35
Von der schweigsamen Fatima unterstützt, hatte die Mutter Kuskus mit Hammelfleisch zubereitet.
Der Vater hatte Laila gebeten, an diesem Samstag zu Hause zu bleiben, um mit ihnen gemeinsam ihren Vetter Mustafa zu begrüßen, der aus Marokko gekommen war. Mohammed hatte gefürchtet, sie werde Nein sagen, doch schien sie bereit, an der Mahlzeit im Familienkreis teilzunehmen.
Mustafa traf im Lauf des Nachmittags ein. Dafür, dass er, wie er sagte, in Spanien Arbeit suchen wollte, hatte er wenig Gepäck mit.
»Das mit der Arbeit ist hier nicht so einfach«, machte ihm Mohammed klar. »Die Behörden achten immer mehr darauf, dass man Papiere hat. Ganz davon abgesehen führen sich viele Spanier ziemlich rassistisch auf. Denen sind Lateinamerikaner lieber, weil das Christen sind wie sie selbst.«
Mohammeds Vater versicherte Mustafa, dass man alles tun werde, um ihm zu helfen. Auf jeden Fall könne er bei ihnen wohnen, solange es nötig sei. »Du bist der Sohn meines Bruders, Blut von meinem Blut, und daher bist du hier zu Hause. Hier gibt es keinen Luxus, aber doch die eine oder andere Bequemlichkeit.«
Während Mustafa dem Kuskus kräftig zusprach, berichtete er über die jüngsten Ereignisse in der Verwandtschaft: Heiraten, Todesfälle, Beschneidungsfeiern, Arbeitsverhältnisse.
»Isst du immer mit den Männern zusammen?«, fragte er Laila unvermittelt.
»Hast du etwas dagegen, dass ich mich im eigenen Haus zum Essen an den Tisch setze?«
»Nein. Aber … ich sehe, dass uns deine Mutter bedient, wie sich das für eine gute Ehefrau gehört, und deine Schwägerin ihr dabei hilft. Aber keine von beiden hat sich zu uns gesetzt.«
Während Mohammeds Mutter ihrem Mann wegen dieser Äußerung einen flammenden Blick zuwarf, rutschte Mohammed unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her.
»Wir sind hier in Spanien, Mustafa«, gab Laila zur Antwort. »Ich habe schon seit Jahren die spanische Staatsbürgerschaft. Wir kennen keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Hier haben alle die gleichen Rechte und Pflichten. Es macht mir nichts aus, beim Bedienen zu helfen, ich tue das sogar gern, aber ich sehe keinen Grund, warum sich meine Mutter und Fatima nicht mit uns an den Tisch setzen sollten. Was ist dagegen einzuwenden, dass wir gemeinsam essen? Du glaubst doch wohl nicht, dass sich Allah daran stören würde?«
»Die Überlieferung ist geheiligtes Gesetz, und unsere Gesetze müssen wir achten. Auch wenn du eine andere Staatsangehörigkeit angenommen hast, bist du, wer du immer warst: Laila, Tochter deiner Eltern, Marokkanerin und Moslemin. Oder solltest du unseren Glauben aufgegeben haben?«
»Keineswegs. Ich spüre Tag für Tag, dass mir Allah die Kraft gibt, zu leben und meine Arbeit zu tun.«
»Und glaubst du, dass es zu deinen Aufgaben gehört, mit der Überlieferung zu brechen?«
»Wir leben im 21. Jahrhundert. Die Uhr lässt sich nicht anhalten. Christen wie Juden haben ihre Überlieferungen angepasst, und auch wir können das nicht länger hinauszögern. Sag mir doch – würdest du ins Krankenhaus gehen, wenn du Krebs hättest? Würdest du dich operieren und nach dem neuesten Stand der Medizin behandeln lassen? Oder würde es dir genügen, dass man dir einen Kräutertrank verabreicht, um dich zu heilen?«
»Ich weiß nicht, worauf du hinauswillst«, gab Mustafa übellaunig zurück.
