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Pater Ignacio hatte schon eine ganze Weile nichts mehr gesagt. Er schien vollständig in sich versunken zu sein. Panetta sah besorgt zu dem alten Jesuiten hin.

»Jetzt bleibt nur noch Rom. Mit viel Glück hat man den Anschlag auf Santo Toribio vereiteln können, wie ich gerade von unserem Mann in Spanien erfahren habe«, sagte Panetta.

»Großer Gott, dass mir das nicht früher eingefallen ist! Wie dumm von mir!«, rief Pater Ignacio mit einem Mal aus.

Erwartungsvoll sahen ihn alle an.

»Raymond de la Pallissière hasst das Kreuz, das den Katharern so zuwider war, und er ist von der Vorstellung besessen, dessen Überreste zerstören zu müssen – das lignum crucis in Jerusalem, das in Santo Toribio und, logischerweise, die drei Stücke, die man in Rom aufbewahrt, nämlich in der Reliquienkapelle der Heilig-Kreuz-Basilika. Ja, dort wird der Anschlag stattfinden. Ich bin meiner Sache völlig sicher.«

»Klingt logisch!«, rief Panetta aus.

»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte Moretti.

 

Mit wutverzerrtem Gesicht zerknüllte Salim al-Bashir das Papier, das er in den Händen hielt. Das wird mir das dumme Stück büßen! Wie hatte er nur annehmen können, dass ihm diese Frau gehorchen würde?

Er schlug so heftig mit der Faust gegen die Wand, dass seine Knöchel schmerzten.

Noch vor einer Stunde war er sich als der glücklichste Mensch auf der Welt vorgekommen, und jetzt …

Am Vorabend hatte er sie aufgefordert, die Nacht in seinem Zimmer zu verbringen, und sie war mit einer kleinen Tasche gekommen, in der sich ihr Nachthemd und ihr Waschzeug befanden. Als er am Morgen den Raum verlassen hatte, um sich in einem nahe gelegenen Café mit dem Leiter der Gruppe in Rom zu treffen, war sie gerade dabei gewesen, sich zurechtzumachen.

Er war bei seiner Rückkehr nicht überrascht gewesen, sie nicht im Zimmer vorzufinden. Vermutlich war sie in ihr Zimmer gegangen und würde bald zurückkommen. Er hatte sie über das Mobiltelefon angerufen, und als sie sich nicht meldete, angenommen, sie sei im Bad oder nach unten gegangen, um einen Kaffee zu trinken. Nachdem allerdings zwei Stunden vergangen waren, ohne dass er etwas von ihr gehört oder gesehen hatte, begriff er, dass sie geflohen war. Nach einer Weile hatte er in der Tasche eines seiner im Schrank hängenden Jacketts den Brief gefunden, den er jetzt zerknüllte.

 

»Lieber Salim, ich habe die schwerste Entscheidung meines Lebens getroffen. Ich werde mich auf immer von Dir trennen. Du hattest Recht: Ich bin nicht die Frau, die Du brauchst, und zu unbedeutend für Dich wie für die Sache, für die Du kämpfst. In den vergangenen Jahren habe ich getan, was Du von mir verlangt hast, und ich sage offen, dass ich dabei keine Gewissensbisse hatte. Wenn Du mich aufgefordert hättest, mein Leben zu geben, ich hätte es bereitwillig getan. Aber was Du jetzt von mir verlangst, kann ich nicht tun. Ich war nie eine gute Christin. Wie Du weißt, habe ich meinen Glauben schon vor Jahren verloren und gehe auch nicht zur Kirche. Trotzdem kann ich nicht die Grundlage der Religion zerstören, in der man mich erzogen hat. Es wäre so, als wenn ich meine eigene Persönlichkeit zerstörte, meine Seele. Wenn ich dir diesen Wunsch erfüllte, würde ich mein restliches Leben mit einer unerträglichen Schuld belasten.

Ich gehe, Salim, und ich glaube, dass das für uns beide das Beste ist. Ich werde Dich nie verraten.

Ich weiß nicht, ob Du mir verzeihen kannst, aber mir bleibt die Hoffnung, dass Du es tust, denn Du bist ein gläubiger Mensch.

