10

Mit müder Gebärde öffnete Darwisch Amir die Tür seines Hauses.

Als Erstes suchte er die Küche auf, in der Gewissheit, dort seine Frau bei der Zubereitung des Frühstücks anzutreffen. Laila würde noch schlafen, denn samstags arbeitete sie nicht. Auch er hatte jetzt zwei freie Tage vor sich.

Wie erwartet, fand er seine Frau in der Küche. Sie machte gerade in Gedanken versunken Kaffee und merkte nicht einmal, dass er da war.

»Guten Morgen.«

Sie wandte sich nervös um, und er sah Angst in ihren Augen. »Was ist los?«, fragte er beunruhigt.

»Nichts weiter. Mohammed ist gekommen. Er und seine Frau und die Kinder schlafen noch, aber wenn du möchtest…«

»Mein Sohn? Wann denn?«

»Gestern Abend, und … Er wird es dir selbst erzählen. Er hat Hassans Schwester geheiratet, Jussufs Witwe …«

»Was sagst du da? Ich verstehe nicht, erklär mir das genauer.«

»Jussuf ist tot … Wie gesagt, der Junge wird es dir genau erklären. Jedenfalls hat er die Frau geheiratet, und wir haben jetzt zwei Enkel.«

Darwisch sah seine Frau aufmerksam an. Aus welchem Grund mochte sie nur so unruhig und bedrückt sein? Immerhin war ihr einziger Sohn nach Hause gekommen. Sie sprach von ihm wie von einem Fremden.

»Was hast du?«

»Nichts. Was soll ich schon haben?«

»Ich komme todmüde nach Hause, und du sagst mir, dass unser Sohn da ist, mit einem Gesicht, als ob das ein wer weiß wie schwerer Schicksalsschlag wäre. Was ist? Findest du es so schlimm, dass er geheiratet hat, ohne mich um Erlaubnis zu bitten? Natürlich hätte er das tun müssen, aber Hassans Schwester … Das ist doch eine Ehre für uns. Bestimmt wird er uns erklären, warum er nicht wenigstens vorher Bescheid gesagt hat.«

»Natürlich. Hast du Hunger?«

»Ein bisschen. Aber ich trinke nur ein Glas Milch und esse ein Stück Kuchen, dann lege ich mich hin. Weck mich aber, wenn der Junge aufgestanden ist. Was ist mit Laila?«

»Schläft auch noch.«

»Schon. Aber hat sie ihren Bruder gesehen?«

»Gestern Abend.«

»Und?«

Das Verhalten seiner Frau begann Darwisch zu ärgern. Warum nur lief sie mit dieser Leichenbittermiene herum? Auch begriff er nicht, warum sie so unruhig wirkte und so einsilbig war. Sie war eine gute Ehefrau und hatte sich mit großer Hingabe der Erziehung ihrer beiden Kinder gewidmet. Mit ihrer Arbeit als Putzfrau hatte sie nicht nur das Wirtschaftsgeld der Familie aufgebessert, sondern auch dazu beigetragen, dass Mohammed und Laila zur Schule gehen und einen ordentlichen Beruf ergreifen konnten.

Er setzte sich seufzend hin. Müde, wie er war, konnte er diesen sonderbaren Dingen jetzt nicht auf den Grund gehen. Er würde später mit Mohammed und dessen Frau sprechen.

Er erwachte erst um zwei Uhr nachmittags. Es fiel ihm schwer, die Augen zu öffnen, doch seine Frau erinnerte ihn daran, dass Mohammed da war, und ließ nicht locker, bis er aufstand.

»Gib mir ein paar Minuten Zeit, damit ich mich waschen kann. Wo ist er?«

»Sie sind alle im Wohnzimmer. Wir wollen essen.«

»Warum hast du mich nicht früher geweckt?«

»Der Junge wollte, dass du dich ausschlafen kannst …«

»Und Laila?«

»Ist heute morgen ausgegangen. Sie kommt bald wieder.«

»Dann können wir ja alle gemeinsam essen. Ich hoffe, du bringst etwas Besonderes auf den Tisch; immerhin haben wir unseren Sohn zwei Jahre lang nicht gesehen.«

»Es gibt Kuskus mit Hammel. Ich weiß, dass ihr das alle gern esst.«

Als Darwisch ins Wohnzimmer trat, kam er kaum dazu, einen Blick auf seinen Sohn zu werfen, weil sich ihm dieser sofort in die Arme warf.