»Nun, wenn du an einer schweren Krankheit littest, würdest du die Behandlungsmethoden unseres Jahrhunderts akzeptieren und nicht darauf bestehen zu sterben, wie das früher unausweichlich war, als man solche Leiden mit einem Aderlass zu heilen versuchte. Wir müssen unsere Gepflogenheiten der heutigen Welt anpassen. Das hat nicht das Geringste mit Glauben oder Frömmigkeit zu tun. Ich bin gläubig, aber wenn ich krank werde, gehe ich zum Arzt, wenn ich reise, setze ich mich nicht auf einen Esel, um von einem Ort zum anderen zu gelangen, sondern nehme das Flugzeug, den Zug, den Bus, das Schiff, so wie du das übrigens auch getan hast, um herzukommen. Wenn ich wissen möchte, was in Marokko geschieht, schalte ich den Fernseher ein und warte nicht, bis uns ein Verwandter über die Ereignisse im Lande einen Brief schreibt. Um mich nach dem Ergehen meiner Angehörigen zu erkundigen, benutze ich das Telefon, genau wie du. Wir vertrauen ja auch die Nahrungsmittel nicht mehr der Kühle der Nacht an, sondern bewahren sie im Kühlschrank auf. Die Welt hat sich geändert, die Uhr ist nicht stehen geblieben, und wir müssen unsere Bräuche, unsere Vorschriften, der Welt anpassen, in der wir leben. Wir müssen die alten Texte mit anderen Augen lesen, ohne das Wesentliche darin zu verfälschen. Das Wesentliche aber ist das Bewusstsein, dass Allah lebt und barmherzig ist.«
Alle hatten schweigend zugehört. Ihre Mutter unterdrückte ein stolzes Lächeln, Fatima sah bewundernd und der Vater liebevoll zu ihr hin. Mohammed war verblüfft, und selbst Mustafa schien von ihren Worten beeindruckt zu sein, auch wenn er eine Weile zu brauchen schien, um sie zu verarbeiten.
»Du versuchst uns mit sprachlichen Tricks reinzulegen. Wieso glaubst du das Gesetz ausdeuten zu dürfen? Bist du womöglich weiser als unsere Imame und Ulemas, die ihr ganzes Leben auf das Koranstudium verwendet haben? Du suchst doch nur nach Vorwänden, um dein Verhalten zu rechtfertigen, nichts weiter.«
»Was weißt du von meinem Verhalten? Wovon sprichst du überhaupt?«
»Ich habe mich gewundert, dich ohne Hidschab zu sehen … und dass du hier mit uns Männern am Tisch sitzt. Dann das, was du sagst … sieh ja zu, dass dich niemand hört, denn damit würdest du in unserer Gemeinschaft Ärgernis erregen.«
»Ärgernis nehmen Menschen, die danach suchen, und das Böse wohnt in ihnen, aber nicht in meinen Worten. Ich sage nur, dass der Glaube weder mit Demokratie und Freiheit unvereinbar ist, noch mit der Achtung vor dem Glauben anderer. Es gibt einen Satz von Martin Luther King, der mich immer tief berührt hat. Er lautet: ›Wir haben gelernt, wie die Vögel zu fliegen und wie die Fische zu schwimmen, sind aber nicht imstande, wie Brüder miteinander zu leben.‹ Nun denn, ich bin überzeugt, dass das möglich ist. Dabei kommt es ausschließlich auf uns an. Wir dürfen nicht so überheblich sein, anderen unsere Vorstellungen aufzuzwingen und diejenigen zu verdammen und zu bekämpfen, die anders beten, fühlen oder denken. Wir müssen zulassen, dass jeder zu seinem Gott beten kann, uns Vorschriften und Gesetze geben, an die sich jeder hält und die ein friedliches Zusammenleben in gegenseitiger Achtung ermöglichen. Außerdem sollten wir die heiligen Rechte anerkennen, die jeder von uns als Individuum besitzt.«
»Jetzt aber Schluss!«, schrie Mohammed, der stärker beeindruckt war, als er sich eingestehen wollte. Die Worte seiner Schwester trafen ihn in tiefster Seele, und ihn erfasste ein unendlicher Hass auf sie, weil sie es fertigbrachte, in ihm Zweifel zu wecken.
Wenige Augenblicke lang war er von ihren Argumenten angetan gewesen. Er hatte sich gesagt, weder würde es jemandem nützen, wenn er sich opferte, noch würde die Welt dadurch besser, dass man die Überreste des Kreuzes vernichtete, an dem der Prophet Isa den Tod gefunden hatte.
Sie hatte sein Gewissen wachgerüttelt, doch für ihn gab es keinen Weg zurück.
