15

Carmen und Paula beobachteten durch die Scheibengardine den Mann auf dem gegenüberliegenden Gehweg, der die Eingangstür des Hauses nicht aus den Augen ließ, in dem sich ihre Kanzlei befand. Im Nebenraum hielt sich Laila mit den Frauen auf, die in immer größerer Zahl kamen, voll Begeisterung, ihrer Auslegung des Korans zuzuhören.

Die beiden Anwältinnen befürchteten, dass der Mann ihnen Schwierigkeiten machen würde, und hatten zugleich Angst, dass Laila etwas zustoßen könnte, auch wenn sie das nicht laut zu sagen wagten.

»Ist das nicht Mohammed?«, fragte Paula und wies auf die Einmündung der Nebenstraße, an der Lailas Bruder auftauchte.

»Möglich. Ich kann es nicht sagen. Ich habe ihn lange nicht gesehen … », gab Carmen zurück.

Wortlos sahen sie einander an, als sie merkten, dass Mohammed und der Mann auf dem Gehweg gegenüber einander einen verschwörerischen Blick zuwarfen. Dann betrat Mohammed das Haus, und schon bald darauf klingelte es an der Tür.

»Das ist er dann wohl«, sagte Carmen. »Ich geh und mach auf.«

Er trat den beiden Freundinnen seiner Schwester reserviert gegenüber und ging einsilbig auf das ein, was sie sagten. Sie baten ihn, in einem der Räume zu warten, während sie Laila seine Ankunft mitteilten.

Er sah die beiden unbehaglich an. Fast tat es ihm leid, dass er gekommen war, um seiner Schwester zu sagen, dass er bereit sei, sie zu dem angeblich heiligen Mann zu begleiten.

Nach einer Weile hörte er Frauenstimmen, die Arabisch sprachen. Er hätte gern genauer hingehört, doch die beiden Anwältinnen stellten ihm Frage auf Frage und lobten zugleich Laila in den höchsten Tönen.

»Sie ist eine glänzende Anwältin«, erklärte ihm Paula. »Die meisten Frauen, die herkommen, um sich scheiden zu lassen, wollen sich von ihr vertreten lassen. Laila hat eine ganze Reihe von Prozessen gewonnen, und so empfiehlt die eine sie der nächsten weiter.«

»Gerade heute ist vom Gericht die Mitteilung gekommen, dass sie wieder einen Fall gewonnen hat«, fügte Carmen hinzu. »Eine schreckliche Geschichte von häuslicher Gewalt. Der Mann hat die Frau vor den Augen der Kinder verprügelt. Die armen Kleinen haben entsetzlich gelitten, weil sie mit ansehen mussten, wie ihre Mutter verzweifelt weinte. Der Mann hat alles bestritten, aber deine Schwester hat mit Bienenfleiß Beweise gesammelt und nachgewiesen, dass das Leben in jenem Haus für die Frau die Hölle war.«

Schließlich öffnete sich die Tür zu Carmens Büro, und Laila trat ein. Verblüfft sah sie auf ihren Bruder. Sie schien nicht zu wissen, was sie sagen sollte. Mohammed stand auf und versuchte zu lächeln, weniger, weil ihm danach zumute war, als weil er sich dazu verpflichtet fühlte.

»Ich bin gekommen, um dich abzuholen. Ich würde gern den Mann kennenlernen, von dem du gestern gesprochen hast. Ich weiß nicht, ob du jetzt Zeit hast.«

»Doch … natürlich … meine Versammlung ist zu Ende, und ich habe keinen dringenden Termin. Eigentlich wollte ich noch eine Weile hier arbeiten, bevor ich gehe, aber das kann auch bis morgen warten.«

»Dann also los«, sagte Mohammed ziemlich ruppig.

Sie verabschiedeten sich von Lailas Kolleginnen und verließen schweigend das Haus. Beide fühlten sich unbehaglich. Suchend sah sich Mohammed um, doch der andere schien nicht mehr dort zu sein. Er wusste selbst nicht, warum er sich erleichtert fühlte.