Fatima stand mit den Kleinen schüchtern in einer Ecke.

Er hieß die Schwiegertochter in der Familie willkommen und begrüßte ihre Kinder. Sicher würde es eine Weile dauern, bis er sich an den Gedanken gewöhnt hatte, dass sie seine Enkel waren und er sie als solche behandeln musste.

Laila war noch nicht zurück. »Wir warten noch«, sagte die Mutter zu Mohammed, »bestimmt kommt sie bald. Samstags essen wir immer zusammen. Es ist einer der wenigen Tage, an denen sie nicht arbeitet.«

»Wir müssen über sie reden«, sagte Mohammed rau. Sie sah Darwisch besorgt an.

»Wieso das?«, fragte dieser, obwohl er sich die Antwort denken konnte.

»Sie geht ohne Hidschab aus dem Haus und unterrichtet, wie sie mir selbst erzählt hat, in einer Koranschule, die sie betreibt. Ich schäme mich, eine solche Schwester zu haben.«

»Dazu gibt es keinen Grund«, gab der Vater zurück. »Sicher, sie ist ungestüm, aber als gläubige Moslemin ist sie nie auch nur einen Fingerbreit von der Lehre des Korans abgewichen … Wir können später über sie reden. Jetzt, mein Sohn, erzähl von dir … von deiner Frau und den Kindern. Auch sag mir, was es aus Frankfurt Neues gibt. Du sollst wissen, Fatima, dass wir deinen Bruder Hassan als unseren geistlichen Führer betrachten, und so sehen wir es als Ehre an, dass unsere Familie durch dich mit ihm verbunden ist.«

Da Mohammed unter vier Augen mit dem Vater reden wollte, schickte er Fatima und die Kinder mit dem Auftrag in die Küche, dort der Mutter zu helfen. Dann berichtete er in allen Einzelheiten, was in Frankfurt geschehen war.

Darwisch empfand jedes Wort Mohammeds wie einen Faustschlag in den Unterleib. Es war gut und schön, die Ansichten der Gruppe zu teilen, deren Mitglieder zu schützen, davon zu träumen, dass der Islam eines Tages die Religion aller Menschen sein und den Christen nichts anderes übrig bleiben würde, als sich zu ihm zu bekehren – tatsächlich traten in Granada immer mehr Spanier zum Islam über –, doch aus dem Munde des eigenen Sohnes zu erfahren, dass er ein Mudschahed geworden war, bereit zu töten und zu sterben, machte ihn fassungslos. Er hatte keine Worte, als er erfuhr, dass sich Mohammed an dem Anschlag auf das Kino in Frankfurt beteiligt hatte.

Ungläubig sah Darwisch seinen Sohn an, der ganz offenkundig erwartete, der Vater werde sein Tun billigen. Er fühlte sich zutiefst verstört, hatte er doch im Fernsehen Bilder von Menschen gesehen, die bei dem Anschlag auf das Kino zerfetzt worden waren, unter ihnen Kinder. Der Junge war ein völlig anderer Mensch geworden. Er musste sich eingestehen, dass Mohammed im Grunde genauso geworden war, wie er ihn ursprünglich hatte haben wollen. Hätte er ihm sonst erlaubt, unter Hassans Schutz nach Frankfurt und später nach Pakistan zu gehen? Ihm war klar gewesen, dass er von dort auf keinen Fall als derjenige zurückkehren würde, als der er gegangen war. Doch als er sich jetzt der Wirklichkeit gegenübersah, stieg ihm ein bitterer Geschmack in den Mund.

»Warum musste es ein Kino sein, in dem sich auch Frauen und Kinder befanden …?«, brachte er zaghaft heraus.

