6
To’Jopeviq unterdrückte einen Fluch. Er hasste diesen Einsatz von Tag zu Tag leidenschaftlicher. Fast so sehr wie er anfing, die Terraner zu hassen. Oder vielleicht, und dieser Gedanke ließ ihn vor Angst leicht zittern, das Hohe Kommando.
»Es muss doch eine Möglichkeit geben!«
Torangriffe waren wirklich einfach. Die Zone, durch die man eindrang, war klein, und wenn man die Fähigkeiten des Gegners kannte – und inzwischen wurde ihnen immer klarer, dass die Terraner mit ihren Fähigkeiten geradezu protzten –, war alles bloß eine Frage der Mathematik. Die Frage nämlich, wie viel Feuer man selbst schleudern konnte und wie viel Feuer der Gegner schleudern konnte.
Um die Mathematik herumzukommen, war unmöglich. To’Jopeviq war wohl bewusst, dass sie nicht sämtliche Informationen bekamen, die es über die Flotteneinheiten gab. Aber selbst wenn er die ganze noch verbliebene Rangora-Flotte gegen Terra einsetzte, stimmte die Gleichung immer noch nicht.
»Die Mathematik ist klar und eindeutig«, erwiderte Toer. Dass jedes Mal, wenn das Hohe Kommando sich über seine Analyse hinwegsetzte, eine Rangora-Flotte in Stücke geschossen wurde, hatte ihm ganz offensichtlich eine gewisse, wenn auch zwiespältige Befriedigung bereitet. »Zwiespältig« deshalb, weil ihm der Erfolg des Rangora-Imperiums wirklich wichtig war, und wenn er in solchen Dingen zu oft recht behielt, würde das am Ende dazu führen, dass auch er in Stücke gerissen wurde.
»Wir haben uns den Lenkwaffenangriff näher angesehen. In Anbetracht der Zahlen, die wir hinsichtlich der verbliebenen Glatun-Fabrikatoren und -Schiffe erhalten haben, kann die Logistik einfach nicht stimmen. Nach Joshshav sind die Glatun zur Strategie der verbrannten Erde übergegangen. Vier verbliebene Schiffsfabrikatoren. Insgesamt einhundertzwanzig andere Fabber unterschiedlicher Größe, die meisten bis zur Kapazitätsgrenze mit anderen Verteidigungsprojekten befasst. Man hätte die Fabber entweder nach Glalkod verlegen müssen – aber dann wären sie während des Transports nicht produktionsfähig gewesen –, oder man hätte die Lenkwaffen nach Glalkod transportieren müssen. Dabei ist der Frachtraum ohnehin schon knapp. Und bei all dem ist die immer stärker werdende Widerstandsbewegung der Glatun noch überhaupt nicht berücksichtigt.«
»Wer hätte schon gedacht, dass sie den Mumm dafür haben«, wunderte sich To’Jopeviq. »Ich sage es noch einmal, wir brauchen einen Plan, der im Ernstfall auch funktioniert. Einen Plan, mit dem wir die Terraner zumindest zu Verhandlungen zwingen können. Die verlangen jetzt nicht mehr unseren kompletten Rückzug, wollen aber mehrere Systeme als Pufferzone. Systeme, die dazu den Glatun übergeben und mit voller Autonomie ausgestattet werden müssten.«
»Ich bin zu dem Schluss gelangt, dass meine ursprüngliche Analyse der Terraner zwar nicht unbedingt falsch, aber unvollständig ist«, meinte Dr. Avama mit erkennbarem Unbehagen.
»Großer Tol, er gibt es zu«, sagte Toer sarkastisch.
»Wie gesagt, unvollständig«, wiederholte Avama. »Und zwar in wichtigen Punkten unvollständig. Die Rangora sind nicht monolithisch.« Er warf Beor einen verstohlenen Blick zu.