»Wer ist denn dieser heilige Mann?«, wollte er wissen.

»Du kennst ihn, erinnerst dich aber vielleicht nicht an ihn.«

»Wie heißt er?«

»Jalil al-Basari.«

»Den kenne ich nicht.«

»Er kommt aus Fez, lebt aber schon lange hier in Granada. Als wir klein waren, hat ihn unser Vater bei einem seiner Besuche hier zu uns eingeladen. Er ist ab und zu hergekommen, um seine Tochter zu besuchen, die mit einem Spanier verheiratet ist. Nach dem Tod seiner Frau hat er Fez verlassen und wohnt seitdem bei seiner Tochter und ihrem Mann.«

»Und solche Leute soll ich kennenlernen?«

»Es sind gute Menschen. Jalil ist Lehrer in einer Medresse und ein ebenso angesehener alim, wie er es in Marokko war. Er will Frieden und Verständigung zwischen den Menschen. Alle Menschen sollen einander achten. Außerdem tritt er für die Rechte von uns Frauen ein.«

»Ich glaube nicht, dass es für mich der Mühe wert ist, diesen Jalil kennenzulernen, wenn er so denkt. Solche Leute gehören nicht zu uns.«

»Urteile nicht über ihn, ohne ihn zu kennen. Vertrau mir. Du wirst sehen, wie tröstlich seine Worte sind, und dein Glaube an den Allbarmherzigen wird noch zunehmen.«

»Wo lebt der Mann?«

»Hier ganz in der Nähe, in der Stadtmitte.«

»Und wieso nicht auf dem Albaicín?«

»Ich habe dir ja schon gesagt, dass er im Haus seiner Tochter wohnt, die mit einem Spanier verheiratet ist. Sie unterrichtet an einer staatlichen Schule, die von vielen Kindern aus unserer Heimat besucht wird. Sie bringt ihnen Spanisch bei und macht sie mit den hiesigen Bräuchen vertraut, weil sie Brücken zwischen den beiden Ländern bauen will. Sie ist sehr liebenswert und ständig gut gelaunt.«

»Und was macht ihr Mann?«

»Carlos hat einen Laden, in dem er Kaffee, Tee und Gewürze verkauft. Ein guter Mann, der seine Frau achtet. Sie haben drei kleine Kinder. Du wirst sie kennenlernen.«

Er folgte ihr zu einem Gebäude, in dessen Erdgeschoss sich der Laden von Jalils Schwiegersohn befand, ein großer, heller Raum mit mehreren Regalreihen.

Laila trat ein und begrüßte den Inhaber. Er gab Mohammed die Hand und bat beide in den Raum hinter dem Laden, wo seine Frau Salima dabei war, für ihren Vater Jalil Tee zu machen. Zu Mohammeds Überraschung trug sie eine Hose, ganz wie die Frauen der Ungläubigen.

Während Laila und Salima einander umarmten, sagte Laila: »Das ist mein Bruder, von dem ich euch erzählt habe. Ich möchte, dass ihr ihn kennenlernt.«

Jalils Hände lagen im Schoß. Sein Blick war in die Ferne gerichtet. Das Aussehen des Alten mit seiner makellos weißen Djellaba aus feiner Wolle beeindruckte Mohammed. Ihm fiel auf, dass der Mann ungewöhnlich lange Finger hatte. Nach einer Weile bewegte er den Kopf in Richtung der Geschwister und sagte mit freundlichem Lächeln: »Du also bist Mohammed. Laila hat uns viel von dir erzählt.«

»Es ist eine Ehre, Sie kennenzulernen«, sagte Mohammed unsicher.