»Es waren Feinde. Glaubst du etwa, dass es solche Frauen nicht freut, wenn sie sehen, wie man unsere Leute im Irak oder in Palästina umbringt? Ihre Söhne sind künftige Soldaten, die gegen uns kämpfen werden, wenn sie erwachsen sind. Ich kann nur hoffen, dass du in deinen Überzeugungen nicht wankend geworden bist…«

»Was sagst du da?«

»Was liegt daran, dass es Frauen und Kinder waren? Sieh sie als das, was sie sind: Feinde. Auch Feinde in der Etappe muss man beseitigen. Es fällt nicht schwer zu töten, wenn man weiß, warum man es tut.«

»Und warum tust du es?«

Laila hatte schon seit einer Weile auf der Schwelle gestanden und einen großen Teil der Unterhaltung mitbekommen, ohne dass ihrem Bruder oder Vater ihre Gegenwart bewusst geworden war. Bei Mohammeds letzten Worten waren ihr die Tränen in die Augen getreten. Es war ihr unmöglich, in dem Mörder, der da ihrem Vater gegenübersaß, noch ihren Bruder zu erkennen.

»Laila!«, rief Darwisch überrascht, als er sie sah. »Hinaus! Das ist ein Männergespräch.«

»Ihr nennt euch Männer? Was er da erzählt hat, ist abscheulich! Wie konntest du das nur tun …?«, schrie sie. Vor ihren tränenden Augen verschwamm alles.

»Jetzt aber raus!«, gebot Mohammed wütend. »Raus, bevor ich dir ein paar runterhaue. Und leg dir ein Kopftuch um, wenn du nicht willst, dass ich es tue.«

»Wage es nur! Wage es nur!«, schrie sie.

Durch den Lärm angelockt, traten die Mutter und Fatima ins Wohnzimmer, und Laila flüchtete sich weinend in die Arme der Mutter.

»Mohammed ist ein Mörder! Er hat die armen Leute im Kino in Frankfurt umgebracht … Oh, barmherziger Gott! Warum hast du das zugelassen?«

Fatima senkte teils furchtsam, teils beschämt den Kopf. Sie wusste, dass Mohammed an dem Gemetzel in Frankfurt ebenso beteiligt gewesen war wie ihr erster Mann Jussuf, hatte aber in beiden bis zu diesem Augenblick Helden gesehen. Ihr stellte sich die Wirklichkeit so dar, wie ihr Bruder Hassan und die Gemeinschaft der anderen sie deuteten. Die Tränen der Schwägerin weckten Zweifel in ihr.

Immer noch weinend verließ Laila den Raum und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Vergeblich bat die Mutter, sie solle ihr öffnen. Vater und Sohn hatten sich nicht von der Stelle gerührt, während sich Fatima furchtsam mit den Kindern in die Küche geflüchtet hatte. Sie aßen allein und unterhielten sich bis weit in den Nachmittag. Dann suchte der Vater Lailas Zimmer auf und gebot ihr, sofort herauszukommen.

Als sie die Tür öffnete, war ihr verweintes Gesicht so geschwollen, dass man kaum die Augen sehen konnte.

»Wasch dich und komm runter. Wir müssen miteinander reden«, sagte der Vater.

Gehorsam ging sie ins Badezimmer, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und bemühte sich, nicht wieder zu weinen. Als sie schließlich ins Wohnzimmer trat, wo Vater und Bruder sie erwarteten, setzte sie sich erschöpft und gedemütigt mit gesenktem Kopf hin.

»Du wirst mir jetzt zuhören und tun, was ich dir sage, weil du sonst unsere Familie ins Unglück stürzt«, sagte Darwisch einleitend. »Wir befinden uns im Krieg, ob du das wahrhaben willst oder nicht. Der Augenblick ist gekommen, uns zu verteidigen und die Ungläubigen all die Demütigungen und Kränkungen entgelten zu lassen, die sie uns in den vergangenen Jahrhunderten zugefügt haben. Man hat uns ausgegrenzt, ausgebeutet und verachtet, hat versucht, uns zu vernichten, und bedauerlicherweise haben sich viele unserer Führer durch das korrumpieren lassen, was der Westen als seine ›Werte‹ bezeichnet. Aber Allah will, dass das aufhört, und so hat er einigen heiligen Männern den Auftrag erteilt, an die Spitze einer neuen Gemeinschaft von Rechtgläubigen zu treten. Es sind Männer, die sich mit reinem Herzen opfern, damit die Fahne des Islam wieder auf der ganzen Welt wehen kann.«

»Und dazu muss man Unschuldige töten?«, wagte sie mit kaum hörbarer Stimme zu sagen.

