21

Bei laufendem Motor und mit offener Tür saß Saul im Wagen und wartete auf David.

»Du hast dich verspätet«, knurrte er.

»Tut mir leid. Mir war nicht klar, dass Sie das mit dem Mitkommen ernst gemeint hatten.«

»Wie jeder von uns meine ich alles ernst, was ich sage. Hältst du das etwa für ein Spiel?«

»Tut mir wirklich leid, Entschuldigung.«

Sie schwiegen eine ganze Weile. David sah Saul aufmerksam an, der mit seinen Gedanken weit fort zu sein schien. Er wagte nicht, ihm eine Frage zu stellen, weil er fürchtete, eine unwirsche Antwort zu erhalten. Er hielt dessen Verärgerung für übertrieben, denn er hatte sich höchstens um zehn Minuten verspätet.

»Nimm die Pistole aus dem Handschuhfach«, forderte ihn Saul mit einem Mal auf.

Gehorsam öffnete er den Deckel und zog die Waffe aus ihrer Tasche. Als er sie Saul geben wollte, schüttelte dieser den Kopf.

»Die ist für dich. Ich habe meine schon eingesteckt. Die Straße nach Jerusalem ist nicht sicher. Vorgestern sind vier von unseren Leuten umgebracht worden.«

»Aber ich kann doch gar nicht gut schießen«, protestierte David. Angst überflutete ihn.

»Wenn man uns angreift, musst du zurückschießen. Wer sich nicht verteidigt, wird umgebracht. So einfach ist das.«

»Aber ich kann es nicht gut. Im Kibbuz hab ich noch nie auf jemanden schießen müssen.«

»Da hast du Glück gehabt. Anderen ist es nicht so gut gegangen. Du hast doch selbst gesehen, dass Bewohner des Kibbuz bei Scharmützeln verwundet worden sind.«

Sauls Ansicht nach gab es bei der Handhabung einer Pistole keine großen Geheimnisse, doch erklärte er David rasch, wie er damit umzugehen hatte.

Schweigend setzten sie die Fahrt fort, wobei sich Saul ständig sichernd umsah.

»Was weißt du über den jungen Palästinenser, mit dem du dich immer herumgedrückt hast?«, fragte er unvermittelt.

»Hamsa? Er ist mein Freund. Er bringt mir Arabisch bei, und ich ihm Französisch. Wir unterhalten uns aber auf Englisch. Das kann er besser als ich.«

»Ja, das haben wir hier alle lernen müssen, um uns mit den Briten verständigen zu können. Was weißt du noch über ihn?«

»Sicher wissen Sie mehr als ich. Ich habe ja gesehen, wie Sie sich mit seinem Vater Raschid unterhalten haben.«

»Wir kennen die Leute schon ziemlich lange. Sein Grundstück grenzt direkt an unseren Kibbuz. Wir haben mit den Leuten auch Handel getrieben, und unser Tor hat ihnen immer offen gestanden. Raschid ist ein anständiger Kerl, und sein Sohn dann ja wohl auch. Trotzdem wüsste ich gern, worüber ihr euch unterhaltet und wie er die Lage einschätzt.«

»Wir finden beide, dass Juden und Palästinenser sich einigen könnten, wenn man uns die Möglichkeit ließe, direkt miteinander zu verhandeln. Hamsa und ich sind der Ansicht, dass wir einen gemeinsamen Staat gründen sollten, eine Föderation. Falls das aber nicht geht, sollte man zwei getrennte Staaten ins Leben rufen. Nur kämpfen sollte man nicht.«

»Aber genau das wird er tun. Dafür werden die Einpeitscher schon sorgen. Machmud war bereits bei ihm.«

»Wer ist Machmud?«

»Einer der Anführer der palästinensischen Guerrillatruppen auf unserem Gebiet. Er hat schon mehrere Kibbuzim überfallen und Hinterhalte an der Straße gelegt. Er rekrutiert in den Dörfern und war auch schon in Raschids Haus. Fürs Erste hat er sich damit begnügt, Hamsa mitzunehmen.«

»Das kann gar nicht sein. Hamsa würde nie kämpfen! Er ist gegen den Krieg, weil er überzeugt ist, dass sich Probleme nicht mit Waffengewalt lösen lassen. Er liebt sein Land und möchte, dass es gedeiht, aber er ist überzeugt, dass wir dies Ziel erreichen können, ohne uns gegenseitig umzubringen.«

