschätzung des Ergebnisses nur zu 99,9999436 Prozent richtig lag.
Die 0,0000564 Prozent Differenz waren ziemlich wichtig.
Weil er nämlich mit Granadica um jede verfügbare Prozessorzeit, die er je von ihr gewonnen hatte, gewettet hatte, dass sie nicht überleben würde.
Getroffen hatten Granadica anstelle dreier Lenkwaffen, die dazu imstande waren, sowohl die besten Ziele in ihrem Bereich zu erfassen als auch so zu manövrieren, dass sie entweder den Schiffsfabber trafen oder eine sehr heiße Plasmawelle mit sehr hoher Geschwindigkeit auf ihn absetzten, einige andere Dinge: ein großer, rechteckiger Brocken aus Nickeleisen, Teile eines geschmolzenen Containers und ein Haufen zu geschmolzenem Plastik und Metallschrott gewordener High-Tech-Teile, die einmal siebenhundertzwanzig Millionen Credits wert gewesen waren, sowie ein bereits verschrottetes Laser-Array vom Kreuzer Arashet der Cofubof-Klasse, das alles umhüllt von sehr heißem, aber sich verteilendem Plasma mit wesentlich geringerer Geschwindigkeit.
Der Aufprall des Wandmaterials riss jede Schweißnaht und jede Verbindung auf, die den Schiffsfabber am Horn festhielten, und richtete darüber hinaus gewaltigen inneren Schaden an, ehe es den Fabber quer durch den Haupthangar torkeln und schließlich auf der gegenüberliegenden Wand, dicht unter Bucht neunzehn, aufprallen ließ, wo er auf die zum Glück evakuierte Mannschaftsunterkunft traf. Bedauerlicherweise war dies auch der Ort, wo Granadicas KI-Kern untergebracht war.
»Leo, Schadensbericht!«, forderte Admiral Clemons.
»Dreiundfünfzig Prozent unserer Energiesysteme«, meldete Leonidas. »Achtundsiebzig Prozent unserer Manövriersysteme. Dragon Ball ist offline. Fabber offline. Alles … Beleuchtung im Haupthangar ist so stark beschädigt, dass eine Reparatur nicht mehr möglich ist. Aber das Tor ist jetzt geschlossen. Ein Öffnen ist vermutlich unmöglich, es sei denn, man schneidet es mit dem SAPL neu. Wir können sehr langsam rotieren. Besser gesagt, wir können die augenblickliche Rotation verlangsamen und leicht beeinflussen. Keinerlei Verluste, mit Ausnahme von Granadica.«
»Und Granadica?«, wollte Clemons wissen.
»Diese beschissenen ECHSENMISTKERLE! MEINE NAGELNEUE HÜLLE!«
»Ist in Ermangelung einer Werft als Schiffsfabber nicht funktionsfähig«, sagte Leonidas. »Aber sie lebt noch.«
»Ich denke, das Wort wäre … Autsch …«
»Gut«, sagte Clemons. »Und jetzt bring uns zurück in den Kampf.«
»Im Augenblick ist Mjölnir alles, was wir haben«, erklärte Leonidas.
»Das Bombardement hat nachgelassen«, sagte Granadica. »Die Crews können einen Laserkopf einsatzbereit machen. Vielleicht auch zwei. Mit etwas Glück ihn sogar ein wenig bewegen und damit zielen.« Sie stöhnte. »Ich glaube, ich muss mein Feedback-System für die Wartung überdenken. Fühlt Schmerz sich so an?«
»Wir haben nur noch weniger als die Hälfte unserer Energiesysteme«, sagte Leonidas. »Mit Rücksicht auf das Manövrieren und die Lebenserhaltung bedeutet das ein Viertel unserer Laserleistung.«
»Wie wär’s mit ein wenig Mitgefühl?«
»Bin schon darum bemüht«, sagte Clemons. »Und jetzt … Mjölnir? Was machen wir mit Mjölnir?«
»Dazu wollte ich gerade um Genehmigung bitten, Sir«, sagte Leonidas. »Mjölnir ist etwa auf halbem Weg zu seinem Ziel.«
»Und das Ziel ist …?«
»Ich meine: ›Freut mich, dass du überlebt hast, Granadica‹, ›Tut mir leid, dass du verletzt bist, Granadica‹?«
»Freut mich, dass du überlebt hast, Granadica. Tut mir leid, dass du verletzt bist, Granadica. Wir haben gerade zwei Bootsstaffeln, tausend Marines und sechs Schiffe verloren und haben Rettungsboote und Leute in Anzügen, die über das ganze System verteilt sind und keine Möglichkeit, sie zu bergen. Freut mich, dass du überlebt hast, Granadica. Und jetzt mach dich dran, dich schnell wieder zusammenzuflicken, damit du dann … alles andere zusammenflicken kannst.«
»Ja, Sir, Admiral«, sagte Granadica mit fester Stimme. »Ich verfüge noch über ein paar funktionierende interne Systeme. Wird erledigt.«
»Und das bedeutet …?«