23
»Ich habe die Vier-Achtundneunzig überprüft«, sagte Velasquez verärgert.
Dana machte ihren üblichen »Rundgang« durch die Abteilung und vergewisserte sich, dass all ihre Schäfchen ihren Aufgaben nachgingen. Als sie Velasquez anscheinend ein Selbstgespräch führen hörte, blieb sie an der Dreiundzwanzig stehen. Sie konnte hören, wie er mit sich selbst redete, weil im Andockbereich der Staffel ganz im Gegensatz zu dem Zustand vor ihrem Flug ins Wolf-System erstaunliche Ruhe herrschte.
Nicht etwa, wie es während des größten Teils ihrer Zugehörigkeit zur 143. der Fall gewesen war, weil sämtliche Techniker, mit Ausnahme derer ihrer Abteilung, in ihren Unterkünften oder in der Kantine herumhingen, sondern weil sie alle tatsächlich mit echten Wartungsarbeiten beschäftigt waren. In ihren Anzügen. Meist mit Helmen. Vorschriftsmäßig.
Falls die Staffel beim Eintreffen des neuen »Norté«-Führungspersonals, ganz zu schweigen von Commander Echeverría und der klaren und eindeutigen Drohung, aus der Allianz zu fliegen, schon schockiert gewesen war, kam die Ankunft von Granadica eher einem Blitzschlag gleich. Einem mehrfachen Blitzschlag.
Wie Dana schon vermutet hatte, ging Granadica ganz ähnlich vor, wie sie selbst das bei ihrem Eintreffen getan hatte. Nur dass Granny »sehen« konnte, was jedes einzelne Mitglied der Einheit tat, wenn sie sich in überwachten Bereichen befanden, sie finden konnte, wenn sie sich in nicht überwachten Bereichen befanden, und sie ständig mit Nörgeleien peinigte, wenn sie irgendetwas falsch machten. Und das tat sie über ihre Implants.
Zwei Techniker hatten sediert und zur Erde zurückgebracht werden müssen, weil sie die ständigen »Stimmen in ihrem Kopf« nicht mehr ertragen konnten. Die anderen hatten mit der Zeit erkannt, dass Granadica sie im Allgemeinen in Ruhe ließ, wenn sie nur ihre Arbeit richtig erledigten. Andernfalls hörte sie einfach nicht auf zu nörgeln und zu nörgeln und zu nörgeln bis … »AIIIIIII! DIE STIMMEN!«
Und das war ein weiterer Grund, weshalb Dana leicht beunruhigt war, dass Vel den Helm abgenommen hatte und ein Selbstgespräch führte.
»Du hast doch gesehen, dass ich es überprüft habe«, sagte Vel. »Ordentlich überprüft, und es hat der Spezifikation entsprochen … warum? Tatsächlich? O-kay … verdammt. Ich habe es gerade überprüft. Warum? Wie?«
»Vel?« Dana schwang sich durch die Luke. Der Laderaum war unter Schwerkraft, aber das war sie gewöhnt. »Alles in Ordnung?«
»Wussten Sie, dass diese Dinger manchmal ausfallen, weil man eine von den anderen Platten abgestellt hat?«, fragte Vel.
»Ja«, sagte Dana. »Selten zwar, aber es kommt vor.«
»Das ist, als wollte man sich selbst in den Schwanz beißen!«
»Nicht, wenn man es in der richtigen Reihenfolge tut«, erklärte Dana. »Es ist nur leider so, dass die Reihenfolge davon abhängt, an welchen sonstigen Platten man arbeitet. Und ich wüsste auch nicht, dass es eine vorgeschriebene Arbeitsweise dafür gibt. Mit wem haben Sie gesprochen?«
»Mit Granadica.« Vel wurde rot. »Ich … ich wollte nicht fragen, ob Sie Zeit hätten und …«
»Und ich hatte gerade Zeit«, schaltete Granadica sich ein. »Ich habe mich nicht in deine Abteilung eingemischt, jedenfalls nicht so, wie du das verstehst, Dana.«
»Kein Problem, Granadica«, sagte Dana. »Danke für die Unterstützung. Darf ich dir eine Frage stellen?«
»Aber jederzeit, Dana, das weißt du doch«, antwortete Granny.