»Das verstehst du nicht«, schrie er sie wütend an.

»Da hast du Recht. Das verstehe ich nicht. Ich habe weder Verständnis für Fanatismus noch dafür, dass wir Moslems angeblich nicht gemeinsam mit den Christen leben können. Ich verstehe nicht, warum die Menschen aus dem Unterschied zwischen ihnen unbedingt einen unüberbrückbaren Abgrund machen müssen. All das will mir nicht in den Kopf, weil ich nicht glaube, dass sich Allah vom Gott der Christen oder der Juden unterscheidet …«

Sie konnte nicht weitersprechen, weil Mohammed mit ungeheurer Schnelligkeit aufgesprungen war und ihr eine so gewaltige Ohrfeige versetzt hatte, dass sie fast vom Stuhl gefallen wäre. »Das ist Lästerung!«, schrie er dabei, erhob die Faust und schlug sie der Schwester mit voller Kraft ins Gesicht.

Der Vater stellte sich dazwischen, damit Mohammed nicht noch einmal zuschlagen konnte. Die Situation war seiner Kontrolle entglitten.

Wieder kam die Mutter herein und schrie laut auf, als sie sah, dass ihre Tochter aus dem Mund und einer aufgeplatzten Augenbraue blutete.

»Allah erbarme sich unser! Was habt ihr getan?«, schrie sie entsetzt und schloss Laila in die Arme.

»Das ist eure Schuld!«, brüllte Mohammed die Eltern an. »Ihr hättet ihr nie erlauben dürfen, so weit zu gehen.« An die Mutter gewandt fügte er hinzu: »Du hast dem Vater Lailas Fehler verschwiegen. Du allein trägst die Verantwortung dafür.«

Entsetzt senkte sie den Kopf. In diesem Mann, der wilde Drohungen ausstieß, erkannte sie ihren Sohn nicht wieder. Doch wagte sie weder, etwas dagegen zu sagen, noch unternahm sie einen Versuch, sich zu verteidigen, weil zu befürchten stand, dass sie Mohammeds maßlose Wut mit jedem Wort noch steigerte. Außerdem wusste sie nicht, wie ihr Mann reagieren würde. Bisher hatte er weder sie noch die Tochter je geschlagen, jetzt aber sah sie in seinen Augen ein Glitzern, das sie nicht zu deuten vermochte. Die Arme um Laila gelegt und bemüht, ihre eigenen Tränen zurückzuhalten, war sie sich bewusst, dass ihre einzige Möglichkeit darin bestand, die Tochter mit dem eigenen Leib zu schützen, falls Mohammed weiter auf sie einprügeln wollte.

Die Sekunden dehnten sich, bis ihr Mann schließlich sagte: »Bring sie auf ihr Zimmer und komm erst wieder, wenn ich es dir sage. Mohammed hat Recht; sie muss gehorchen.«

Mit großer Mühe gelang es ihr, Laila aufzurichten und aus dem Zimmer zu führen. Fatima, die in der Küchentür stand, trat hinzu und half ihr, Laila nach oben zu bringen. Sie verständigten sich wortlos und legten sie auf ihr Bett.

Fatima setzte sich neben die Schwägerin, während die Mutter das Zimmer verließ, um Verbandmaterial zu holen.

Laila konnte kaum sprechen. Sie hatte Kopfschmerzen, sah alles verschwommen, und ihre Lippen waren geschwollen. Während Fatima Lailas Kopf hielt, säuberte die Mutter behutsam die Wunden. Dann gab sie ihr ein Schmerzmittel und fragte Fatima leise: »Meinst du, wir sollten einen Arzt kommen lassen?«

»Nein, ja nicht. Das wird schon gut. Wenn ein Arzt käme, könnte die Sache an die Öffentlichkeit kommen. Das wäre für alle entsetzlich. Keine Sorge, das heilt von selbst.«

Die Mutter nickte stumm. Zwar deckte Fatima damit den Täter, schützte aber zugleich die ganze Familie. Obwohl der Mutter das bewusst war, spürte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht zu tun wagte, was sie eigentlich für richtig hielt.