»Das ist der Kazi sehr wohl bewusst, Doktor«, sagte die Geheimpolizistin. »Ebenso wie wir auch über Ihre Beziehungen zur Friedensbewegung informiert sind. Das ist einer der Gründe, weshalb Sie dieser Gruppe angehören. Weil Sie eine andere Denkweise repräsentieren. Das ist immer gefährlich, aber das ist schließlich ein Laseremitter auch. In dieser Situation ist es genau das, was wir und das Hohe Kommando hören wollen. Andere Standpunkte.«
»Die Menschen, mit denen ich vorher zu tun hatte, waren Diplomaten«, erklärte Avama jetzt ein wenig selbstsicherer. »Sie waren sehr an Frieden interessiert. So sehr, dass sie mir gelegentlich schwach vorgekommen sind. Bewusst schwach, möchte ich hinzufügen. Frieden um jeden Preis.«
»Wahnsinn«, sagte To’Jopeviq und schüttelte den Kopf. »Jede Rasse ist auf Territorium, Macht und Kontrolle aus.«
»Ziel der Diplomatie ist es, die aggressiveren Auswirkungen dieser Einstellung zu verhindern«, sagte Avama. »Krieg, beispielsweise. Und diese Leute waren entschieden gegen Krieg und unbedingt für Frieden. Obwohl mir auf intellektueller Ebene bewusst ist, dass die Menschen auf höchst aggressive Weise Kriege gegeneinander geführt hatten, haben ihre verschiedenen … Kontrollmechanismen und die Art und Weise, wie ich diese Diplomaten erlebt habe, mein Denken beeinflusst.«
»In welcher Weise, und, viel wichtiger, hilft es uns?«, wollte To’Jopeviq wissen.
»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht«, räumte Avama ein. »Aber ebenso wie wir Rangora nicht monolithisch sind, sind die Menschen das auch nicht. Und selbst ihre Krieger äußern zumindest pro forma den Wunsch nach Frieden. Aber sie verstehen sich offensichtlich sehr gut auf den Krieg. Doch selbst das ist nur Teil des Rätsels.«
»Führt uns das weiter?«, fragte Toer.
»Lassen Sie ihn ausreden«, entschied To’Jopeviq. »Können Sie das erklären?«
»Ich habe mir deren Hypernet angesehen«, sagte Avama. »Und ich habe versucht, sie zu verstehen. Habe versucht, zu verstehen, wo ich recht hatte und wo nicht. Jeder ihrer größeren Stämme, und in Wahrheit sind das unabhängige Staatswesen, die ihrerseits aus noch kleineren Stämmen bestehen, hat eine andere Vorstellung von Macht. Die meisten dieser Stämme sind in dem Punkt tatsächlich uns Rangora sehr ähnlich. Zahlenmäßig haben diese Staatswesen, zumindest mehr als die Hälfte von ihnen, ganz gleich, wie sich ihre Staatsführung nach außen darstellt, Regierungen, die auf der schieren Macht von Individuen und Stämmen basieren.«
»Und das ist wie bei den Rangora?«, fragte To’Jopeviq und dachte dann darüber nach. »Äh …«
»Eine zutreffende Analyse«, bestätigte Beor. »Fahren Sie fort.«
»Aber diese Staaten basieren mit wenigen Ausnahmen – China ist davon eine der mächtigsten – in viel höherem Maße auf der Teilung von Macht«, erläuterte Avama. »Das zu begreifen, fällt uns Rangora sehr schwer. Nehmen Sie zum Beispiel die Vereinigten Staaten. Obwohl sowohl wir wie auch die Horvath ihnen besondere Aufmerksamkeit erwiesen haben, ist das immer noch das mächtigste Staatswesen auf Terra. Wenn man die gegenwärtige militärische Situation in Betracht zieht, muss man die Vereinigten Staaten als das zweitmächtigste Staatswesen im gesamten westlichen Spiralarm ansehen.«
»Und die Ogut?«, fragte To’Jopeviq. »Da bin ich anderer Meinung.«
»Denken Sie an unsere jüngsten Erfahrungen im Kampf gegen Terra«, gab Avama zu bedenken. »Bis jetzt handelt es sich dabei fast ausschließlich um amerikanische Streitkräfte – würde das Ihre Meinung nicht vielleicht ändern?«
»In diesem Staatswesen gibt es eine Unzahl spezieller Interessen und funktioneller Stämme, und die kämpfen ständig gegeneinander. Beobachtern von außen erscheint das als Schwäche. Und dass nahezu alle ihre Diplomaten aus einem einzigen gesellschaftlichen Stamm kommen, macht die Situation noch schlimmer. Und aus diesem Grund sieht der Betrachter von außen bloß Nachrichten, die auf ständige Kämpfe und Streitereien auf einem Niveau hindeuten, das bei den Rangora beinahe so etwas wie ein Bürgerkrieg wäre.«
»In der Kazi wundert man sich ohnehin, dass die noch keinen hatten«, schaltete Beor sich ein. »Der Ahornsirup-Krieg kam dem am nächsten, und dabei waren das bloß kleinere innere Unruhen.«
»Die im Übrigen meist falsch verstanden wurden«, ereiferte sich Avama. »Darauf will ich hinaus. Aber das ist der Blick von außen und nicht die Realität. To’Jopeviq, Sie sprechen nicht oft über Ihre Familie, aber ich vermute, dass es wie bei den meisten Familien aus der …«
»Unterklasse?«, fragte To’Jopeviq, und sein Kamm begann zu vibrieren.