»Das sind alles Floskeln und gute Vorsätze. Du musst die Wirklichkeit sehen. Hamsa weiß, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als zu tun, was man ihm sagt.«

»Und was sagt man ihm?«

»Dass er uns töten und ins Meer werfen soll. So lautet die Formel der arabischen Anführer. Leider ist der Einfluss Amin Husseinis hierzulande nach wie vor beträchtlich. Er ist Großmufti von Jerusalem, hat sich mit den Nazis bestens verstanden und war bei Hitler hoch angesehen. Das wusstest du wohl noch nicht?«

»Nein.«

»Ja, es wird höchste Zeit, dass du dich mit den Gegebenheiten hier im Lande vertraut machst.«

David wollte protestieren, bekam aber keine Gelegenheit dazu.

»Festhalten!«

Bevor er die Aufforderung befolgen konnte, riss Saul das Steuer herum, so dass der Wagen auf die andere Straßenseite geriet. Der Fahrer eines Autos hinter ihnen, das David bisher nicht gesehen hatte, tat es ihm gleich.

»Festhalten!«

Wieder riss Saul das Steuer herum, so dass sie auf die ursprüngliche Straßenseite zurückkehrten. Der Fahrer des anderen Wagens war, wie es schien, weniger geschickt als er, denn das Fahrzeug schoss von der Straße ins freie Feld.

»Was war denn das?«, rief David aus, der vor Angst zitterte.

»Die saßen uns schon eine ganze Weile im Nacken. Es ist die einzige Art festzustellen, ob sie harmlos sind oder nicht.«

»Wir hätten dabei umkommen können.«

»Ja, entweder in einem Autounfall oder weil die uns erschossen hätten. Eine große Auswahl hat man da nicht, und manchmal gar keine.«

»Sie sind ja verrückt!«, schrie ihn David an.

»Werd bloß nicht hysterisch! Hast du nicht selbst gesagt, wir Juden dürften nicht zulassen, dass man uns weiterhin umbringt? Dass wir eine Heimat brauchen, ein Land, das uns gehört? Was glaubst du, wie wir das bekommen können?«, brüllte Saul zurück. »Glaubst du etwa, das schenken die uns? Jetzt sind die Völker der Welt wegen der sechs Millionen ermordeten Juden noch entsetzt, aber das werden sie im Laufe der Zeit vergessen. Wenn wir bis dahin nicht dafür sorgen, dass wir die Möglichkeit haben, uns selbst zu schützen, wird man uns wieder umbringen. Hast du eigentlich in all diesen Jahren nichts gelernt?«

David schwankte zwischen Wut und Demütigung. Das Leben in Palästina war für ihn nicht immer einfach gewesen. Zwar sah er die Entscheidung seines Vaters, ihn dorthin zu schicken, als richtig an, denn damit hatte er ihm das Leben gerettet, doch war der Preis dafür sehr hoch gewesen. Nicht nur hatte er ein behagliches Leben aufgegeben und die Menschen hinter sich gelassen, die ihn liebten, sondern auch hart arbeiten müssen. Er hatte Geschirr gewaschen, Säuglinge gewickelt, Zäune geflickt, Tiere gefüttert und sich die Hände auf dem Acker wund gearbeitet … Gewiss, er war überzeugt, dass die Juden kämpfen mussten, um das Land behalten zu dürfen, auf dem sie lebten, doch hatte er diesen Kampf immer als etwas Abstraktes gesehen. Jetzt aber hieß es, er müsse lernen zu töten, und er machte sich Vorwürfe wegen seiner Bedenken, die er dabei hatte. Immerhin war es noch gar nicht lange her, dass er davon geträumt hatte, in die Hagana eintreten zu dürfen.

Die Freundschaft mit Hamsa hatte seinen Sinneswandel bewirkt. Je mehr sie einander vertrauten und über ihre Vorstellungen miteinander sprachen, desto größer war sein Wunsch geworden zu verhandeln, statt zu kämpfen, mit Worten eine Verständigung über die unlösbar scheinenden Fragen herbeizuführen. Waren Hamsa und er etwa Dummköpfe?