»Für diesen Ablauf gibt es keine vorgeschriebene Vorgehensweise. Ich bin mir nicht einmal sicher, weshalb das passiert. Das scheint einfach so ein Problem zu sein, auf das man von Zeit zu Zeit stößt.«
»Es hat mit der spezifischen gravitischen Frequenzanpassung zu tun«, sagte Granadica. »Die zugrunde liegende Mathematik ist offensichtlich kompliziert, aber es geschieht unter vorhersehbaren Umständen. Und es gibt eine klare Anpassungsfolge dafür.«
»Deshalb sollte es auch eine Arbeitsvorschrift geben«, sagte Dana. »Ich weiß nur leider nicht, wie man eine Arbeitsvorschrift erstellt.«
»Man schreibt sie und reicht sie über den Vorgesetzten ein«, erklärte Granadica. »So etwas hast du doch schon gesehen. Mach es einfach genauso. Falls die Vorgesetzten nach der Überprüfung einverstanden sind, wird der Vorschlag über das Marineamt weitergeleitet. Das Marineamt überprüft ihn erneut und entscheidet, ob es ihn als Standard in der ganzen Flotte einführt. Das gilt nicht nur für die Myrmidons. Bei den Constellations, die wir gerade erhalten haben, ist dasselbe Problem aufgetreten. Ich bin offen gestanden von der Arbeit, die BAE da geleistet hat, nicht gerade begeistert. Schrecklich schlampig. Und die regen sich über meine Qualitätskontrolle auf!«
»Das Problem ist nur, dass ich nicht weiß, weshalb das Problem auftritt«, wandte Dana ein. »Man stößt einfach drauf.«
»Nun, beim mathematischen Teil wirst du sicherlich Hilfe brauchen«, meinte Granadica. »Damit will ich dir nicht zu nahetreten, Dana. Ich wüsste auf der Erde höchstens drei Menschen, die das könnten. Und die müssten für die Simulationen auch eine KI einschalten. Aber für mich ist das ein alter Hut.«
»Dann könntest du also die Vorschrift schreiben?«
»Ja«, sagte Granadica. »Aber ich bin nicht daran interessiert, befördert zu werden. Und dass die Vorschrift benötigt wird, hast du ja schon erwähnt. Velasquez …«
»Mir ist bewusst, dass das einiger Diskretion bedarf, Granadica«, erklärte der Techniker.
»Tatsächlich …«, sagte Granadica. »Ich schlage vor, wir gehen folgendermaßen vor. Engineer Trainee Velasquez wird die Dienstvorschrift schreiben, er wird dies unter der Aufsicht von EM2 Parker tun, die sicherstellen wird, dass die vorgeschriebene Form eingehalten wird. EM2 Parker wird den Text überprüfen und ihn dann mir vorlegen. Ich ergänze ihn um den mathematischen Teil und füge hinzu, wie man das Problem vorhersehen und beheben kann. Das Ganze wird auf einer Gleichung basieren, die so einfach ist, dass der Technikausschuss sie überprüfen kann. Der Vorschlag wird von Parker als Vorgesetzter, Velasquez als Verfasser und mir als technischem Helfer eingereicht werden. Wir müssen das gemeinsam machen.«
»Soll mir recht sein«, sagte Parker.
»Und wann nehmen wir uns das vor?«, fragte Velasquez.
»Sie haben doch nach dem Dienst reichlich Freizeit«, erwiderte Parker.
»Du liebe Güte, Hausaufgaben«, sagte Velasquez. »Vielen Dank!«
»Ich denke, jetzt sind wir so weit, dass wir bloß noch die Kommastellen überprüfen müssen«, konstatierte Dana nach einem Blick auf die fertiggestellte Dienstvorschrift.
Es hatte drei Wochen in Anspruch genommen, die Dienstvorschrift »Erkennen, Analyse und Beseitigung interaktiver gravitischer Defekte in Trägheitskompensationssystemen (Entwurf)« zu schreiben, zu der nicht nur Granadica beigetragen hatte, sondern auch Chief Barnett, die, wie sich herausstellte, Verfasserin von vierhundertdreiundzwanzig und Mitarbeiterin bei über tausend weiteren Dienstvorschriften gewesen war.