»Wir sollten ihr etwas geben, damit sie schlafen kann«, schlug Fatima vor. »Morgen geht es ihr schon besser.«

»Ich weiß nicht … vielleicht ist es besser zu warten … Geh nach unten zu deinen Kindern. Ich bleibe hier bei Laila.«

Geräuschlos verließ Fatima das Zimmer. Auf keinen Fall wollte sie die Aufmerksamkeit ihres Mannes oder Schwiegervaters auf sich lenken. Sie hatte Angst vor Mohammed, Angst vor dem, was in diesem Hause geschah.

Die Kinder spielten immer noch auf dem Küchenfußboden mit ihren Plastikautos. Da die Mutter sie ermahnt hatte, den neuen Vater, vor dem sie ohnehin Angst hatten, nicht zu belästigen und schon gar nicht zu verärgern, waren sie mucksmäuschenstill.

Mohammed unterhielt sich nach wie vor im Wohnzimmer mit dem Vater. Obwohl die Tür geschlossen war, hörte Fatima ab und zu die schrille Stimme ihres Mannes. Sie strich den Kindern über den Kopf und flüsterte ihnen zu, dass sie brav sein und bald zu Bett gehen sollten, um den Erwachsenen nicht im Weg zu sein. Die Kleinen wagten nicht zu widersprechen, doch konnte sie in ihren Augen sehen, wie traurig und in tiefster Seele aufgewühlt sie waren. Zu ihrem großen Bedauern durfte sie sich davon nicht beeindrucken lassen. Die Dinge waren, wie sie waren; sie hatte keine Möglichkeit, etwas dagegen zu tun. Zwar konnte sie Laila gut leiden, doch war ihr klar, dass die Schwägerin mit ihrer Starrköpfigkeit im Begriff stand, eine Katastrophe heraufzubeschwören. Eine Frau musste gehorchen und tun, was die Männer beschlossen und für richtig hielten. Sie wusste nicht, was Laila wollte, doch was auch immer es war, sich damit durchsetzen zu wollen war ein Fehler.

Vater und Sohn sprachen nach wie vor über das Vorgefallene. »Das hier ist mein Haus, und ich habe zu bestimmen, was geschieht. Wenn deine Schwester Strafe verdient, bin ich dafür zuständig. Also werde ich …«

»Du bist doch gar nicht fähig, sie zu bändigen«, fiel ihm Mohammed ins Wort. »Es ist eine Schande, dass sie sich wie eine Ungläubige anzieht, und dann geht sie auch noch ohne Hidschab auf die Straße! Mich wundert, dass sie sich nicht schämt, so vor uns zu treten. Damit muss jetzt Schluss sein. Sie darf nicht in ihre Kanzlei zurück. Vor allem aber muss sie darauf bedacht sein, die Gruppe nicht weiterhin dadurch zu reizen, dass sie gläubigen Mosleminnen ihre sonderbaren Vorstellungen einimpft. Laila als Koranlehrerin! Das ist doch der helle Wahnsinn! Wenn wir nicht wollen, dass unsere Brüder uns wegen unseres Mangels an Frömmigkeit zur Rechenschaft ziehen, müssen wir verhindern, dass sie damit weitermacht. Hassan hat mir klipp und klar gesagt, wenn wir der Sache kein Ende bereiten, wird sich die Gemeinschaft darum kümmern. Was für Männer sind das, die es nicht fertigbringen, dass ihnen die Frauen im eigenen Hause gehorchen?«

»Du lässt sie zufrieden«, beschied ihn sein Vater, »ich spreche morgen mit ihr.«

»Aber wenn du es nichts schaffst, sie zur Vernunft zu bringen, knöpfe ich sie mir vor.«

Das Telefon klingelte, und Mohammed nahm ab.

»Wer ist da?«, fragte er.

Während er zuhörte, stieg ihm die Zornesröte erneut ins Gesicht.