»Tut mir leid«, sagte Avama. »Ja. Ich vermute, bei Ihnen ist es so wie in den meisten Familien der unteren Klassen. Groß?«
»Ich habe sechs Brüder und vier Schwestern«, erklärte To’Jopeviq.
»Auseinandersetzungen?«
»Ständig, gewaltige«, sagte er und zischte. »Besonders an den Feiertagen.«
»Da haben wir’s!«, freute sich Avama. »Ihre Familie ist wie die Amerikaner! Was passiert, wenn eine andere Familie die Ihre angreift?«
»Dann rücken wir eng zusammen und machen die fertig«, erklärte To’Jopeviq nachdenklich.
»Genau!«, sagte Avama. »Was würde passieren, wenn, was Gott verhindern möge, Ihr Vater sterben würde?«
»Er ist tot«, sagte To’Jopeviq. »Bergwerksunfall. Mein ältester Bruder hat die Geschäfte der Familie übernommen. Wenn Sie recht haben … hat es wenig Sinn, deren Führung anzugreifen.«
»Keine Chance«, sagte Avama. »Jede Lenkwaffe, die wir darauf verwenden, die amerikanische Führung zu vernichten, ist verschwendet. Ein letzter Gedanke noch. Nehmen wir an, Ihre Familie wäre groß genug, um bei einem Angriff einer anderen Familie fünfzig Prozent Verluste zu erleiden und weiterzukämpfen. Was würden die Überlebenden tun?«
»Alles was notwendig ist, um diese andere Familie zu vernichten«, erklärte To’Jopeviq. »Und tatsächlich … ist das vor gar nicht so langer Zeit passiert. Man greift den To’Jopeviq-Clan nicht an. Man weiß das in Lhoffid.«
»Sie kommen aus Lhoffid?« Toers Augen weiteten sich.
»Ja.« To’Jopeviq zischte erneut. »Haben Sie damit ein Problem?«
»Nein, Sir«, erwiderte Toer und sackte in seinem Sitz zusammen. »Wie nahe würden Sie sagen …?«
»Die Amerikaner haben im Augenblick den größten Teil des Stamms verloren, der nicht zum Krieg neigt«, sagte Avama. »Große Teile ihrer friedliebendsten Gruppen sind entweder von uns oder den Horvath ausgelöscht worden. Die Überlebenden sind ein wenig wie … gibt es Mitglieder Ihrer Familie, die … weniger aggressiv … waren?«
»Ja.«
»Wenn Ihre Familie angegriffen würde und nur die getötet würden?«
»Wenn ich an meine Schwester Faiz denke …«, sagte To’Jopeviq und strich sich über den Kamm. »Nein, ich weiß ganz genau, was wir tun würden. Es gibt Zeiten … und wenn ich das sage, fühle ich mich weniger wie ein Rangora. Es gibt Zeiten, wo wir das Gefühl haben, dass sie die Besten von uns sind. Besonders wenn sie die Einzigen sind, die uns daran hindern können, uns gegenseitig umzubringen. Ich hatte lange nicht an meine Familie gedacht, Avama. Aus naheliegenden Gründen.« Er sah zur Tür hinüber.