Saul irrte sich, wenn er annahm, David habe seit seiner Ankunft in Palästina nichts gelernt. Er hatte begriffen, dass er einer Gesellschaft angehörte, die er bis vor nicht allzu langer Zeit als Fremdkörper empfunden hatte. Ihm war aufgegangen, dass er sich in dem Land befand, aus dem eines Tages seine Vorfahren aufgebrochen waren, und dass für sein Volk die einzige Möglichkeit zu überleben darin bestand, dorthin zurückzukehren. Ihm war durchaus bewusst, dass im Gelobten Land kein Manna vom Himmel fiel und alles, was sie ernteten, Arbeit und Schweiß kostete. Außerdem hatte er die Einsamkeit kennengelernt.

»Wir alle werden kämpfen müssen. Jetzt geht es wieder einmal um unser Überleben und nicht mehr einfach darum, dass wir uns gegenüber den Briten behaupten. Entweder kämpfen wir, um hierbleiben zu können und ein Stück von diesem Land zu bekommen, einen eigenen Staat, oder wir werden erneut über die ganze Welt verstreut in der Diaspora leben müssen, bis man uns wieder einmal umbringt. Es tut mir leid, aber so ist es.«

Diese letzten Worte Sauls klangen resigniert. Nach einer Weile ergriff David das Wort.

»Woher wissen Sie, dass dieser … Machmud bei Hamsa und seinem Vater war?«

»So etwas mitzubekommen gehört zu meiner Aufgabe. Ich bin für die Sicherheit des Kibbuz verantwortlich.«

»Sie bespitzeln also Raschid und seine Familie.«

»Dein Leben und das aller anderen im Kibbuz kann von dem abhängen, was ich weiß oder nicht weiß. Bisher gab es keine besonderen Probleme – ich habe dir ja schon gesagt, dass ich Raschid für einen anständigen Kerl halte. Aber er wird gehorchen müssen, und das ist ihm ebenso klar wie mir.«

»Bisher hat man mir nicht zugetraut, dass ich etwas für die Verteidigung des Kibbuz tun kann.«

»Doch. Du bist Streife gegangen wie alle anderen. Wenn man uns angegriffen hätte, hättest du uns verteidigen müssen.«

»Und warum hat man mich noch nicht aufgefordert, in die Hagana einzutreten?«

»Alles zu seiner Zeit.«

»Aber manche von den jungen Leuten hat man schon aufgenommen.«

»Du musst lernen hinzunehmen, was entschieden wird. Wenn wir dich bisher nicht dazu aufgefordert haben, liegt das daran, dass du unserer Ansicht nach noch nicht so weit bist.«

»Wieso das? Meinen Sie, ich könnte kein guter Soldat sein?«

»Das lernt man. Ihr werdet alle lernen zu schießen, mit Sprengstoffen umzugehen und die Waffen einzusetzen, über die wir verfügen. Leider sind es viel zu wenige. Um zur Hagana zu gehören, musst du … na ja, du wirst es schon noch lernen.«

»Halten Sie mich für schwächlich? Meinen Sie, ich bin nicht tapfer?«

»Nein, das ist es nicht. Du bist ein Überlebender der Shoah und hast deine Tapferkeit bewiesen.«

»Haben wir wirklich so wenig Waffen, dass wir selbst welche herstellen müssen?«, fragte David, um das Thema zu wechseln.

»Du weißt ja, dass wir über einige britische und polnische Gewehre verfügen, aber niemand wollte uns bisher auch nur eine einzige Pistole verkaufen. Daher haben wir nach dem Krieg angefangen, insgeheim kleine Fabriken einzurichten, in denen wir Munition und Faustfeuerwaffen herstellen. Aber wir brauchen viel mehr, und so wird unser Kibbuz demnächst eine Werkstatt bekommen, in der wir dann alle arbeiten müssen.«

Saul hielt unvermittelt an und forderte David auf auszusteigen. In der Ferne zeichnete sich die Silhouette von Jerusalem im Schatten der Mittagssonne ab. Aus dieser Entfernung schien alles friedlich zu sein. Nach einigen Minuten, in denen keiner der beiden etwas sagte, erinnerte das Meckern einer Ziege sie daran, wo sie waren.

»Wir müssen weiter. Ich will nicht zu spät kommen.«

»Sie haben mir noch nicht gesagt, wohin wir fahren.«

»Das wirst du schon sehen.«

Er fuhr ein Stück weiter und bog kurz vor der Stadt in einen Feldweg ein, der sie zu einem umzäunten Grundstück führte, auf dem inmitten von Obstbäumen und Palmen ein einstöckiges gelbliches Gebäude stand.