Der Alte schien den inneren Aufruhr des jungen Mannes zu spüren und sagte: »Setz dich her. Ihr trinkt doch bestimmt eine Tasse Tee mit uns. Salima, mein Kind, könntest du unseren Freunden Tee eingießen?«

»Ja, Vater, gleich. Möchtet ihr etwas Konfekt? Ich habe es selbst gemacht.«

»Was machst du, Mohammed?«, fragte Jalil, dem klar war, dass der Besucher mit einer so direkten Frage nicht gerechnet hatte.

»Im Augenblick mache ich Ferien, aber ich habe Touristik studiert und in Deutschland gearbeitet.«

»Hast du die Absicht, lange hierzubleiben?«

»Kommt drauf an … Vielleicht muss ich bald weg, aber ich weiß es noch nicht.«

»Aha«, sagte der Alte und schlürfte seinen Tee.

Laila merkte, dass sich ihr Bruder unbehaglich fühlte, beschloss aber, nichts zu tun, um die Situation zu entspannen. Sie begriff, dass er Jalil gegenüber gehemmt war und es ihn überraschte, Salima westlich gekleidet und ohne Kopftuch zu sehen.

»Morgen kommt eine Frau zu dir, der ich dich empfohlen habe«, sagte Salima zu Laila. »Sie ist die Mutter zweier meiner Schülerinnen. Ich habe ihr klargemacht, dass sie die Misshandlungen durch ihren Mann nicht hinzunehmen braucht.«

Nach einem Seitenblick auf Mohammed, der in seinem Sessel umherrutschte, fuhr sie fort: »Sie ist noch jung, noch nicht mal dreißig. Kein Tag vergeht, ohne dass man Spuren von Schlägen in ihrem Gesicht sieht. Gestern hatte sie nicht nur ein blaues Auge, sondern auch einen gebrochenen Arm. Die Kinder sind völlig verängstigt, weil sie die Gewalttätigkeit ihres Vaters der Mutter gegenüber mitbekommen. Ich fürchte, dass die Sache noch schlimmer werden kann. Sieh doch zu, ob du ihr helfen kannst.«

»Du weißt ja, dass es allein von ihr selbst abhängt, ob sie ihn anzeigen will oder nicht. Erst wenn sie sich dazu entschlossen hat, können wir sie in einem Frauenhaus unterbringen, bis die juristische Lage geklärt ist. Ich habe keine Möglichkeit etwas für sie tun, wenn sie das nicht selbst will.«

»Ich weiß, ich weiß … Aber hör dir einfach an, was sie zu sagen hat. Ein solcher Schritt ist für keine Frau einfach. Den eigenen Mann anzeigen zu müssen ist schrecklich, Aber sie so leiden zu sehen schneidet mir ins Herz, und die Vorstellung, dass sie bis zu ihrem Tod in dieser Hölle leben muss …«

»Ich tue, was ich kann.«

Jalil und Mohammed hörten dem Gespräch zwischen Salima und Laila schweigend zu. Es ärgerte Mohammed, dass der Alte nicht eingriff, um die beiden zur Ordnung zu rufen.

»Wie denkst du über die Misshandlung von Frauen durch ihre Männer?«, fragte ihn plötzlich Jalil.

»Meiner Ansicht nach hat niemand das Recht, sich in die Angelegenheiten eines Ehepaares einzumischen, noch dazu, wenn es darum geht, einer Frau zu raten, dass sie ihren eigenen Mann anzeigt. Im Koran heißt es, dass man seine Frau züchtigen soll, wenn sie sich falsch verhält. Es wäre mir sehr lieb, wenn sich meine Schwester aus den Privatangelegenheiten moslemischer Familien heraushalten würde.«

»Wie kommst du darauf, dass es sich um Moslems handelt?«, fragte Salima. »Damit du es genau weißt, die beiden sind Spanier, hier aus Granada, Christen.«

»Trotzdem glaube ich nicht, dass sich ein Außenstehender in ihre Angelegenheiten einmischen sollte. Wenn er sie schlägt, wird er seine Gründe dafür haben.«

»Findest du das etwa in Ordnung?«, wollte Jalil wissen.