»Tut mir leid, Egilldu«, sagte der Analyst. »Ich war nur überrascht, das ist alles.«
»Wir würden die Familie vernichten, die der unseren geschadet hat«, sagte To’Jopeviq. »Oder selbst bei dem Versuch, das zu tun, vernichtet werden. Besonders wenn die so präzise zielen würden.«
»Bei den Amerikanern ist die … die Distanz … größer«, sagte Avama. »Aber nach meiner Analyse ist das genau die Art und Weise, wie sie reagieren. Der Stamm, der hauptsächlich hinter ihren Kriegen steht, sind die Jacksonians. Auf unseren Servern gibt es einen ausgezeichneten Aufsatz über diesen Stamm. Gewöhnlich befassen sie sich nicht mit auswärtigen Angelegenheiten. Aber wenn sie es tun, dann wollen sie den Krieg mit aller Härte führen und auch gewinnen. Keinen Verhandlungsfrieden, keine Kapitulation. Nicht in die Länge gezogen. Sie wollen das hinter sich bringen und sich wieder ihrem normalen Leben zuwenden. Sie halten viel davon, ihre Feinde zu zerschmettern und ihnen den Fuß in den Nacken zu setzen. Und dann, wenn der Feind vernichtet ist – und in dem Punkt unterscheiden sie sich sehr stark von uns Rangora –, verlieren die Jacksonians das Interesse. Dann schalten sich die anderen Stämme ein, die friedliebenderen, denen mehr am Handel gelegen ist. Und die Amerikaner geben dann gewaltige Summen aus, um ihren ehemaligen Feinden zu helfen. Die Jacksonians murren dann zwar, aber es ist ihnen nicht wichtig genug, um es zu verhindern.
Bei unseren bisherigen Angriffen sind im Großen und Ganzen jene Stämme vernichtet worden, die eher zu Verhandlungen neigen. Wir haben, aus unserem Blickwinkel gesehen, mit großer Sorgfalt speziell die Unreinheiten aus dem Metall entfernt. Wir haben sie nicht geschwächt, wir haben sie vielmehr stärker gemacht. Und sehr, sehr zornig. Ein Philosoph der Menschen, der Terraner Machiavelli – er erinnert mich an Ashoje – hat einmal gesagt: ›Füge einem Feind nie eine kleine Verletzung zu.‹ Wir haben in diesem ganzen Krieg den Amerikanern bisher kleine Verletzungen zugefügt.«
»Wir haben ihre Städte zerstört, das sind keine kleinen Verletzungen«, widersprach Toer.
»Überlegen Sie doch«, sagte To’Jopeviq nachdenklich.
»Der Jacksonians-Stamm hat seine Basis nicht in den Städten«, erläuterte Avama. »Und die sind es, die wir fürchten müssen. Sie stellen nicht die Mehrzahl der Akademiker, der Politiker oder der Medienleute. Und das sind die Leute, auf die wir bisher geachtet haben! Jacksonians stellen die Mehrheit in nur einer einzigen Gruppe: im Militär und in gewissen Landesteilen in ihrer Produktionsbasis. Wir haben den einzigen Stamm ignoriert, der in der derzeitigen Situation wichtig ist!«
»Nicht die Politiker?«, wunderte sich Beor.
»Ich nehme das zurück«, sagte Avama. »Nicht die Politiker, die uns meist negativ auffallen. Ihre Präsidentin, beispielsweise, kommt aus jener Gruppierung, und sie ist nicht nur eine Politikerin, sondern war, ehe sie ihr Amt antrat, als Akademikerin in der Politik und den Interstellaren Angelegenheiten tätig. Aber sie ist ein ungewöhnlicher Fall. Die Mehrzahl des Typus von Politikern und Bürokraten, der uns auffällt und mit dem wir interagieren, stammt aus einem Stamm, dem man in Kriegszeiten auf sehr aggressive Weise klarmacht, dass er sich gefälligst im Hintergrund halten soll.