Saul wartete vor dem Tor der Umzäunung. Schon bald erschienen zwei mit Gewehren bewaffnete Palästinenser mit einer Kuffiya auf dem Kopf, was Saul aber nicht zu beunruhigen schien. Sie sahen her und öffneten das Zufahrtstor. Einer lächelte.

Auf dem großen Gelände sah man noch weitere Bewaffnete. Hinter dem Haus erstreckte sich ein großer Obst- und Gemüsegarten, in dem Kinder laut lachend und rufend spielten. Ein Junge von höchstens zwölf oder dreizehn Jahren löste sich aus der Gruppe und kam winkend auf den Wagen zugerannt.

»Saul! Ich freu mich!«

»Hallo, Ibrahim. Rätst du, was ich mitgebracht habe?«

»Du hast an meinen Geburtstag gedacht?«

»Natürlich! Hier, pack aus und sag mir, ob es dir gefällt.«

Saul sprach Arabisch mit dem Jungen, und David war froh, dass er dank Hamsas Unterrichts im Großen und Ganzen mitbekam, worum es ging. Ihn verblüffte die Vertrautheit zwischen dem Palästinenserjungen und Saul ebenso wie der freundliche Empfang durch die bewaffneten Männer.

Eine westlich in Bluse und langen Rock gekleidete Frau von etwa Mitte dreißig trat auf die Schwelle. Sie hatte schwarze Augen und tiefschwarze lange Haare.

»Saul, wie schön! Du kommst gerade rechtzeitig zum Kaffee. Tee magst du ja nicht.«

Er fasste ihre beiden Hände, die er kräftig drückte, dann stellte er ihr seinen jungen Begleiter vor. »David Arnaud. Er stammt aus Frankreich und lebt schon eine ganze Weile bei uns.«

»Im Kibbuz?«

»Ja. Seine Mutter ist in Deutschland umgekommen.«

»Das tut mir sehr leid«, sagte sie und reichte ihm freundlich die Hand. »Es fällt einem schwer zu glauben, was da alles passiert ist…«

David wusste nicht, was er sagen sollte. Stumm erwiderte er ihr Lächeln.

»Kommt rein. Abdul spricht gerade mit einigen Männern, will dich aber gleich anschließend sehen. Er weiß, dass du da bist.«

Die Frau verschwand durch eine Tür und bedeutete ihnen mit einer Handbewegung, im Vorraum zu warten. David war überrascht von der Eleganz, die im Inneren des Gebäudes herrschte. Bald darauf öffnete sich eine weitere Tür, und ein hochgewachsener Mann von dunkler Hautfarbe in Anzug und Krawatte breitete die Arme aus, um Saul zu begrüßen.

»Tritt ein, mein Freund. Ich habe gar nicht mit dir gerechnet. Ein wahres Glück, dass du gekommen bist, denn es sind gerade einige weitere gute Freunde da. So können wir miteinander über die Situation reden.«

David merkte, dass der Mann, den die Frau Abdul genannt hatte, eine besondere Ausstrahlung besaß. Mit eleganten Bewegungen wandte er sich an David und sprach ihn mit dem Akzent der Oberschicht auf Englisch an, bis ihm Saul mitteilte, er verstehe ein wenig Arabisch.

Sie traten in einen großen Salon, dessen Mitte von einem riesigen Tisch beherrscht wurde, um den herum eine Anzahl niedriger Sofas stand. Zehn Männer, die teils Kaffee, teils Tee tranken, unterhielten sich lebhaft miteinander.

Sie begrüßten die Besucher voll Herzlichkeit.

Nach wenigen Minuten unverbindlichen Plauderns ergriff Saul das Wort. »Wir stehen kurz davor zu erreichen, dass die Vereinten Nationen die Einrichtung zweier Staaten vorschlagen. Dieser Lösung werden wir zustimmen, denn sie ist gut für alle. Aber in letzter Zeit häufen sich die schlechten Nachrichten. Immer wieder werden Kibbuzim überfallen, die Straße nach Jerusalem ist für uns zu einer Falle geworden, die einigen unserer Leute schon zum Verhängnis geworden ist, denn man hat sie mit Maschinenpistolen getötet … Was könnt ihr mir dazu sagen, Freunde?«

Schweigend und besorgt hatten ihm die Männer zugehört. An Abduls Stelle antwortete ihm ein älterer Mann, der eine Kuffiya trug.