»Selbstverständlich! Wir könnten ja mal im Heiligen Buch nachsehen.«

»Ich habe dich gefragt, ob du es in Ordnung findest, einen anderen Menschen zu misshandeln, ganz gleich aus welchem Grund«, beharrte der Alte.

»Es steht im Koran …«

»Lass doch mal den Koran beiseite, Mohammed! Die Menschen haben unaufhörlich im Namen des Korans und der Bibel Grausamkeiten verübt! Wir suchen in den heiligen Texten nach Vorwänden, um Dinge zu rechtfertigen, die sich nicht rechtfertigen lassen.«

Jalil al-Basari sprach energisch, aber zugleich voll Wärme. Er schien sogar ein spöttisches Lächeln auf den Lippen zu haben, was Mohammed zusätzlich ärgerte.

»Meine Schwester hat mir gesagt, dass Sie ein heiliger Mann sind, ein geachteter alim, und jetzt sehe ich einen Alten vor mir, der den heiligen Koran in Frage stellt.«

»Was veranlasst dich zu dieser Behauptung?«

»Ich bin nicht hergekommen, um mit Ihnen zu streiten. Ich danke Ihnen für Ihre Gastfreundschaft, aber jetzt müssen wir gehen«, erklärte Mohammed und sah zu Laila hinüber.

»Wovor willst du fliehen, Mohammed?«, fragte der Alte.

»Fliehen? Ich fliehe vor nichts!« In Mohammeds Stimme schwang Angst mit.

»Dann trink deinen Tee in Ruhe aus. Du brauchst dich nicht zu beeilen, um dich einem Gespräch mit einem Alten zu entziehen.«

Ergeben senkte Mohammed den Kopf. Der Mann brachte ihn völlig aus dem Konzept. Es kam ihm vor, als hätte er es mit einem verschlagenen Wolf zu tun, der nur darauf wartete, seine Fangzähne in jeden zu schlagen, der unvorsichtig genug war, in seine Nähe zu kommen.

»Lassen wir mal den Koran beiseite und sprechen über Gut und Böse. Ich glaube nicht, dass irgendein Mensch das Recht hat, andere zu demütigen, zu quälen oder ihnen zu schaden, auf welche Weise auch immer. Bedauerlicherweise führen wir Menschen uns anderen gegenüber viel zu häufig wie wahre Raubtiere auf. Und warum? Weil sie nicht so denken wie wir, einen anderen Glauben haben, auf andere Weise oder gar nicht beten, anders leben, als wir es für richtig halten … Kurz, es gibt vieles, was uns an den anderen ärgert und uns ihnen fremd macht. Doch nichts von all dem kann eine Rechtfertigung dafür sein, dass wir Böses tun.

Nehmen wir an, du tötest, weil du eine Beleidigung durch deine Feinde rächen willst, oder du misshandelst deine Frau wegen eines Ungeschicks, oder du lügst, um dich vor anderen nicht herabgesetzt zu fühlen. All diese Handlungsweisen sind von Übel. Es ist unsere Pflicht, das Böse in uns zu beherrschen, unser Leben lang dagegen anzukämpfen und uns zu bemühen, dass wir uns nicht von den Dämonen leiten lassen. Wir sollten unsererseits die Dämonen besiegen.

Nein, Mohammed, es lässt sich nicht rechtfertigen, dass ein Mann seine Frau oder ein Kind misshandelt, nicht einmal einen Hund oder eine Blume. Glaubst du, dass sich Allah über dich freut, wenn du deine Frau verprügelst? Ich denke, er wird eher mit ihrer Qual Mitleid empfinden und Zorn über deinen Zorn.«

Der Alte schwieg und trank seinen Tee aus. Salima, die den Blick auf Mohammed und Laila gerichtet hielt, konnte in den Augen der Freundin die Verzweiflung erkennen, die sie erfasst hatte.