Ich liebe Dich.«

 

Wo mochte die Verrückte sein? Höchstwahrscheinlich hatte sie das Hotel verlassen, um nach Brüssel zurückzukehren. Vielleicht konnte er sie noch am Flughafen erreichen.

Er rief den Leiter der Gruppe in Rom an. »Mein Freund, die Hündin hat die Flucht ergriffen. Das Unternehmen wird abgesagt.«

»Salim, etwas Schlimmes ist passiert. Hast du die Fernsehnachrichten gesehen?«

»Nein. Was ist denn?«

»In Jerusalem hat sich ein Mann vor dem Damaskus-Tor umgebracht. Dabei sind viele Menschen umgekommen.«

»Vor dem Damaskus-Tor?«

»Ja.«

»Aber …«

»Ich weiß. Irgendetwas muss schiefgegangen sein. Außerdem wird aus Istanbul von einer geheimnisvollen Explosion berichtet. Wie es aussieht, hat es Tote und Verletzte gegeben.«

»Und was ist mit Spanien?«

»Darüber weiß ich noch nichts.«

»Ich rufe dich an, sobald ich in London bin. Versuche festzustellen, was im Einzelnen geschehen ist. Vielleicht hat man uns verraten.«

»Sei vorsichtig, mein Freund.«

Al-Bashir nahm den Koffer und verließ das Zimmer, nicht ohne einen letzten kontrollierenden Blick.

Er zahlte am Empfang und bat, ihm den Wagen vorzufahren, der in der Hotelgarage stand. Am Flughafen musterte er die Liste der Flüge nach Brüssel; der nächste ging in drei Stunden, und der vorige war knapp zehn Minuten vor seiner Ankunft gestartet.

Von einem öffentlichen Telefon aus rief er eine Nummer an und gab die Adresse der Frau in Brüssel durch mit der Anweisung, sie unschädlich zu machen.

Sie war ihm jetzt gefährlich. Heute schrieb sie, dass sie ihn liebte – und morgen?

Auf keinen Fall wollte er der Gegenseite lebend in die Hände fallen, denn mit ihm konnte das ganze Netz der Gruppe in Europa untergehen. Lieber würde er sich das Leben nehmen. Er verfluchte die Frau, die ihn in Gefahr gebracht hatte.

 

Ovidio Sagardía nahm den Blick nicht vom Brustkreuz des Papstes. Er spürte das Vibrieren seines Mobiltelefons und meldete sich. Auf dem Display sah er, dass der Anruf von Pater Ignacio kam.

Er trat hinter eine Säule, um das Gespräch entgegenzunehmen, ohne dabei den Papst aus den Augen zu lassen, der in der Mitte des Petersdoms die Karfreitagsmesse zelebrierte.

»Der Anschlag richtet sich gegen das Kreuz. Die Reliquien des Kreuzes in Rom befinden sich in der …« Sagardía beendete den Satz für ihn: »… Heilig-Kreuz-Basilika. Großer Gott, das liegt ja auf der Hand!«

»Ja, mein Sohn, das tut es. Aber die Sorge hat uns die Sinne verwirrt, und so haben wir nicht gesehen, was unmittelbar vor Augen lag.«

»Und was geschieht jetzt?«, fragte Sagardía flüsternd.

»Panetta und Kommissar Moretti sind auf dem Weg zur Basilika, um dafür zu sorgen, dass sie geschützt wird.«

»Ich habe von den Anschlägen in Istanbul und Jerusalem erfahren«, sagte Sagardía.

»Ja, es hat viele Tote gegeben, und viel Blut ist vergossen worden. Ich fühle mich schuldig, weil es mir nicht gelungen ist, das zu verhindern.«

»Aber das Zentrum zur Terrorismusabwehr ist doch erst durch dich überhaupt auf die Fährte des Grafen gekommen!«

»Ich bin zu alt und denke nicht mehr so schnell wie früher.«

»Sobald die Messe vorüber ist, komme ich zu dir.«

»Nein, bleib, wo du bist. Ich komme in den Vatikan.«

Das Blut der Unschuldigen: Thriller
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