»Wir sind nicht alle einer Meinung. Viele von uns wollen euch nicht hierhaben. Zuerst wart ihr wenige, dann sind immer mehr gekommen. Unsere Leute haben Angst, dass ihr das ganze Land an euch bringen wollt und wir für das bezahlen müssen, was die Nazis getan haben.«

»Und was denkst du?«, fragte Saul.

»In diesem Land konnte man noch nie in Frieden leben, aber es gehört uns. Wir waren schon immer hier. Ich bin der Überzeugung, dass wir in Frieden miteinander leben könnten, aber es gibt bedeutende Kräfte, die anderer Ansicht sind und keinen jüdischen Staat in unserem Land haben wollen. Was können wir da tun?«

»Immer wieder darauf hinweisen, dass wir in Frieden miteinander leben können.«

»Und können wir das?«, fragte der Ältere.

»Es ist unser Wunsch. Wir brauchen nur eine Heimat.«

»Um den Preis, dass man uns die unsere nimmt?«

»Bevor meine Glaubensgenossen herkamen, war dies Land nicht frei. Deine Familie hat schon immer hier gelebt, wie auch meine, und wir haben die Briten, die Türken, die Tataren und vor ihnen andere ertragen, Araber und Römer … Aber wir glauben, dass wir gemeinsam in Frieden leben können.«

»Unsere religiösen Führer sehen das anders«, erwiderte der Alte.

»Euer oberster Führer Amin Husseini hat mit den Nazis paktiert, das wisst ihr sehr gut. Er war ein Freund Hitlers und hat viele der Euren mit seinem Hass gegen uns vergiftet. Aber jetzt ist die Stunde gekommen, den Verrückten ein ›Nein‹ entgegenzuschleudern.«

»Das ist nicht so einfach, Saul«, gab Abdul zu bedenken. »Meinst du, wir hätten das nicht versucht? Viele von uns reisen seit Wochen von einem Ort zum anderen, reden und reden. Aber wir sind uns nicht einig, und diejenigen von uns, die auf dem Standpunkt stehen, dass ein gemeinsames Leben unserer beiden Völker möglich ist, leben in der ständigen Furcht, als Verräter gebrandmarkt zu werden. Man fragt uns: ›Warum sollen wir unser Land eigentlich herschenken?‹ Die anderen sagen: ›Die Juden überrennen uns, drängen uns in die Ecke. Sie werden alles an sich reißen …‹«

»Du weißt, Abdul, dass wir alles Land, das wir besitzen, gekauft haben, soweit es uns nicht schon vorher gehört hat. Wir haben weder jemandem etwas fortgenommen, noch wollen wir alles an uns bringen. Wir brauchen nur ein Stück Erde, um eine Heimat zu haben, einen Staat zu gründen. Das ist der geeignete Augenblick für euch, ebenfalls einen Staat zu gründen, damit ihr nicht länger von anderen abhängig und ihnen untertan seid. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, dass ihr und wir gemeinsam die Zügel in die Hand nehmen und selbst über das Geschick unserer Völker entscheiden.«

»Das wird nicht möglich sein«, sagte der Alte.

»Nein, nur wenn beide Seiten es wollen«, bekräftigte Saul.

Schweigend hörte David zu. Wenn die Männer schnell sprachen, verstand er nicht alles, aber genug, um zu erkennen, dass sie und Saul Freunde waren, einander kannten und achteten. Er begriff, dass es zu keiner Auseinandersetzung käme, wenn die Entscheidung ausschließlich von ihnen abhinge.

»Und warum nicht ein palästinensischer Staat, in dem ihr Juden leben könnt?«, regte ein Mann in mittleren Jahren an, der gleich Abdul westlich gekleidet war.

»Nein, Hatem«, gab Saul zur Antwort. »Wir wollen in keinem Staat leben, der nicht der unsere ist. Wenn du darin regierst, weiß ich, dass mich niemand verfolgen wird. Was aber, wenn ein anderer zu bestimmen hat? Wir Juden brauchen eine eigene Heimat, und die kann nur das Land sein, das es immer schon war. Von hier sind viele meiner Angehörigen fortgegangen, die jetzt zurückkehren, und andere sind geblieben. Wir sagen, dass wir gemeinsam hier leben können, dass eure Leute mit den Überfällen auf die Kibbuzim aufhören müssen. Wir brauchen einander nicht zu bekämpfen. Noch ist es Zeit, einen Krieg zu vermeiden.«

»Bist du sicher, dass die Vereinten Nationen euch gestatten werden, einen Staat zu gründen?«, fragte Hatem.