»Gleich kommen einige Freunde zum Abendgebet. Könnt ihr bleiben?«, fragte sie, um das eingetretene Schweigen zu brechen.

»Ich habe zu tun«, behauptete Mohammed.

»Ich bleibe noch eine Weile«, sagte Laila.

»Nein! Du kommst mit!«

»Ich habe gesagt, dass ich noch bleiben möchte. Ich höre Jalil gern zu und lerne jedes Mal etwas von ihm.«

»Mach dir keine Sorgen. Falls es spät wird, begleiten mein Mann und ich Laila nach Hause.«

»Sie muss jetzt mit mir kommen.«

»Nein, ich bleibe.«

Wut stieg in Mohammed auf, doch wollte er sich vor diesen sonderbaren Menschen nicht von ihr mitreißen lassen.

»Du musst mir gehorchen, Laila. Es ist besser, wir kehren gemeinsam zurück. Wenn du später kommst, müssen wir alle mit dem Abendessen auf dich warten.«

Dieser Vorwand erschien ihm selbst lächerlich, aber etwas Besseres war ihm zur Begründung der angeblichen Notwendigkeit von Lailas Rückkehr nicht eingefallen. Er war fest entschlossen, sie seinen Gürtel kosten zu lassen, weil sie ihn in diese Lage gebracht hatte. Wenn sie erst wieder zu Hause waren, würde er sie züchtigen, ohne sich von ihren Tränen und ihrem Leiden beeindrucken zu lassen.

»Mir wäre es lieb, wenn ihr beide bleiben könntet«, sagte Jalil. »Ich glaube, es würde dir guttun, mit uns zu beten.«

»Von mir aus …« Mohammed fiel keine neue Ausrede ein.

»Gut, ihr bleibt. Unsere Freunde können jeden Augenblick kommen.«

Es dauerte nicht lange, bis Carlos eintrat und mitteilte, dass sie da seien.

Salima und Laila halfen Jalil vorsichtig aufzustehen, woraufhin alle ins obere Stockwerk stiegen.

Erstaunt merkte Mohammed, dass seine Schwester jeden aus der Gruppe kannte, und es entsetzte ihn, auf wie selbstverständliche und in seinen Augen schamlose Weise sie mit den Männern umging. Am liebsten hätte er einigen der Frauen vorgehalten, dass sie kein Kopftuch trugen und sich wie Ungläubige kleideten, doch er schwieg lieber, weil er sich in dieser Gruppe verloren fühlte.

Man setzte sich auf Kissen, die um Jalil herum am Boden lagen, rechts die Frauen, links die Männer. Jalil nahm auf einem niedrigen Sessel Platz.

»Was haltet ihr davon, wenn wir uns heute einmal mit der Frage der Gewalttätigkeit beschäftigen?«, fragte er.

Als zustimmendes Murmeln ertönte, legte sich ein Lächeln auf seine Züge. »Bevor ihr gekommen seid, haben wir uns darüber unterhalten, ob ein Mann das Recht hat, seine Frau zu züchtigen. Unser Freund Mohammed glaubt, dass der heilige Koran uns Männern das Recht dazu einräumt.«

Ein Mann, der etwa im gleichen Alter wie Jalil zu sein schien, hob die Hand.

»Zweifellos kennt unser Freund Mohammed den Koran gut. So heißt es beispielsweise im 34. Vers der 4. Sure: ›Die Männer stehen über den Frauen, weil Gott sie von Natur vor diesen ausgezeichnet hat…‹«

Dankbar sah Mohammed zu dem Mann hin, der da eine Koranstelle zitiert hatte, die keinen Zweifel daran ließ, dass ein Mann das Recht hatte, seine Frau zu züchtigen. Er war erleichtert zu sehen, dass sich in dieser sonderbaren Gruppe nicht alle aufführten wie die Ungläubigen.