»Beruhige dich, mein Junge«, bat ihn der Vater. »Und du, Laila, schweig, damit der Sohn meines Bruders keinen schlechten Eindruck von uns bekommt. Mustafa spricht gemäß der Überlieferung, die wir alle achten müssen. Jetzt sollten wir uns zurückziehen. Bestimmt ist er müde von der Reise, und eure Mutter und Fatima müssen eine Gelegenheit haben, selbst etwas zu essen und ein wenig zu ruhen.«
Mustafa dankte für die Gastfreundschaft und folgte Mohammed zu dem kleinen Raum, in dem bis dahin Fatimas Kinder untergebracht waren. Solange Mustafa dort war, würden sie bei der Mutter und Mohammed schlafen. Das war ihm mehr als recht, lieferte ihm das doch einen Vorwand, seine Frau nicht anzurühren. Trotz aller Bemühungen war sie nicht schwanger geworden, und er fühlte sich immer mehr vom weichen Fleisch dieser Frau abgestoßen, die ihn mit gleichgültigem Blick ertrug, ohne den geringsten Laut von sich zu geben. Wenn er sie besaß, war sie ebenso unbeteiligt wie er.
Nachdem der Vater das eheliche Schlafzimmer aufgesucht hatte, bedeutete die Mutter den beiden anderen Frauen, ihr in die Küche zu folgen.
»Laila, gib Acht. Mir gefällt nicht, was dein Vetter gesagt hat.«
»Mach dir keine Sorgen. Er kann mir nichts tun.«
»O doch, das kann er«, murmelte Fatima.
Laila und ihre Mutter sahen sie fragend an. Fatima biss sich auf die Lippe; sie wusste nicht recht, ob sie sprechen sollte oder nicht. Sie konnte ihre Schwiegermutter gut leiden. Nie hatte sie die Hand gegen sie gehoben und sich stets liebevoll um die Kinder gekümmert. Was Laila betraf … Sie bewunderte sie rückhaltlos. Wäre sie doch nur so mutig, könnte sie doch nur sein wie die Schwägerin! Bevor sie Laila kennengelernt hatte, war sie fest überzeugt gewesen, dass es ihre Pflicht sei, sich den Männern unterzuordnen, jetzt aber … Nein, sie wagte nicht, gegen Mohammed aufzubegehren, und auch nicht gegen den verehrungswürdigen Imam Hassan al-Jari, dessen Tochter zu sein sie die Ehre hatte. Doch das bedeutete keineswegs, dass sie der Ansicht war, Laila habe mit ihren Worten und Ansichten Unrecht.
»Was willst du damit sagen, Fatima?«, fragte Laila eher neugierig als besorgt.
»Unsere Bräuche … du weißt doch … wenn sie die Ehre der Familie … Sie können uns umbringen, wenn sie finden, dass wir die Familienehre in den Schmutz ziehen … Dein Vetter … ich weiß nicht … Verzeih mir, aber ich kann ihn nicht leiden.«
Laila lachte laut auf und trat auf ihre Schwägerin zu, um sie in die Arme zu nehmen. Sie hatte Mitleid mit dieser unansehnlichen Frau, die sich unter dunklen Djellabas verbarg und ständig das Hidschab auf dem Kopf trug. »Fatima, hier in Spanien gibt es so etwas nicht. Niemand wird mich umbringen. Ganz davon abgesehen habe ich die Ehre der Familie nicht in den Schmutz gezogen.«
Ihre Mutter aber war bei Fatimas Worten bleich geworden. Die Eindringlichkeit, mit der der Bruder ihres Mannes darum ersucht hatte, seinen Sohn Mustafa zu ihnen schicken zu dürfen, hatte sie überrascht, und Unruhe hatte sie erfasst, als sie gemerkt hatte, wie er das Streitgespräch mit Laila vom Zaun gebrochen hatte.
»Aber gewöhnlich kümmern sich die unmittelbaren männlichen Verwandten um die Familienehre – Vater, Ehemann, Bruder …«, sagte sie und sah zu Fatima hin.
»Mitunter ist es nötig, ein anderes Familienmitglied damit zu beauftragen, wenn es zum Beispiel Väter gibt, die es nicht fertigbringen, ihre eigene Tochter zu töten, und … nun, ich denke, dass Mohammed trotz allem seine Schwester liebt. Ab und zu hatte ich schon Angst, dass er … aber nein … ich glaube nicht, dass er dazu imstande wäre.«
Die Mutter stieß einen Klagelaut aus, so dass Laila sie bestürzt ansah. Fatima sprach über ihr Leben, als gehörte es ihr nicht. Als ob es von ihrer Familie abhinge, ob sie leben durfte oder sterben musste!