»Höchstwahrscheinlich. Die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Frankreich unterstützen den Antrag. Hat es da einen Sinn, dass ihr euch dagegenstellt? Das würde zum Krieg führen, und wir würden alles verlieren, ihr aber auch. Ihr müsstet uns alle umbringen, dürftet keinen einzigen Juden am Leben lassen, denn jeder würde kämpfen. Diesmal lassen wir uns nicht einfach abschlachten. Dazu wird es nie wieder kommen.«

So ging es eine ganze Weile hin und her, ohne dass sie zu einer Einigung gelangt wären. Von Zeit zu Zeit brachte ein Diener Wasser, Tee, Kaffee und Obst.

David streckte sich in seinem Sessel. Die endlos sich immer wieder im Kreis drehende Diskussion ermüdete ihn.

Als sich die Palästinenser nach einigen Stunden verabschiedeten, waren Saul und David mit Abdul allein.

»Schade, ich habe verloren«, gestand Abdul und hob ohnmächtig die Hände.

»Also …«

»Also stehen wir auf verschiedenen Seiten, werden uns bekämpfen und töten, ohne dass dein oder mein Tod etwas bewirken könnte.«

»Wirst du kämpfen?«

»Ich muss da sein, wo meine Leute sind, auch wenn sie den falschen Standpunkt vertreten. Du würdest es ebenso machen.«

»Ja, Abdul. Ich werde beten, dass wir einander in keiner Schlacht begegnen.«

»Das werde auch ich tun, denn ich würde es mir nie verzeihen, wenn ich dich töten müsste, mein Bruder.«

Beide sprachen mit bewegter Stimme. David begriff, dass ihre Zuneigung ebenso tief wie ungeheuchelt war, und er fragte sich, worauf sie zurückzuführen sein mochte. Er hatte angenommen, dass Saul seine Freundschaft mit Hamsa nicht verstehen könne, und entdeckte jetzt überrascht, dass zwischen Abdul und diesem Mann, den er für so hart gehalten hatte, ein offenbar unzerreißbares Band existierte.

»Bleibt über Nacht.«

»Das geht nicht. Ich muss noch einige Besuche machen«, sagte Saul.

»Wir werden nicht mehr oft Gelegenheit haben, einander zu sehen«, klagte Abdul.

»Wir werden uns darum bemühen. Glaubst du, jemand könnte unsere Freundschaft zerstören? Selbst wenn wir uns gegenseitig umbringen müssten, würden wir Freunde bleiben. Ich trage dich auf immer in meinem Herzen. Schließlich verdanke ich dir das Leben«, erinnerte ihn Saul und lachte.

»Du warst schon immer leichtsinnig!«, gab Abdul zurück und erwiderte das Lachen.

»Als wir klein waren, bin ich in einen tiefen Bewässerungsgraben gefallen«, erläuterte Saul, der Davids fragenden Blick gesehen hatte. »Ich konnte nicht schwimmen, und er auch nicht, trotzdem ist er ins Wasser gesprungen und hat mich herausgeholt. Ich weiß nicht, wie er das geschafft hat, denn ich habe mich ganz fest an seinen Hals geklammert, aber Abdul hat wie ein Hund gepaddelt, damit wir beide nicht untergingen. Dann hat er einen steinernen Vorsprung zu fassen bekommen, der ins Wasser ragte, und hat mich rausgezogen. Ich glaube, ich habe seither kein Wasser mehr getrunken.«

»Ich auch nicht, mein Freund, ich auch nicht …«

Die beiden unterhielten sich noch eine Weile über andere Vorfälle aus ihrer Kindheit und lachten gelegentlich, doch David merkte, dass in ihrem Lachen Trauer mitschwang.

Kurz vor Sonnenuntergang verabschiedeten sie sich von Abdul und dessen Frau. Die tiefe Gemütsbewegung der beiden Männer und die Trauer der Frau waren förmlich mit Händen zu greifen.

Während sie ins Auto stiegen, rief Abdul: »Vergiss nicht, Saul, das hier ist immer dein Haus! Hier bist du in Sicherheit, ganz gleich was passiert!«

Noch einmal kehrte Saul zum Haus zurück, um den Jugendfreund zu umarmen. Es erstaunte David zu sehen, dass diese beiden Männer so gerührt waren, die demnächst gegeneinander würden kämpfen müssen.