»Gläubige Christen und gläubige Juden haben schon vor längerer Zeit aufgehört, die Bibel nach dem Wortlaut auszulegen. Sie sehen in ihr ein von Gott inspiriertes heiliges Buch, sagen aber gleichzeitig, dass sich Gott damals, als er den Menschen eingab, dies Buch niederzuschreiben, danach richtete, wie die Welt zu jener Zeit war. Daher achten Christen wie Juden auf den Geist der Worte in ihrer heiligen Schrift statt auf deren Buchstaben, und das nicht etwa, weil sie schlechte Gläubige wären, sondern aus ihrer Überzeugung heraus, dass sich die Welt nach Gottes Willen wandelt, Tag um Tag, Jahr um Jahr, Jahrhundert um Jahrhundert. Das Wichtigste ist der Glaube an Gott, nicht aber die Frage, ob der Prophet Elias tatsächlich auf einem Feuerwagen zum Himmel aufgefahren ist.«

Dieser Beitrag von Salimas Mann Carlos verblüffte Mohammed. Der Mann war ein Ungläubiger.

»Soll das heißen, dass wir die Lehren des heiligen Korans nicht befolgen sollen?«, fragte er.

»Es soll heißen, dass wir uns vom Geist des heiligen Korans leiten lassen sollen. Im 16. Vers der 49. Sure können wir lesen: ›Wollt ihr Gott über eure Religion belehren? … Er weiß, was im Himmel und auf der Erde ist.‹«

Alle Anwesenden hörten dem Mann aufmerksam zu. Niemand widersprach ihm. Allen war bewusst, dass es an jenem Abend einen neuen Teilnehmer gab: Mohammed.

Jalil konnte sie nicht sehen, schien aber genau zu wissen, wo jeder saß, und so sagte er zu Mohammed gewandt: »Gott ist barmherzig. Im 32. Vers der 53. Sure heißt es: ›Dein Herr ist großzügig im Vergeben. Er weiß sehr wohl über euch Bescheid.‹«

»Ich fühle mich jedes Mal getröstet, wenn ich die Worte des heiligen Korans höre«, sagte ein junger Mann begeistert. »Obwohl ich weiß, dass Gott alles sieht und alles weiß, vertraue ich auf seine Barmherzigkeit und erhoffe mir daher seine Vergebung für alle Sünden, die ich begehe.«

»Ja, aber es genügt nicht, auf Gottes Barmherzigkeit zu hoffen, wenn man tut, was man nicht tun soll«, gab Jalil zu bedenken. »Er erwartet mehr von uns.«

Der junge Mann senkte beschämt den Kopf, weil er sich von seiner Begeisterung hatte mitreißen lassen, doch war er überzeugt, dass sich Gottes Erbarmen auf alles bezog, was er in seinem Leben tat.

Mohammed beschloss, das Wort zu ergreifen. Die anwesenden Alten kannten den heiligen Koran besser als er, aber da er in der Medresse in Pakistan viele Stunden auf das Studium des heiligen Textes verwendet hatte, kam er zu dem Ergebnis, dass Jalil und sein Freund die von ihnen zitierten Textstellen auf eine seiner Ansicht nach unzulässige Weise deuteten, und so beschloss er, jetzt seine Korankenntnisse ins Spiel zu bringen. Er räusperte sich und begann mit halb geschlossenen Augen: »›Wir haben den Ungläubigen, die nicht an Gott und seinen Propheten glauben, ein glühendes Kohlebecken bereitet. Das Reich der Himmel und der Erde gehört Gott; er vergibt und straft, wie er beliebt. Er ist voll Nachsicht und Barmherzigkeit. ‹«