Teilweise war es recht frustrierend gewesen. Granadica schien den Begriff »Einfachheit« überhaupt nicht zu kennen, und die Dienstvorschrift erforderte in hohem Maß ihre Beiträge und Unterstützung. Barnett hatte sie viermal zurückgegeben, damit »die Formulierung den Weicheiern im Marineamt passt«, wie sie das ausgedrückt hatte. Und der Vorgang selbst war alles andere als ein einfacher Ablauf, ganz gleich, wie viel Mühe sich Dana gab.
Aber am Ende stellte sie fest, dass es ihr großen Spaß gemacht hatte. Sie war nie eine besonders gute Studentin gewesen, gut genug, um bei der in der Ausbildungsschule geforderten Mathematik und Physik mitzukommen, aber alles andere als eine Wissenschaftlerin. Aber das hier war etwas für das richtige Leben. Etwas, das es … besser machte.
»Finde ich auch«, sagte Granadica. »Ich bin allerdings immer noch der Ansicht, dass wir die Analyse des Theta-Faktors mit einbauen sollten.«
»Du hast selbst gesagt, dass der so selten auftritt, dass du ihn in achthundert Jahren nur zweimal beobachtet hast.« Dana unterdrückte einen Seufzer. »Und wir haben festgehalten, dass im Falle eines Scheiterns dieser Vorgehensweise eine Theta-Analyse vorgenommen werden muss. Wir werden das als separate Dienstvorschrift festhalten, und man wird diesen Ablauf vermutlich als ›Reparatur für das Wartungsdepot‹ einstufen. Das bedeutet, dass du das dann machen musst«, fügte sie mit einem boshaften Lächeln hinzu.
»Was soll das heißen, ›Wir werden das schreiben?‹«, fragte Velasquez. »Sie meinen, ›Velasquez wird es schreiben, und dann sagen wir ihm, was er alles falsch gemacht hat!‹«
»Betrachten Sie das einfach als Vorbereitung auf Ihren Job als Offizier«, sagte Dana. »Das tun Offiziere doch, oder? Papierkram?«
»Und ich hatte den Eindruck, dass Offiziere in erster Linie in den Offiziersclubs herumstolzieren.« Velasquez setzte eine verblüffte Miene auf. »Ich meine, wir von der Offiziersklasse unterschreiben Papiere, aber den eigentlichen Schreibkram erledigen die unteren Dienstgrade. Oder? Wir würden doch nicht etwas so Alltägliches tun, wie einen Stift in die Hand zu nehmen, um tatsächlich zu schreiben? Das tun wir doch bloß, wenn wir an unsere Familien schreiben, damit sie uns mehr Geld schicken, weil wir wieder beim Pferdewetten verloren haben.«
»Hat er gerade einen Witz gemacht?«, erkundigte sich Granadica.
»Ich glaube, er lernt gerade trockenen Humor«, sagte Dana, deren Augen sich geweitet hatten. »Das war beinahe … mittlerer Westen!«
»Es sollte eigentlich britisch sein.« Velasquez grinste.
»Kommt nahe ran«, bestätigte Granadica. »Echt. Okay, ich würde sagen, wir sind fertig. Jetzt fehlt nur noch der Begleitbrief, dann können wir es abschicken.«
»Und dann werden wir sehen, was passiert«, sagte Dana und commte den Befehl. »Und damit ist unsere Arbeit der letzten drei Wochen zu den Göttern der Konfusion unterwegs.« Chief Barnett hatte sie gewarnt, dass das Marineamt den Text wahrscheinlich umschreiben würde, allein schon, um zu zeigen, wie sehr es gebraucht wurde. Und da die Dienstvorschrift so klar war, wie das nur gerade möglich war, würden die sie mit Sicherheit komplizierter gestalten.
»Offiziere«, spottete Velasquez. »Man kann einfach nicht mit ihnen leben, und wenn man sie in den Weltraum wirft, passt ihnen das auch nicht.«
»Ein letzter Punkt noch«, sagte Megadeath. Der niedergeschlagene Megdanoff, den Dana bei ihrer Ankunft kennengelernt hatte, war kaum wiederzukennen. Man hatte ihn nicht für die erste Gruppe »Gringos« ausgewählt, die der 143. assistieren sollte, weil er träge war. Ganz im Gegenteil. Trotzdem verblüffte es sie immer noch, wie flott und effizient er sein konnte. Er hatte sogar geschafft, den Suds begreiflich zu machen, dass »die einstündige wöchentliche Techniksitzung« tatsächlich eine Stunde dauern sollte.