»Nein. Meine Schwester ist nicht hier. Sie haben kein Recht, sich nach ihr zu erkundigen. Sie brauchen nicht wieder anzurufen.«

Der Vater sah ihn erwartungsvoll an. Er hätte gern gewusst, wer der Anrufer war, doch Mohammed schlug wieder mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Ein Mann wollte mit ihr sprechen! Dieser Schamlose hat die Stirn, bei uns zu Hause anzurufen. Wieso habt ihr es nur dahin kommen lassen?«

»Mohammed, mein Sohn, wir leben in Spanien. Du musst dir klarmachen, dass es nicht einfach ist, deiner Schwester alles zu verbieten. Sie geht zur Arbeit, kommt dabei mit Menschen in Berührung. Du hast in Deutschland gelebt und weißt, dass Frauen und Männer dort Seite an Seite arbeiten. Sogar in unserer Heimat Marokko ist es in den Städten inzwischen ebenso. Es kommt doch letztlich einzig und allein darauf an, wie sich die Frauen aufführen. Ich versichere dir, dass Laila nie etwas getan hat, dessen wir uns schämen müssten. Sie ist eine brave Tochter und eine gläubige Moslemin.«

»Wieso nimmst du sie in Schutz? Ist dir die Bedeutung von all dem, was sie getan hat, eigentlich nicht klar? Welchen Sinn hat unser Kampf, wenn sich unsere Frauen wie gewöhnliche Straßendirnen aufführen?«

»Um diesen Krieg zu gewinnen, müssen wir umsichtig sein und unauffällig vorgehen. Wir können Laila hier nicht einsperren. Sie muss weiterhin ihre Arbeit tun …«

»Ab sofort wird sie sich anders benehmen und das Haus nicht ohne Kopftuch verlassen. Ich verbiete es ihr.«

Vater und Sohn sahen einander an. So redeten sie schon seit Stunden. Die Auseinandersetzung mit Laila hatte bei beiden ihre Spuren hinterlassen. Es war Zeit, dass jeder für sich über die Sache nachdachte.

»Warum zeigst du deiner Frau nicht die Stadt ein wenig? Es ist noch nicht sehr spät. Deine Mutter kümmert sich bestimmt gern um die Kinder. Das Abendessen kann sie euch später machen.«

»Ja, ein bisschen an die frische Luft zu gehen würde mir sicher guttun.«

Mohammed verließ das Wohnzimmer, um Fatima zu rufen, auch wenn er lieber ohne sie ausgegangen wäre. Ihre Gegenwart war ihm unangenehm, obwohl sie ihm nicht lästig fiel, denn sie hielt sich ganz bewusst stets im Hintergrund. Noch hatten sie das Bett nicht miteinander geteilt, und er sagte sich, dass er das nicht mehr lange hinausschieben konnte. Sowohl seine Angehörigen wie auch die seiner Frau rechneten damit, dass sie Kinder bekamen. Bei diesem Gedanken stieg ihm ein bitterer Geschmack in den Mund. Fatima war ihm körperlich zuwider, und er konnte sich nicht vorstellen, diesen Akt mit ihr zu vollziehen. Der bloße Gedanke brachte ihn noch mehr auf, und er hatte die größte Lust, in die Küche zu gehen und sie zu schlagen. Doch er nahm sich zusammen. Hassan konnte es als persönliche Kränkung auffassen, wenn er seine Schwester ohne vernünftigen Grund schlug.

»Wir gehen raus«, sagte er und bedeutete ihr, ihm zu folgen.

Sie wagte nicht zu widersprechen. Stumm sah sie die Kinder an und bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, keine Fragen zu stellen, während sie sich die Djellaba glatt strich und ihm zur Haustür folgte.

Mohammed entspannte sich ein wenig beim Anblick der Gassen, in denen er seine Kindheit verbracht hatte und die von den unverwechselbaren Gerüchen erfüllt waren, die er von klein auf kannte.

Sie gingen die steilen Gassen des Albaicín in Richtung auf das Ufer des Genil hinab, wo sich um diese Stunde Gruppen von Jugendlichen in den umliegenden Lokalen trafen.

Bei der Erinnerung an die in Granada verbrachten Jahre, in denen er diese Lokale mit seinen Freunden aufgesucht hatte, stieß er einen tiefen Seufzer aus. Er überlegte, ob er Fatima davon berichten sollte, doch fühlte er sich ihr zu fremd, als dass er ihr seine Erinnerungen und Empfindungen anvertrauen mochte, und so verlor er sich wieder in seinen Gedanken, während er mit den Augen jeden sich neu auftuenden altvertrauten Anblick in sich einsog.