Während der jüngsten Kriege, besonders zu Anfang des Krieges mit den Horvath, war das unmöglich. Die USA sind eine echte Demokratie, und jene anderen Stämme verfügten über genügend Macht, harte wie weiche Macht, um sich ständig in etwas einzumischen, wofür sie weder Erfahrung noch Verständnis hatten. Im Augenblick ist ihr Einfluss hinreichend gering – ihre Basis befand sich überwiegend in den Städten –, um funktionell unbedeutend zu sein, und das ist der Schlüsselfaktor, der mir entgangen war. Ich hatte mich in meiner ursprünglichen Analyse der Menschen geirrt, weil ich die Wichtigkeit – militärisch, substanziell und politisch – des Jacksonians-Stammes ignoriert hatte. Es ist so, als hätte ich in Ihrer Familie ausschließlich mit Ihrer Schwester gesprochen und alles, was sie sagte, für bare Münze genommen.«
»Das sind die Amerikaner«, wandte Beor ein. »Was ist mit den anderen Staatswesen?«
»In vielen von ihnen sind die Zustände ähnlich«, sagte Avama. »In manchen Fällen ist das nur schwieriger zu erkennen. Die meisten von ihnen sind traditionelle Feinde der Jacksonians. Aber nehmen Sie zum Beispiel die indische Kriegspartei – deren Mitglieder gehören in der Mehrheit kriegerisch eingestellten Stämmen an. Und doch kommen viele Gefolgsleute der Partei aus Stämmen, die eher wirtschaftlich oder akademisch orientiert sind, also traditionell friedliebende Gruppen. Trotzdem unterstützen sie die Kriegspartei und wählen Leute, mit denen sie sich normalerweise nicht einlassen würden, weil man traditionell der Ansicht ist, ›im Krieg soll man die Kriegstreiber an die Macht lassen‹. Darf ich ein historisches Beispiel gebrauchen?«
»Bitte«, sagte To’Jopeviq.
»Im letzten großen Krieg, dem Krieg, den die Menschen den Zweiten Weltkrieg nennen, obwohl man ihn eigentlich als Hauptabschnitt Drei des Fünfundsiebzigjährigen Krieges bezeichnen sollte, haben die Briten einen Premierminister gewählt, der jahrelang so etwas wie eine Witzfigur war. Hauptsächlich weil er einen großen Krieg vorhergesagt hatte, Geld für die Verteidigung ausgeben wollte und ständig wegen seiner kriegstreiberischen Ansichten beleidigt wurde. Er gilt immer noch als einer ihrer größten Premierminister. Aber als der Krieg zu Ende war, hat man ihm die Macht entzogen.«
»Wenn Krieg kommt, sollen die Krieger ihn führen«, sagte To’Jopeviq. »Und wenn Frieden kommt, verstößt man die Krieger wieder zurück in die Dunkelheit? Warum ergreifen die Krieger nicht einfach die Macht?«
»Die Amerikaner sind in dem Punkt flexibler«, sagte Avama. »Viele ihrer großen Generale sind später Präsidenten geworden. Der erste Präsident ihres Landes war während ihres Unabhängigkeitskrieges der Befehlshaber der aufständischen Streitkräfte. Aber er hat sich mit Erfolg dafür stark gemacht, die Macht freiwillig abzugeben. Er hätte bis zu seinem Tode Präsident bleiben können, aber er diente seinem Land nur acht Jahre als Staatsoberhaupt und ist dann in den Ruhestand getreten. Und während des Krieges, von dem ich gerade gesprochen habe, war der Präsident der Amerikaner ein Krüppel.«
»Unmöglich«, sagte To’Jopeviq und versuchte, unauffällig seine Prothese zu verbergen.