»Fatima, ich kämpfe seit Jahren gegen all das, was du da sagst. Weder dürfen wir zulassen, dass man eine Ehebrecherin steinigt, einem Dieb die Hand abhackt oder eine Frau tötet, um eine überholte Vorstellung von Ehre zu befriedigen, noch, dass man eine junge Frau mit einem Mann verheiratet, den sie nicht einmal kennt.«
»Gib Acht, Laila. Sei deiner Sache nicht zu sicher!«, flehte die Schwägerin. »Sei auf der Hut vor Mustafa. Geh ihm aus dem Weg. Wir lassen dich nicht allein – nicht einmal nachts darfst du allein bleiben. Schließ deine Tür ab, und trau deinem Vetter nicht.«
Fatima sah erstaunt, dass ihre Schwiegermutter zu ihr trat, ihre Hände nahm, sie kräftig drückte und ihr in die Augen sah, wobei sie sagte: »Was weißt du? Sag es uns!«
»Nichts, ich schwöre es! Wenn ich etwas wüsste, würde ich es sagen. Ich will nicht … ich will nicht, dass Laila was passiert. Ich hab einfach Angst.«
Tief erschüttert standen die drei Frauen schweigend beieinander. Zum ersten Mal empfand auch Laila Angst.
Mohammed half seinem Vetter, das Wenige an Kleidung einzuräumen, das er in seinem kleinen Koffer hatte.
»Deine Mutter hätte nicht erlauben dürfen, dass sich Laila wie eine Ungläubige benimmt«, hielt ihm Mustafa vor.
»Sie ist, wie sie ist. Mit meiner Mutter hat das nichts zu tun. Meine Eltern haben uns so erzogen, wie es sich gehört. Aber hier in Spanien ist das Leben nun einmal anders als in eurem Dorf in Marokko. Hier müssen auch die Mädchen in die Schule gehen, und da setzt man ihnen leider Rosinen in den Kopf.«
»Du bist ein guter Moslem, einer, auf den wir stolz sein dürfen, aber deine Schwester … sie bereitet unserer Familie Schande.«
»Sie hat nichts Verwerfliches getan«, nahm Mohammed sie in Schutz.
»Du weißt genau, dass das nicht stimmt! Was sie heute Abend gesagt hat, ist Lästerung. Ich verstehe, dass du sie liebst, doch darf dich das nicht beeinflussen. Je früher wir die Sache in Ordnung bringen, desto besser. Du hättest es selbst tun müssen, aber man hat mir schon gesagt, dass … Du bist ein wichtiger Mann und darfst nicht mit den Gesetzen in Konflikt kommen. Aber hier geht es um die Familie. Dein Vater kann sich nicht durchsetzen. Das war schon immer so, hat mir mein Vater gesagt. Dabei ist er der Ältere. Weil von ihm nichts zu erwarten ist, wenden sich alle Angehörigen an meinen Vater, wenn es darum geht, Gerechtigkeit zu schaffen.«
»Mein Vater kann sich sehr wohl durchsetzen«, begehrte Mohammed auf. Er fühlte sich herabgewürdigt.
»Deine Schwester müsste längst tot sein. Du hast keine Möglichkeit, dafür zu sorgen. Aber was ist mit ihm?«
»Würdest du deine eigene Tochter umbringen? Ich nehme an, dass du diese Frage nicht beantworten kannst, denn du bist noch jung und hast keine Kinder.«
»Ich habe drei Schwestern und würde nicht zögern, ihnen die Kehle durchzuschneiden, wenn sie sich aufführten wie Laila. Dazu aber wird es nie kommen, denn meine Mutter hat sie gut erzogen, und sie haben bereits alle einen Mann.«
»Ich dachte, die sind jünger als du.«
»Das sind sie auch. Die Älteste ist achtzehn, die nächste siebzehn und die Kleine vierzehn. Mein Vater hat ihnen schon Männer ausgesucht, als sie noch kleine Mädchen waren, und sie haben das hingenommen, wie sich das gehört. Warum nur habt ihr Laila nicht verheiratet? Meine Mutter sagt, wenn ihr sie uns geschickt hättet, hätte sie selbst dafür gesorgt. Sie kann deine Mutter nicht verstehen.«
»Ich lass dich jetzt allein, damit du dich ausruhen kannst.«
Mohammed hatte keine Lust, das Gespräch mit dem Vetter fortzusetzen. Auch wenn ihm Lailas Verhalten ein Gräuel war, fand er Mustafas Art, an ihr und seinen Eltern Kritik zu üben, unerträglich.
»Ich bleibe nicht lange, vielleicht eine Woche«, teilte ihm Mustafa mit.
»Du brauchst dich nicht zu beeilen, vielleicht …« Mohammed verstummte.
»Ich werde tun, was zu tun ich gekommen bin«, teilte ihm Mustafa mit.
Ohne zu antworten verließ Mohammed den Raum.