Mit einem Mal fiel ihm ein, dass ganz in der Nähe ein Lokal lag, in dem er sich oft mit seinen Freunden getroffen hatte. Sogleich lenkte er seine Schritte dorthin und bedauerte dabei zutiefst, dass Fatima bei ihm war. Das Palacio Rojo war kein Ort, an den man seine Ehefrau mitnahm. Dort kamen gewöhnlich die Kleindealer jenes Stadtviertels zusammen, bevor sie sich daranmachten, ihre Kundschaft auf der Straße zu suchen. Auch er war einer von ihnen gewesen, bevor er nach Deutschland gegangen war. Mit sechzehn Jahren hatte er angefangen, Haschisch unter die Leute zu bringen, und sich über das damit verdiente Geld gefreut.

Sein bester Freund Ali hatte ihm den Vorschlag gemacht, dass er den »Stoff« aus Marokko besorgen würde, den Mohammed und andere Freunde gegen eine gute Provision verkaufen sollten. Er hatte das Angebot ohne nachzudenken angenommen und schon bald darauf begonnen, die Ware nicht nur zu verkaufen, sondern auch zu konsumieren. Wenn er den schwärzlichen Rauch des Haschischs einsog, spürte er, wie sich seine Sinne schärften, und er hatte den Eindruck, dass ihm die Welt gehörte. Das Beste aber war, dass ihm seine Tätigkeit als Dealer Türen geöffnet hatte, die ihm sonst verschlossen geblieben wären. Mit einem Mal waren all die jungen Männer aus gutem Hause, die in den vornehmen Stadtvierteln wohnten, sozusagen als Bittsteller zu ihm gekommen, damit er sie mit »Stoff« versorgte, und hatten ihn gelegentlich sogar zu ihren Partys eingeladen. Bei diesen Gelegenheiten hatte er sich mit den hübschen jungen Mädchen bestens amüsiert, die sich im Tausch gegen Haschisch seine Liebkosungen gefallen ließen.

Er beschloss, rasch ins Palacio Rojo zu gehen, um zu sehen, ob er dort einen seiner früheren Bekannten antraf. Unter Umständen konnte er sogar etwas Haschisch kaufen. Genau das würde er brauchen, damit er es über sich brachte, mit Fatima ins Bett zu gehen. Niemand brauchte etwas davon zu merken. Ihm war bewusst, dass seine Tage bei der Gruppe gezählt wären, wenn Hassan dahinterkäme, dass er wieder seinem alten Laster verfallen war.

Bevor ihn Hassan nach Pakistan geschickt und in seine Organisation aufgenommen hatte, hatte er keinen Zweifel daran gelassen, dass er keine Drogen duldete, und ihm als mahnendes Beispiel bis ins Mark verrottete Ungläubige vorgehalten, die imstande waren, ihre eigene Mutter zu töten, um sich Drogen zu beschaffen.

Doch Hassan war fern, und alle erwarteten von ihm, dass er Fatima beglückte, wozu er sich ausschließlich nach dem Genuss einer ordentlichen Portion Haschisch imstande fühlte.

»Warte einen Augenblick hier. Ich will schnell mal nachsehen, ob da ein Bekannter drin ist.«

»Ganz allein?«, wagte Fatima zu fragen.

»Dir passiert schon nichts. Es dauert nicht lange.«

Er stieß die Tür auf und lächelte befriedigt, als er sah, dass alles wie immer war; sogar Paco stand noch hinter dem Tresen.

»Sieh mal einer an!«, rief Paco bei seinem Anblick. »Wo hast du nur gesteckt? Vor ein paar Jahren hast du gesagt, du hättest ein Stipendium, und seitdem hat man von dir nichts mehr gehört und gesehen.«

»Hallo, Paco. Wie stehen die Aktien?«

»Alles bestens. Alles wie immer. Na ja, ein paar von deinen Kumpels sind im Knast gelandet. Die wollten ein bisschen zu schlau sein.«

»Mit denen habe ich schon lange nichts mehr zu tun … Weißt du was von Ali und Pedro?«

»Ali ist ebenfalls verschwunden, Pedro sitzt in Córdoba. Man hat ihn mit einer Ladung Pillen erwischt, mit denen er halb Spanien hätte versorgen können.«