»Er litt in seiner Kindheit an einer Krankheit, bei der seine Beine gelähmt wurden«, sagte Avama. »Das steht historisch außer Zweifel. Zu der Zeit hat er sich sehr darum bemüht, dass man das nicht bemerkte, was bei den primitiven Informationssystemen damals leichter war, als es heute wäre. Aber er war ein Krüppel. Und nicht alle Staatswesen sind gleich. In manchen klammert sich nichtmilitärisches Personal an die Macht, obwohl es mental nicht geeignet ist, einen Krieg zu führen. In anderen setzt das Militär brutale Macht ein, um die Kontrolle an sich zu ziehen. Es kann auch dazu kommen, dass das Militär das Land in Krieg und Frieden kontrolliert. Aber die meisten wirklich wichtigen Staatswesen folgen dem gleichen allgemeinen Schema. Und die meisten von ihnen, alle, die dieser neuen Allianz angehören, sind Demokratien. Selbst Frankreich, und versuchen Sie erst gar nicht, all die Probleme mit diesem Land zu begreifen, hat einen ehemaligen General gewählt, der als großer Unruhestifter gilt. Ob es einen wesentlichen Beitrag leisten kann, ist eine andere Frage.«
»Ist das für uns in irgendeiner Weise hilfreich?«, fragte To’Jopeviq.
»Die Analyse ist, denke ich, für die Verhandlungsteams äußerst wichtig«, sagte Beor. »Sogar entscheidend wichtig. Denen ist wahrscheinlich nicht bewusst, dass die Leute, mit denen sie verhandeln, über keine tatsächliche Macht verfügen. Die glauben wahrscheinlich, dass ihre Verhandlungspartner aus mächtigen Familien stammen, die ein gewisses Maß echter Kontrolle über das Geschehen haben. Und sind daher der Meinung, wenn sie sie persönlich von unseren Vorstellungen überzeugen können, wird das auch zu ihren Familien und damit zu ihrem Machtzentrum durchsickern. Wenn Sie sagen, dass diese Leute aus … Stämmen kommen, die, solange eine Bedrohung von außen besteht, praktisch machtlos sind …«
»Dann könnten wir genauso gut im Vakuum verhandeln, wie sie persönlich überzeugen oder dem Umstand Beachtung schenken, dass sie den Frieden vorziehen würden«, fiel ihr To’Jopeviq ins Wort. »Aber auf unser Hauptziel hat das immer noch keinen Einfluss. Wie schaffen wir es, sie zu besiegen?«
»Damit habe ich mich auch befasst«, sagte Avama. »Bevor ich mit dieser Aufgabe betraut wurde, habe ich mich bemüht, mich so wenig wie möglich um das Thema Krieg zu kümmern. Ich befand mich genau in derselben Position wie der Stamm, der im Augenblick bei den Amerikanern nicht an der Macht ist. Aber da mir völlig bewusst ist, dass wir diesen Krieg gewinnen oder zumindest an einen Punkt gelangen müssen, wo wir die Jacksonians dazu bringen können, einen Waffenstillstand zu akzeptieren, habe ich den Krieg studiert. Mit Ausnahme der Bereiche, die sich direkt mit der Eroberung fremder Sternsysteme befassen, habe ich aber nicht unsere Art der Kriegsführung studiert. Ich habe die Menschen studiert.«
»Wir haben eine lange Geschichte der Kriegsführung«, sagte To’Jopeviq.
»Wir haben aber auch unsere Geschichte so sehr manipuliert, dass es äußerst schwierig ist, Realität und Fälschung voneinander zu unterscheiden«, wandte Avama ein. Dann wurde er blass.
»Alternative Denkmethoden, Akademiker«, sagte Beor. »Sprechen Sie weiter.«
»Und wir kämpfen gegen die Menschen, und man könnte sagen, dass sie im Begriff sind, zu gewinnen«, erklärte Avama. »Was man von uns nicht behaupten kann. Also musste ich mich fragen: ›Wie würde ein großer menschlicher General diesen Krieg gewinnen?‹«
»Was ist die Alternative«, sagte To’Jopeviq.
»Wenn ich die Konzepte der Menschen in die moderne Realität übersetze, läuft es bei den meisten von ihnen darauf hinaus, dass sie dem Motto folgen: ›Versuche zu bewirken, dass du überhaupt nicht zu kämpfen brauchst.‹ Troy, Thermopylae und jetzt Malta. Sie sind gerade dabei, eine vierte Station aufzublasen. Die wird übrigens mit Sicherheit stationär sein, weil sie nämlich zu groß ist, um durch das Tor zu passen.«
»Sehr gut«, sagte To’Jopeviq. »Das war mir übrigens aufgefallen.«
»Uns allen ist es aufgefallen«, meinte Toer unheilvoll. »Ja. Wir brauchen keine Sorge zu haben, dass eine vierte Station nach Eridani durchkommt.«
»Ich hatte gesagt, die meisten ihrer Generale würden schlicht den Rat geben: ›Versucht, nicht in diesen Krieg hineinzugeraten.‹ Aber wenn er doch geführt werden musste? Subatai, einer ihrer frühen Strategen, der vor über tausend Jahren lebte, hat gesagt: Geschwindigkeit ist eines. Überraschung ist alles. Täuschung ist alles. Völlige Skrupellosigkeit.«
»Ich mag ihn«, meinte To’Jopeviq.