»Wir haben ein paar gute und ein paar schlechte Nachrichten. Oder gute und gute Nachrichten, je nachdem, wie Sie das sehen. Gute Nachrichten: Beförderungen. Die 144., 145. und 146. stehen immer noch. Das bedeutet, dass diese Staffeln ausgebildetes Personal für Führungspositionen brauchen werden. Ich denke nicht, dass wir irgendwelche Leute verlieren werden, aber es bedeutet, dass es bald offene Stellen für Unteroffiziere geben wird. Und da die alle besetzt werden müssen, müssen wir Leute finden, die man befördern kann. Die Rotte soll Stellen für drei Engineer’s Mates Second Class stellen. Sämtliche qualifizierten Engineer Trainees kommen für die Beförderung zum Engine Man und sämtliche Engine Men als Engineer’s Mates Third Class infrage. Ich brauche schriftliche Vorschläge, welcher Ihrer EM3 für die Beförderung zum EM2 geeignet ist, und will die um 08:00 morgen in meinem Eingangskorb haben und dazu Qualifikationsbestätigungen für alle qualifizierten ETs und ENs. Noch Fragen?«
Megdanoff hatte klargestellt, dass es zwar keine dummen Fragen gab, wohl aber so etwas wie wissbegierige Idioten. Also hielt Diaz den Mund.
»Letzter Punkt. Ich nehme an, es ist nicht zu vermeiden, dass wir irgendwann so etwas wie eine Koloskopie bekommen werden«, fuhr Megdanoff fort. »Oder jedenfalls so etwas Ähnliches. Wir werden Besuch von ein paar VIPs bekommen. Genauer gesagt, die südamerikanische Delegation zu den E-Eridani-Verhandlungen wird hier Station machen. Sie haben ausdrücklich darum gebeten und auch die Erlaubnis bekommen, mit ›ausgewählten Angehörigen des der Kampfstation Thermopylae zugeteilten südamerikanischen Kontingents‹ Kontakt aufnehmen zu dürfen.«
»Wenn ich dazu etwas sagen darf«, schaltete Diaz sich ein. »Ich habe davon erfahren. Die Person, die mit mir Kontakt aufgenommen hat, hat gesagt, ihr Besuch würde nicht darauf abzielen …« Er hielt inne, wusste offenbar nicht, wie er weiterreden sollte.
»… das ganze ›Ersuche um Stellungnahme‹-Theater wieder von vorne zu beginnen?«, fragte Dana und hob eine Augenbraue.
»Ja.« Diaz nickte. »Das wollen sie nicht. Es sind … Diplomaten. Es gibt noch kulturelle … ›Probleme‹, ist glaube ich der Begriff, den Sie wahrscheinlich benutzen würden. Sie haben unter anderem die Absicht, derartige Probleme ausfindig zu machen und zu sehen, was man dagegen unternehmen kann, um … innerhalb der Parameter den Standard unserer gegenwärtigen Leistungsfähigkeit aufrechtzuerhalten.« Es war ziemlich klar, dass er wörtlich zitierte.
Megdanoffs Kinnmuskeln arbeiteten einen Augenblick lang, und er schob die Unterlippe vor.
»Hmmm … ja«, sagte er dann. »Also die werden jedenfalls Anfang nächster Woche hier sein. Und da wir diesmal gewarnt sind, werden wir das wie eine Inspektion durch den Generalinspekteur behandeln. Und das bedeutet doppelt so viel Arbeit an den Vögeln. Der Chef möchte, dass alle blitzblank geputzt sind und dass man sich in sämtlichen Quartieren spiegeln kann. Und der Korridor sieht ziemlich übel aus, also werden wir auch den sauber machen. Sie sollten also an diesem Wochenende nicht mit Freizeit rechnen. Das gilt nicht nur für uns, sondern für die ganze Staffel. Und die Coxswains werden auch mitmachen.«
Dana konnte ein unwilliges Schnauben nicht unterdrücken. Wenn die Suds wieder mit ihren Spielchen anfangen wollten, würde Commander Borunda ihnen sicherlich klarmachen, was davon zu halten war.