»Und von Ali weißt du also gar nichts?«

»Nur, was man sich so erzählt. Die einen sagen, er ist wieder in Marokko, die anderen, dass ihn die Bullen hopsgenommen haben und er irgendwo seine Strafe absitzt. Noch andere behaupten, dass er ein Fanatiker geworden ist und im Irak rumballert. Das kann man bei dem nie so genau wissen. Der war doch immer schon ein bisschen verdreht. Und was ist mit dir?«

»Nichts Besonderes. Ich hab in Deutschland zu Ende studiert und besuch jetzt meine Eltern. Ach ja, und ich bin verheiratet.«

»Wie kommst du bloß auf so was?«

»So sonderbar finde ich das nicht … Kennst du übrigens jemanden, der guten Stoff hat?«

»Schau an, der brave Ehemann. Na ja, kann mir ja egal sein. Bei dem dahinten am Tisch kriegst du alles. Er ist einer von euren Leuten.«

Mohammed überlegte einen Augenblick, ob er wirklich zu dem Mann gehen sollte, auf den Paco gewiesen hatte. Wenn man ihn nun erkannte und seinen Verstoß an Hassan berichtete? Doch dann beschloss er, das Risiko auf sich zu nehmen. Ohne Joint würde er es auf keinen Fall fertigbringen, mit Fatima zu schlafen.

Nach wenigen Minuten war der Handel abgeschlossen, und er verließ das Lokal, nicht ohne Paco zu versichern, dass er sich bald wieder einmal zeigen werde, obwohl er nicht die geringste Absicht dazu hatte.

»Komm, wir essen irgendwo ein bisschen, bevor wir nach Hause gehen.«

Überrascht sah ihn Fatima an. Mit einer solchen Einladung hätte sie nie gerechnet, denn sein Widerwille ihr gegenüber war ihr durchaus bewusst.

Schweigend gingen sie ein Stück weiter, bis sie ein kleines Lokal erreichten, von dem aus man die Alhambra sehen konnte. Er führte sie an einen Tisch in der hintersten Ecke und gab an der Theke seine Bestellung auf. Zwei Minuten später brachte ein Kellner ein Tablett mit zwei Gläsern Cola, einem Teller mit Brot und Käse und zwei Portionen Kartoffelomelette.

Sie aßen, ohne einander anzusehen, doch schließlich fragte Mohammed überraschend: »Was hältst du eigentlich von meiner Schwester?«

Fatima merkte, dass ihr Gesicht glühte, während sie nach Worten suchte.

»Ein braves Mädchen. Jetzt, wo du hier bist, benimmt sie sich sicher besser«, sagte sie, weil sie sein Missfallen fürchtete.

»Meine Eltern waren ihr gegenüber zu weich. Sie haben nicht verstanden, sie zu lenken, und jetzt … Ich finde ihr Verhalten beschämend.«

»Nein … du solltest nicht … Sie … sie ist ein braves Mädchen.«

»Ach was – ein dummes Stück ist sie! Ein Glück, dass wir hier sind und ich sie zurechtbiegen kann.«

Dann schwieg er. Mit einer Handbewegung verlangte er nach der Rechnung und stand auf, als sie beglichen war. Den ganzen Rückweg zum Albaicín legten sie schweigend zurück.

Das Haus lag im Dunkeln. Aus dem Zimmer seiner Eltern drang leises Gemurmel. Sie suchten ihr Zimmer auf, in dem die Kinder friedlich auf einer Matratze am Boden schliefen.

»Bring sie nach nebenan. Ich möchte nicht, dass sie hier sind.«

Überrascht hörte sie diesen Befehl. Ihr war klar, was er bedeutete. Wortlos weckte sie die Kleinen, brachte die Matratze ins Nebenzimmer, strich ihnen dort liebevoll über das Haar und forderte sie auf weiterzuschlafen. Dann kehrte sie seufzend nach nebenan zurück. Sie sagte nichts, als sie sah, dass Mohammed Haschisch rauchte. Sie setzte sich auf das Bett und wartete darauf, dass er ihr sagte, was sie zu tun habe. Im Stillen betete sie, dass das, was ihr bevorstand, nicht allzu unangenehm sein werde.

Das Blut der Unschuldigen: Thriller
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