»Ich würde übrigens vorschlagen, seine letzte Empfehlung aus verschiedenen Gründen zu ignorieren. Aber die anderen drei …?«
»Täuschung ist bei einem Torangriff nicht gut möglich«, gab To’Jopeviq zu bedenken.
»Nicht, wenn wir das Tor angreifen«, sagte Avama. »Die Menschen haben uns bei Torangriffen stückchenweise zerstört.«
»Die Terraner zum Angriff bewegen?«, fragte To’Jopeviq. »Wie?«
»Mehr als das«, erklärte Avama. »Man muss sie dazu bringen, dass sie mit zu schwachen Kräften durch das Tor angreifen.«
»Das ist eine … interessante Idee«, sagte To’Jopeviq. »Eine, die sich lohnt, gründlicher erforscht zu werden.«
»Das gilt auch für etwas anderes«, sagte Beor. »Wir sind uns bewusst, dass dies keine offizielle Untersuchung der Kazi, sondern lediglich eine Gruppendiskussion ist. Was hat Sie zu Ihrem plötzlichen Stimmungswechsel veranlasst? Sie haben vorhin gesagt: ›Da mir völlig bewusst ist, dass wir diesen Krieg gewinnen oder zumindest an einen Punkt gelangen müssen, wo wir die Jacksonians dazu bringen können, einen Waffenstillstand zu akzeptieren.‹ Sie sind Pazifist. Und jetzt unterstützen Sie den Krieg. Warum?«
»Ich bin Rangora«, sagte Avama. »Und das ist nicht bloß so dahingesagt, Kazi. Sie haben nicht richtig zugehört, als ich mich über die Jacksonians und ähnliche Stämme in anderen Staatswesen geäußert habe.«
»In welcher Hinsicht?«, wollte Beor wissen.
»Es ist sehr schwierig, die Jacksonians zum Verhandeln zu bewegen«, sagte Avama. »Sie glauben an den totalen Krieg und daran, dass man dem Feind den Fuß in den Nacken setzen muss. Bedingungslose Kapitulation ist das Einzige, was sie akzeptieren. Sie haben das immer noch nicht verstanden, oder?«
»Offenbar nicht«, räumte To’Jopeviq ein.
»Ich frage mich nicht unbedingt, wie man das Terranische System einnehmen kann«, sagte Avama. »Ich mache mir Sorgen darum, wie wir Rangora halten können.«
»Haben Sie Ihre Einweisung von Persing bekommen?«
Der Chefingenieur für die Bravo-Truppe war Engineer’s Mate First Class Jayson Megdanoff und trug den Spitznamen »Megadeath«. Der hoch gewachsene, stets missmutig blickende Mann schien alles andere als erfreut, ihre Bekanntschaft zu machen.
»Ja, Engineer’s Mate«, sagte Dana.
»Sie werden neue Rangabzeichen brauchen«, erklärte Megdanoff. »Sie sind jetzt wieder bei der technischen Einheit. Erinnern Sie sich noch an das, was Sie einmal gelernt haben?«
Die Werkstätte für eine Truppe wie die ihre war stets ein Durcheinander aus Werkzeugen und Geräteteilen. Die hier wirkte aufgeräumter als die Werkstatt, die Danas zweites Zuhause auf der Troy gewesen war. Thermo hatte immer genau gewusst, wo alles zu finden war, aber das Ordnungsprinzip, das dahinterstand, war allen ein Rätsel gewesen.
»Ja, Engineer’s Mate«, sagte Dana.