 

Mit den Worten »Hier habe ich früher gewohnt« wies Saul auf das Haus, vor dem sie angehalten hatten. Es war dem Abduls sehr ähnlich.

»Jetzt wohnt hier keiner meiner Angehörigen mehr … Meine Eltern sind gestorben, und seit ich mit den Gruppen unserer Glaubensgenossen zusammenarbeite, die ins Land kommen, lebe ich im Kibbuz oder ziehe im ganzen Land umher, um zu helfen, wo man mich braucht.«

Durch das Tor, das deutlich niedriger war als das vor Abduls Haus und aus dem kein Bewaffneter herauskam, fuhr er bis unmittelbar vor das Haus. Als der Wagen anhielt, kam ein alter Mann in der landesüblichen Tracht mit einer Kuffiya auf dem Kopf heraus.

»Saul!«

Die beiden umarmten einander und traten dann ins Haus, ohne auf David zu achten, der ihnen neugierig folgte.

Eine verschleierte Palästinenserin schob den Mann beiseite, um Saul ebenfalls umarmen zu können.

»Wir haben dich so lange nicht gesehen! Was war mit dir?«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Ich hatte viel zu tun«, erklärte Saul in entschuldigendem Ton. »Aber in Gedanken bin ich stets bei euch.«

»Du kannst beruhigt sein, wir hüten dein Haus, als wenn es das unsere wäre«, versicherte ihm der Alte.

»Das weiß ich.«

Die Frau eilte fort und kam bald mit einem Tablett zurück, das sie auf den großen Wohnzimmertisch stellte. Es enthielt Wasser, Tee, Obst und Konfekt.

David fiel auf, dass auch die Einrichtung der in Abduls Haus ähnelte.

Sie setzten sich, und Saul hörte dem Mann geduldig zu, der über die Ernte sprach, über das Neueste aus der Nachbarschaft und über die Schmerzen, die ihm das Alter bereitete.

»Es wird Krieg geben, Marwan.«

»Ich weiß, Saul, ich weiß. Aber wir bleiben hier, damit du dein Haus behältst.«

»Das möchte ich nicht von dir verlangen.«

»Das ist auch gar nicht nötig. Wir haben das selbst so beschlossen. Meine Frau ist einverstanden, und meine Kinder … wie das so ist – die einen sind dafür, die anderen dagegen. Aber wir gehen nicht von hier fort. Es ist in gewisser Weise auch unser Haus. Hier bin ich zur Welt gekommen, und hier sind meine Kinder geboren worden. Mein Großvater und mein Vater haben hier gelebt und deinen Großeltern und Eltern bei der Landarbeit geholfen.«

»Ja, Marwan. Wir waren immer Freunde, doch jetzt …«

»Jetzt gibt es Krieg, aber das hat mit uns nichts zu tun. Wir bleiben hier und hüten dein Haus. Danach kommst du wieder her. Alle Kriege hören einmal auf, Saul, alle.«

Die beiden besprachen, was es im Haus und auf dem Lande zu tun gab, dann übergab Saul zu Davids großer Überraschung Marwan einen hohen Geldbetrag.

»Aber das brauchen wir doch gar nicht! Ich habe bekommen, was du geschickt hast. Die Abrechnung mache ich noch.«

»Die brauche ich nicht. Das hier ist für den Fall, dass etwas passiert. Es ist besser, wenn du etwas auf der hohen Kante hast. Ich weiß nicht, wann ich wiederkommen kann.«

»Aber das ist viel zu …«

»Ich hoffe, es genügt.«

Die Frau wollte unbedingt, dass sie zum Abendessen blieben und im Haus übernachteten. Nach längerem Zögern ließ sich Saul dazu überreden, erklärte aber, dass sie zuvor noch dies und jenes zu erledigen hatten.

 

»Wohin fahren wir jetzt?«, fragte David.