»Entschuldigung«, sagte sie und räusperte sich. »Husten.«
»Na schön.« Diaz knirschte mit den Zähnen.
»Und damit wäre die Besprechung beendet, Freunde«, sagte Megdanoff. »Fragen?«
»Wissen wir, wer ausgewählt worden ist?«, erkundigte sich Dana.
»Diesmal nicht. Sonst noch Fragen? Dann sind wir fertig. Ich schicke dann den ergänzten Dienstplan an alle. Wir werden ziemlich beschäftigt sein.«
»Parker, Megdanoff.«
Dana hatte gerade den Besprechungsraum verlassen und war zu den Andockbuchten unterwegs. War das so eilig?
»Parker.«
»Ich weiß nicht, ob Sie das empfehlen werden, aber wenn es keine heftigen Einwendungen gibt, werde ich Palencia vorschlagen. Ich weiß, dass es zwischen Ihnen beiden Probleme gegeben hat.«
»Nicht im normalen Sinn des Wortes«, commte Dana. Diaz befand sich im Gang vor ihr, und sie begriff jetzt, weshalb das in der Besprechung nicht erwähnt worden war. »Aber, ja. Ich werde zwar keine massiven Einwände vorbringen, aber ich teile Ihre Meinung nicht. Palencia verfügt weder über das Wissen noch über die notwendigen Fertigkeiten für einen EM2.«
»Das ist genau das, was ein altmodischer Chief über jeden einzelnen EM2 in der Hundertzweiundvierzigsten sagen würde, Sie eingeschlossen. Die neuen Jungs wissen nie, was sie machen. Aber wir brauchen einfach EM2s. Wir sollen die 146. aufstellen, und nach gegenwärtiger Planung soll das eine Sud-Einheit werden. Und deshalb brauchen wir Sud-Unteroffiziere. Und das wiederum bedeutet, dass wir Palencia brauchen.«
»Verstanden. Kein Einwand. Ich halte es bloß für keine gute Idee. Wenn wir ihm noch sechs Monate Zeit geben, würde ich wahrscheinlich zustimmen.«
»Tatsächlich wäre es hilfreich, eine Empfehlung zu haben.«
»Ich werde versuchen, mich an etwas zu erinnern, was ich einmal gelesen habe. O yeah. Der gemeine Soldat arbeitet dann gut, wenn er ständig unter Aufsicht ist und man ihn in die Enge treibt wie eine Ratte in einer Falle.«
»Na also. War das so schwer?«
Dana warf einen Blick auf Megdanoffs Signal und nickte in ihrem Anzug.
»Wurde auch Zeit«, murmelte sie.
»Velasquez«, commte sie und sah zu ihm hinüber. »Unter Einhaltung aller Standards Lackierablauf beenden.«
Die Abteilung war damit beschäftigt, Beulen und Kratzer an den Shuttles auszubessern. Da die Shuttles im Weltraum nicht dem Rost ausgesetzt waren, hatten die alten Navy-Veteranen darauf verzichten müssen, jede einzelne Fläche zu lackieren, zu schleifen, zu entrosten und dann ein zweites Mal zu lackieren, zu schleifen und zu entrosten … was natürlich Aufgabe von Engineer’s Mates und Bosuns war. Aber in Anbetracht des bevorstehenden Besuchs »wichtiger Persönlichkeiten« und der Tatsache, dass die Hundertdreiundvierzigste endlich tatsächlich weltraumeinsatzfähig war, wollten sich die Chiefs und Offiziere der US Navy mit dem Weltraumlack wichtigmachen.
Bedauerlicherweise mussten sie sich auch mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die Dienstvorschrift für Weltraumlackierung vierhundert Seiten umfasste. Und einfach mit dem Pinsel auftragen konnte man die Farbe auch nicht. Und dann das Thema »Schleifen«, wo einen doch der Einsatz eines normalen Winkelschleifers sofort durch den Hangar auf eine Holländer-Bahn schicken würde. Und das »Material für die Reparatur kleinerer Beulen« konnte man auch nicht gerade im Heimwerkermarkt kaufen. Es kostete ein Schweinegeld und war auch nicht einfach mit einem Spachtel aufzubringen.