»Nun, wir werden ja sehen, denke ich«, erwiderte Megdanoff. »Die Abteilung Zwo hatte ziemlich viel Pech. Im Augenblick sind zwar alle Boote einsatzfähig, aber es hat ständig Probleme gegeben. Bei all den Pannen, die Apollo zuzuschreiben sind, und dem Mist, den wir von Granadica bekommen, war es ein ständiger Albtraum, diese Boote in Schuss zu halten. Dass wir bei Eroberung von Raumdock Zwo etwa ein Viertel unserer ausgebildeten Mannschaften verloren haben, hilft uns da auch nicht gerade. Und dann auch noch die Unfälle im Weltraum, während dieses idiotischen Umzugs. Im Augenblick haben wir bloß einen einzigen Engineer Trainee auf der Dreiundzwanzig, und deshalb ist jeder ausgebildete Techniker ein wahrer Segen.«
»Ich habe als Coxswain meine Technikerausbildung ständig aufgefrischt, EM«, sagte Dana. »Bloß mit dem Papierkram bin ich nicht so auf dem Laufenden, besonders nicht mit all dem Zeug, das man für die Leitung der Abteilung braucht.«
»Das sollte kein großes Problem sein«, meinte Megdanoff. »Seit wir die Implants haben, gehört das zu den wenigen Dingen, die leichter geworden sind. Im Augenblick, denke ich, sollten Sie sich Ihre Boote ansehen. Wo ist Ihr Anzug?«
»In meinem Quartier, EM«, erklärte Dana. »Offenbar gibt es irgendwelche Probleme damit, mich bei der Einheit unterzubringen, deshalb bin ich im Augenblick in der Durchgangsunterkunft. Ich werde zehn Minuten brauchen, um dort hinüberzugehen, in den Anzug zu steigen und zurückzukommen.«
»Das ist verdammt lästig.« Megdanoff blinzelte. Er zeigte zum ersten Mal so etwas wie Interesse an dem Gespräch. »Ich fürchte, es wird so nicht funktionieren.«
»Das dachte ich auch, EM«, sagte Dana und gab sich alle Mühe, nicht aufzubrausen. Die Tür ging auf, und ein hoch gewachsener, breiter lateinamerikanischer Engineer’s Mate First trat ein, ohne zu klopfen. Dana fing inzwischen an, sich daran zu gewöhnen, dass der Großteil des Latino-Kontingents etwa ihre Größe hatte. Der hier war ein Hüne von einem Mann. Einen so großen Südamerikaner hatte sie außer im Kino noch nie zu Gesicht bekommen.
»Engineer’s Mate Second Class Parker, das ist Engineer’s Mate First Class Ponce Diaz«, sagte Megdanoff. »So wie die Dinge derzeit laufen, gibt es so etwas wie eine doppelte Kommando- und Zuständigkeitsstruktur. Diaz ist mein Pendant.«
»Engineer’s Mate«, sagte Dana und nickte dem Mann zu.
»Engineer’s Mate Parker«, erwiderte der EM.
»Parker ist als UvD für Abteilung Zwo eingeteilt«, erklärte Megdanoff.
»Freu mich drauf«, sagte Diaz. »Die brauchen dort unten jemand, der etwas von der Technik versteht. Ich hab mir Ihre Unterlagen angesehen und konnte darin nichts Negatives finden. Ich freue mich darauf, mit Ihnen zusammenzuarbeiten.«
»Danke.« Dana war etwas verwirrt.
»Ponce, könnten Sie Parker zu ihrem Boot bringen?«, sagte Megdanoff. »Sobald sie ihren Anzug geholt hat. Parker, um das Quartierproblem werde ich mich kümmern. Ich weiß, wie das entstanden ist, aber wir müssen das irgendwie lösen. Wenn Sie zur Einheit gehören sollen, können Sie nicht oben in der Durchgangsunterkunft bleiben.«
»Einverstanden, Bosun’s Mate«, sagte Dana. »EM Diaz, ich brauche etwa zehn Minuten. Tut mir leid.«
»Schon verstanden, Miss«, erwiderte Diaz. »Ich habe ohnehin noch einigen Papierkram zu erledigen. Ich erwarte Sie dann hier.«