»Zu einem Kibbuz in der Nähe. Ich muss mit einigen Vertretern der Hagana sprechen. Sie erwarten mich um sieben.«

»Und was soll ich tun?«

»Es kann dir nichts schaden, wenn du dir anhörst, was die Leute zu sagen haben.«

»Was ist eigentlich mit den Palästinensern in Ihrem Haus? Sie scheinen Sie sehr zu mögen.«

»Ich kenne sie seit frühester Jugend und würde ihnen mein Leben anvertrauen.«

»Und wieso werfen Sie mir dann vor, dass ich mich mit Hamsa angefreundet habe?«

»Ich habe dir nichts vorgeworfen, sondern dich lediglich auf das hingewiesen, was passieren wird. Abdul und ich sind Freunde. Wir sind gemeinsam aufgewachsen, hatten dieselben Lehrer, haben uns zum ersten Mal in dasselbe Mädchen verliebt, eine Kusine Abduls, aber wir wissen, dass wir gegeneinander werden kämpfen müssen. Du hast selbst gehört, wie er das gesagt hat.«

»Das kommt mir alles ziemlich verrückt vor. Da haben wir palästinensische Freunde, trotzdem greifen sie uns an, wir verteidigen uns, bringen sie um, sie bringen uns um …«

»Ja, manchmal fällt es sogar mir schwer, das zu verstehen. Aber eigentlich ist es ganz einfach. Das hier ist unser Vaterland, dann sind die Römer gekommen, haben es erobert, und seither ist es immer wieder neu erobert worden. Viele Juden sind im Laufe der Jahrhunderte fortgegangen und haben sich woanders niedergelassen, sind dort mit der Bevölkerung verschmolzen, haben sich anderen Ländern zugehörig gefühlt, sich aber immer hierher zurückgesehnt. Ich will dir keine Lektion in Geschichte erteilen und von den Pogromen oder der Inquisition bis hin zur Shoah reden. Jedenfalls geht es jetzt darum, dass wir unser Vaterland zurückgewinnen, damit es auf der ganzen Welt keinen Juden ohne Heimat mehr gibt.«

»Ich habe mich als Franzose gefühlt, ausschließlich als Franzose, bis meine Mutter verschwunden ist. Ich habe mich überhaupt nicht als Jude gefühlt, und mir war nicht im Geringsten klar, was es bedeutet, einer zu sein.«

»Jetzt weißt du, was es bedeutet.«

»Unterscheiden wir uns denn so sehr von anderen Menschen, dass wir uns mit ihnen nicht verständigen können?«

Saul überlegte einen Augenblick, bevor er antwortete.

»Der Unterschied dürfte darin liegen, dass die meisten Juden hier aus den westlichen Ländern kommen. Eure Art, die Dinge zu sehen und anzupacken, ist westlich geprägt. Da liegt der Unterschied, der unüberbrückbar erscheint. Ich bin hier zur Welt gekommen wie alle meine Angehörigen, und so gehöre ich eher dem Orient an als dem Westen. Ich begreife die Ängste der Menschen hier und weiß daher auch, dass unausweichlich ist, was geschehen wird,«

»Sie haben aber versucht, Abdul zu überzeugen.«

»Abdul ist ein Scheich, den viele andere Scheichs hoch achten. Sie hören auf ihn. Er und ich geben uns keinen Täuschungen hin. Wir wissen, was an uns gut und böse ist, was wir lieben, und was wir verteidigen wollen. Seine Leute haben Nein gesagt, und er wird auf ihrer Seite stehen, auch wenn er überzeugt ist, dass sie Unrecht haben. Leben und Tod haben hier im Orient nicht denselben Stellenwert wie bei euch im Westen. Das verstehen die Menschen dort nicht, und du auch nicht.«

 

Sie erreichten einen befestigten Kibbuz am Rande der Wüste von Judäa. Bewaffnete patrouillierten unübersehbar auf dem Gelände.

Saul ließ David bei einer Gruppe von jungen Leuten zurück, während er an einer Sitzung von Hagana-Vertretern teilnahm. Die anderen führten David durch den Kibbuz, der deutlich größer war als seiner, und fragten ihn, was seine Leute zu tun gedachten, wenn man sie angriffe. Viele von ihnen gehörten der Hagana an und machten sich Sorgen über das, was die Zukunft bringen werde.

Eine Stunde später holte Saul ihn wieder ab.

»Es ist eine Dummheit, nach Jerusalem zurückzufahren, aber Marwan und seine Frau würden es mir nicht verzeihen, wenn wir nicht kämen. Außerdem, wer weiß, wann ich je wieder im eigenen Haus werde schlafen können.«

Auch in jener Nacht fand David keinen Schlaf. Warum ihn Saul wohl mitgenommen hatte? Mit Sicherheit hatte er einen Grund dafür. Saul war kein Mann, der etwas Sinnloses tat.

Das Blut der Unschuldigen: Thriller
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