Zum Lackieren musste man zwischen dem Farbapplikator und der zu lackierenden Fläche Spannung anlegen. Dann musste ein Spezialapplikator benutzt werden, der zwar wie eine normale Spritzpistole aussah, in Wirklichkeit aber ein kompliziertes Gebilde aus elektronischen Schaltkreisen und Gravitationssteuerungen war. Selbst die von einem Lackiergerät eingesetzte Kraft würde ausreichen, den Benutzer in Mikrogravitation die Kontrolle verlieren zu lassen. Im Klartext: Er würde den Holländer machen.
Das Schleifen erfolgte mit einem »Trägheit kompensierenden Gegenrotationssystem«, das fast perfekt war. Unglücklicherweise kam es immer wieder vor, dass irgendwelche Unsauberkeiten an der zu schleifenden Fläche zu einer »anomalen Rotationssituation« führten. Das war einerseits äußerst lustig, andererseits aber verdammt gefährlich. Lustig war es, als Diaz in der Demonstrationsphase von der Zweiundvierzig abgetrieben und schreiend in den Haupthangar getragen wurde. Weniger erheiternd war es, als Dana das Gleiche passierte.
»Ja, EM«, sagte Velasquez und drehte den Farbextraktor langsam herunter. Dass man nicht einfach aufhören konnte zu lackieren, gehörte auch zu den erheiternden Dingen.
»Wenn Sie fertig sind, sichern Sie alles Gerät und kümmern sich anschließend um die Nacheinsatzwartung«, sagte sie. »Anschließend hüpfen Sie in den Stützpunktladen und holen sich dort einen Satz Abzeichen für Engineer First Class.«
»Für w…?«, sagte Velasquez. »Heißt das, ich bin befördert worden?«
»Genau«, bestätigte Dana. »Sie können sich den Rest des Tages frei nehmen. Zu Ihrem Glück findet heute Abend eine GI-Party statt.«
»Zum Glück ist meine Kammer bereits blitzsauber.«
»Und Sie sind stark wie ein Löwe, denn Ihr Herz ist rein. Wenn das ganze Theater hier vorbei ist, werden Sie richtig geehrt.«
»Und wie?«, fragte Diaz.
»Ich werde Ihnen erklären, was die Brechstange zu bedeuten hat«, sagte Dana. »Soweit mir bekannt ist, werden Sie der erste Sud sein, der das erfährt.«
»Du siehst müde aus, Diego«, sagte Dr. Velasquez.
»Bin ich auch.« Sein Sohn nickte. »Ich weiß nicht, ob es einfach daran liegt, wie die Amerikaner ihre Navy führen, oder ob das eine Art Rache für die vielen Beschwerden ist, die sie vor den Besprechungen im Wolf-System bekommen haben. Jedenfalls sind wir als Vorbereitung auf euren Besuches von ›hart arbeiten‹ zu ›arbeiten wie die Sklaven in einer Salzmine‹ übergegangen, damit unsere Boote, unsere Unterkünfte und unser Gerät nicht nur funktionsfähig sind, sondern auch noch für die prominenten Besucher hübsch aussehen. Wenn man bedenkt, dass die Gringos diesen Besuch als eine ›Koloskopie‹ bezeichnen, bin ich mir ziemlich sicher, dass es noch einen zweiten Grund hat. ›Wenn ihr nicht wollt, dass man euch schindet wie Sklaven, dann sagt gefälligst Daddy, er soll sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.‹ Die können auch ihre Spielchen treiben, wie sie es formulieren. Aber Chief Hartwell hat sich so positiv über das Aussehen der Boote, der Unterkünfte und des Geräts geäußert, dass es vermutlich um beides ging.«
»Und erfüllt jetzt alles wirklich einwandfrei sämtliche technischen Voraussetzungen?«, fragte Dr. Velasquez.