»Du hast es selbst gesagt: Er ist nachsichtig und barmherzig«, gab Jalil zurück. »Heißt es nicht auch: ›Gott fügt niemandem Schaden zu … und belohnt voll Großmut‹? So ist Er nach den Worten des heiligen Korans. Er kann uns und die Ungläubigen, ja, alle Wesen auf der Welt, nach seinem Gutdünken strafen, doch ruft uns der Koran immer wieder die Barmherzigkeit des Allmächtigen mit uns armen Sündern in Erinnerung. Es freut mich, dass du den Koran so gut kennst, Mohammed. Jetzt kommt es darauf an, dass du ihn richtig auslegst und die Nachsicht und Barmherzigkeit zu spüren vermagst, die Gott uns Menschen erweist.«

»Soll das heißen, dass Sie den heiligen Koran auf Gottes Nachsicht und Barmherzigkeit reduzieren wollen?«, fragte Mohammed herausfordernd.

Jalil schwieg nur kurz, dann antwortete er, den Blick ins Leere gerichtet: »Unseresgleichen mit Nachsicht und Barmherzigkeit zu behandeln, bedeutet für uns arme Sterbliche eine ungeheure Aufgabe. Wie oft erzürnen wir uns über Menschen, die wir lieben, und verletzen sie mit Worten! Das tun wir, weil wir unfähig sind, ihren Fehlern gegenüber nachsichtig oder gar barmherzig zu sein. Blick in dein Herz und frag dich, wie oft du anderen Menschen Barmherzigkeit erwiesen hast. Bestimmt wird dir die Antwort nicht gefallen. Mir geht es ebenso, wenn ich mir diese Frage stelle.«

»Jeder, der übel tut, behandelt seine eigene Seele ungerecht; aber wenn er danach Gottes Vergebung erfleht, wird er ihn nachsichtig und barmherzig finden«, sagte ein anderer Alter mit lauter Stimme.

Die Dunkelheit hatte sich über die Stadt gesenkt, als Jalil die Versammlung beendete. Erstaunt sah Mohammed, dass es fast zehn Uhr war. Die Mutter und Fatima würden sich Sorgen machen. Er hatte ihnen gesagt, dass er Laila vom Büro abholen werde, das war jetzt fast fünf Stunden her.

Laila verabschiedete sich freundlich von den anderen; er merkte, dass alle sie gut leiden konnten.

Schweigend kehrten sie zum Albaicín zurück. In Mohammed tobten widerstreitende Gefühle. Einerseits hatte er sich unter jenen Menschen wohlgefühlt, doch hielt er sie zugleich für schlichte Gemüter, die darauf bedacht zu sein schienen, in jeder Zeile des Korans das Versprechen von Vergebung zu lesen. Von allem, was sich nicht mit ihrem Wunsch nach Nachsicht und Barmherzigkeit vereinbaren ließ, schienen sie nicht das Geringste zu wissen.

Als die Geschwister zu Hause ankamen, sahen sie, dass die Mutter und Fatima besorgt im Wohnzimmer warteten. Sogleich eilte die Mutter auf Laila zu und seufzte erleichtert auf, als sie sah, dass dieser kein Leid geschehen war. Anschließend lächelte sie Mohammed zu und bat die beiden zu Tisch.

Laila entschuldigte sich mit dem Hinweis, dass sie müde sei und am nächsten Morgen früh aufstehen müsse, weil sie schon um acht Uhr ihre erste Unterrichtsstunde habe. Ohne weiter auf sie zu achten, ging Mohammed ins Esszimmer, wo Fatima bereits den Tisch gedeckt hatte.

Schweigend aß er allein, während ihn seine Frau mit gesenktem Kopf bediente.

Die Djellaba verhüllte ihren Körper, der ihn nicht im Geringsten reizte. Zwar hatte er das eine oder andere Mal mit ihr geschlafen, aber nur, damit sie sich nicht bei ihren Verwandten über Vernachlässigung beklagen konnte – eine solche Kränkung würde ihm Hassan nicht verzeihen.

Hoffentlich würde sie bald schwanger, dann hätte er einen Vorwand, sich eine Weile von ihr fernzuhalten. Doch bisher wies nichts darauf hin.