»Erstaunlicherweise funktionieren jetzt meistens sogar die Boote der Alpha Rotte«, sagte Diego. »Da das nicht nach einem Ja klingt, solltest du wissen, dass ›meistens‹ auch für die 142. gilt. Wir erfüllen also die Standards. Was hauptsächlich Granadica zu verdanken ist.«
»War es schwierig, mit dem Fabber zu arbeiten?«
»Für mich nicht.« Der frischgebackene Engineer lächelte. »Ich konnte mich schon vorher an das ständige Nörgeln gewöhnen. Wenn ich mich jetzt daran erinnere, bin ich eigentlich recht froh, dass wir Parker als Engineer’s Mate hatten, ehe die Granadica installiert haben. Deshalb ist uns ein Großteil der wesentlich lästigeren Nörgelei der KI erspart geblieben. Parker ist nicht in die Toiletten gekommen, um uns herauszuzerren. Sie hat höchstens jemand geschickt, um uns zu holen, wenn wir zu lange dort waren. Granadica dagegen taucht plötzlich bei einem im Kopf auf und will wissen, was genau man gerade mit seinem Penis macht und ob das vielleicht ein Sensorcheck sein soll.«
»Verstehe«, sagte Dr. Velasquez, und in seinem Gesicht zuckte es ziemlich undiplomatisch.
»Entschuldige, Papa.« Diego zuckte mit den Achseln. »Wenn man ständig mit Matrosen zusammen ist, hat das Einfluss auf die Sprache, sie wird etwas unflätiger. Vielleicht hat Palencia recht, wenn er sagt, dass das keine Arbeit für Gentlemen ist.«
»Sein Vater scheint diese Ansicht jedenfalls immer noch zu teilen«, meinte Dr. Velasquez. »Was denkst du also, war die KI im Ganzen betrachtet ein Problem oder von Nutzen?«
»Sehr von Nutzen«, erklärte Diego wie aus der Pistole geschossen. »Sie verfügt über einen gewaltigen Wissensfundus, und das habe ich als nützlich empfunden. Und wenn es auch für uns alle recht schwierig war, uns … äh … kulturell anzupassen, verstehe ich inzwischen doch, wenn ich es auch noch nicht ganz verinnerlicht habe, weshalb die Gringo-Navy vieles so macht, wie sie es eben macht. Das als Kultur zu bezeichnen trifft nicht ganz zu. Oder besser gesagt, es ist eine Kultur der Notwendigkeit. Wenn man die Dinge auf eine bestimmte Art macht, funktionieren sie. Wenn man es auf andere Art macht oder es die meiste Zeit gar nicht macht, funktionieren sie nicht. Das gilt auch für ein Thema wie Zeitmanagement, also ständig jede Minute mit bestimmten Handlungen zu füllen. Wahrscheinlich könnte man mit der einen oder anderen Änderung in dieser Kultur die Reibungsverluste zwischen unseren beiden Kulturen verringern.« Er hielt inne, seine Züge verfinsterten sich, und dann zuckte er erneut die Achseln. »Aber erstaunlicherweise würde es gar nicht viel brauchen. Das hier ist der Weltraum. Das ist die Allianz Navy, eine Weltraumstreitmacht, die sich bewiesen hat. Ich bin der Meinung, dass wir, um es in den Worten der Gringos auszudrücken, einfach ›darüber hinwegkommen müssen‹.«
»Wie ich sehe, hat man dich befördert«, stellte Dr. Velasquez fest.
»Das hat sich mehr oder weniger automatisch ergeben, und ich bezweifle, dass Mutter davon entzückt sein wird«, sagte Diego. »Nichts, weswegen es sich lohnt, nach Hause zu schreiben.«
»Schon wieder so ein Gringo-Ausdruck.«
»Ich …«, setzte Diego an. »Ja. Ich glaube, ich fange an, mich deren Kultur anzupassen. Versteh mich nicht falsch, Papa. Ich habe nicht die Absicht, die Unteroffizierslaufbahn einzuschlagen. Aber ich glaube schon, dass diese Erfahrung für meine künftige Militärlaufbahn nützlich sein wird. Allein schon deshalb, weil ich so lerne, was für Tricks die gewöhnlichen Soldaten versuchen.« Er grinste.
»Und dazu kann es schneller kommen, als du vielleicht erwartet hast«, sagte Dr. Velasquez. »Was ich jetzt sage, musst du für dich behalten, aber die günstige Entwicklung, seit Granadica eingeschaltet ist, hat die Einstellung der Allianz gegenüber unseren Ländern verändert. Und deshalb hat man die Constitution einer südamerikanischen Crew und nicht einer asiatischen zugeteilt. In nächster Zeit soll ein weiteres MASSEX-Manöver stattfinden. Wenn die Crews dabei gut abschneiden, wird sich dieser Prozess fortsetzen, und es ist möglich, dass eines Tages die Malta eine komplett südamerikanische Kampfstation sein wird.«
»Das wäre eine …« Diego bekam große Augen.
»Wie man uns in einer sehr … aggressiven Konferenz klargemacht hat, eine Pflicht«, sagte Dr. Velasquez. »Ja, und auch eine Ehre. Wir, und damit meine ich die gegenwärtige Sud-Fraktion der Allianz, müssen noch vieles regeln. Und damit haben wir uns seit den Wolf-Konferenzen hinter verschlossenen Türen fast ständig befasst. Aber was dich persönlich angeht, es gibt nicht genügend Angehörige der … ›richtigen‹ Familien, um alle Positionen auszufüllen. Und deshalb werden die Einheiten in naher Zukunft immer mehr Personal aus den unteren Klassen bekommen. Und das wiederum bedeutet, dass man dich in absehbarer Zeit hier abziehen wird, damit du eine Offiziersschule besuchen und anschließend den dir gebührenden Platz einnehmen kannst.«
»Seltsamerweise ertappe ich mich dabei, dass ich das … aus der Gringo-Perspektive betrachte«, sagte Diego. »Dass man seine rechtmäßige Stellung nicht durch Geburt erlangt, sondern indem man sie sich erarbeitet. Aber ich muss dir noch dazu gratulieren, dass man dich in die E-Eridani-Delegation eingeteilt hat!«
»Wahrscheinlich sollte ich davon auch begeistert sein.« Dr. Velasquez nickte. »Aber ehrlich gestanden sind wir bloß als eine Art Schaufensterdekoration dabei. Um den Rangora zu demonstrieren, dass die Erde in ihrer Entschlossenheit, das Sonnensystem zu verteidigen, geeint ist. Aber es sollte eine nützliche Erfahrung sein. Man hat mir auch schon zu verstehen gegeben, dass die Unterbringung diesmal etwas besser als bei den Wolf-Konferenzen sein sollte. Leider werde ich auch mit Dr. Guillermo Palencia als Kollegen zu tun haben.«
»Ist er genauso schlimm wie sein Sohn?«, fragte Diego und lachte.
»Man hat mir zu verstehen gegeben, dass sein Sohn stark von liberalen Gedanken beeinflusst ist«, erwiderte Dr. Velasquez. »Im Gegensatz zu seinem Vater. Der ist nämlich der Ansicht, dass Pinochet nicht weit genug gegangen ist.«
»Autsch.« Diego schmunzelte. »Glaubst du, dass die beiden gerade das gleiche Gespräch führen?«
»Das bezweifle ich.«
»Vater«, sagte Diego, und einen Augenblick lang runzelte sich seine Stirn. »Ich weiß, dass du an einem Punkt bist, wo du einfach weitermachen musst. Aber … Eridani. Ist das … nicht gefährlich?«
»Du fragst mich?« Dr. Velasquez lachte. »Du bist doch derjenige, der in Shuttles durch die Gegend fliegt, die schon in die Luft gehen, wenn man sie nur schief ansieht! Ich werde dort unter dem Schutz der Ogut stehen. Die sind zwar als Spezies nicht gerade vertrauenswürdig, aber äußerst territorial eingestellt. Das Schiff ist Ogut-Territorium. Die Rangora werden wegen der Erde keinen Zwei-Fronten-Krieg riskieren. Du bist derjenige, der vorsichtig sein sollte.«
»Das bin ich, Vater«, sagte Diego. »So vorsichtig, wie man das in meiner Lage sein kann.«
Dr. Velasquez stand auf und breitete die Arme aus.
»Ich hätte nicht gedacht, dass ich so stolz sein könnte«, sagte der Diplomat. »Aber du bist großartig.«
»Danke, Vater«, sagte Diego und drückte ihn. »Ich gebe mir Mühe.«