Als er beim Nachtisch war, kam seine Mutter herein und setzte sich ihm gegenüber. »Dein Freund Ali hat nach dir gefragt.«

»Was wollte er?«

»Er hat gesagt, dass er morgen wiederkommt. Er gefällt mir nicht.«

»Soweit ich weiß, bist du mit seiner Mutter befreundet oder warst es zumindest, als wir noch in die Schule gegangen sind.« »Sie ist bedauerlicherweise nicht mehr hier. Mir geht es aber nicht um seine Familie, sondern um dich, und ich möchte nicht, dass du dich in Schwierigkeiten bringst. In Alis Gesellschaft wirst du ein schlimmes Ende nehmen.«

»Wieso das?«

»Er hat mit gefährlichen Menschen Umgang, die nicht so sind wie wir.«

»Und wie sind wir?«

»Du hast dich verändert, mein Junge. Ich weiß nicht, was man in Frankfurt und Pakistan mit dir gemacht hat, aber du bist nicht mehr wie früher.«

»Ich bin ein Mann, Mutter.«

»Ja, ein Mann, von dem ich fürchte, dass andere über ihn bestimmen, als wäre er ein kleines Kind.«

»Wer soll über mich bestimmen?«, fragte er, wobei in seinen Augen mühsam unterdrückter Zorn blitzte. »Ich bin ein Mann, Mutter. Ein Mann mit Familie und dem Wunsch, aus dieser Welt etwas Besseres zu machen, einen Ort, an dem wir Moslems nicht Bürger zweiter Klasse sind, wo man uns Achtung entgegenbringt. Wir müssen die Ungläubigen züchtigen, und das werden wir tun. Gott wird uns dafür belohnen.«

»Und wer sagt, dass wir jemanden züchtigen müssen? Warum können wir nicht in Frieden miteinander leben? Die Erde gehört allen. Sie bietet allen Platz, und wir sollten zulassen, dass jeder so zu Gott betet, wie man es ihm als Kind beigebracht hat.«

»Wie kannst du nur so reden?«

»Weil ich alt bin und um mich herum zu viel Leid gesehen habe.«

»Niemand wird dir etwas antun, Mutter, verlass dich auf mich.«

»Ich habe nicht um mich Angst, sondern um dich. Halt dich von Ali fern.«

»Wieso machst du dir wegen Ali Sorgen?«

»Er verkehrt mit den schlimmsten unserer Leute, mit Männern, die Hass säen. Er ist in ihren Händen wie eine Marionette, und genau das möchten sie auch mit dir tun. Sie werden dir sagen, dass du ein Mudschahed bist und einen heiligen Auftrag zu erfüllen hast. Das aber ist gelogen. Sie wollen lediglich, dass du für sie stirbst.«

»Jede andere Mutter wäre stolz auf einen Sohn, der als Märtyrer stirbt.«

»Mir genügt es, wenn du lebst. Mehr verlange ich nicht.«

»Du redest nicht wie eine gute Moslemin! Merkst du nicht, was auf der Welt vor sich geht?«

»Doch. Ich merke, dass es Menschen gibt, die nichts anderes im Sinn haben, als andere zu vernichten. Aber sie stellen sich nicht in die vorderste Schlachtreihe, sondern schicken euch vor, unsere Söhne. Sie umwerben euch mit Worten, die euch das Herz füllen, aber ich schwöre dir, ich weiß keinen Grund, warum ihr sterben solltet.«

Mohammed sprang wütend auf und rannte hinaus. Er wollte nicht mit seiner Mutter streiten. Was verstand sie schon von diesen Dingen? Sie war eine unwissende Frau, die kaum lesen und schreiben gelernt hatte. Nichts von dem, was er sagen konnte, würde sie gelten lassen, weil sie nicht begriff, was um sie herum vor sich ging. Sie war eine gute Frau, nichts weiter.

Das Blut der Unschuldigen: Thriller
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