16
Als Laila am nächsten Morgen das Haus verließ, sah sie zu ihrer Überraschung Ali, der gerade klingeln wollte. Ohne ihren Gruß zu erwidern, fragte er: »Ist Mohammed da?«
»Na klar. Ich weiß aber nicht, ob er schon auf ist. Warte, ich rufe meine Mutter.«
Sie trat wieder ins Haus und ging in die Küche.
»Ali ist da. Er will zu Mohammed.«
»So früh?«
»Ja. Sag es ihm.«
»Dass dieser Ali hier auftaucht, ist mir überhaupt nicht recht.«
»Mir auch nicht. Aber wir können nichts tun. Mohammed muss selbst entscheiden, was er tut und mit wem er Umgang hat. Schließlich ist er ein erwachsener Mann.«
»Ach was. Ein Kind ist er.«
Mit einem besorgten Blick auf ihre Tochter verließ die Mutter die Küche, um Mohammed Bescheid zu sagen. Vor Angst verknotete sich ihr Magen.
Ungeduldig wartete Ali im Wohnzimmer. Wo Mohammed nur blieb? Omar duldete keine Verspätung, und seine Anweisungen waren unmissverständlich gewesen. Als Mohammed schließlich erschien, forderte ihn Ali ohne weitere Erklärungen auf, sofort mitzukommen.
»Du hast mich warten lassen«, hielt er ihm vor.
»Ich hab noch geschlafen und mich beeilt, so gut ich konnte. Ich war kaum eine Minute in der Dusche und hab nicht mal Kaffee getrunken.«
Rasch liefen sie durch die schmalen Gassen des Albaicín, ohne dass Ali gesagt hätte, worum es ging. Auf Mohammeds wiederholte Fragen schwieg er beharrlich.
In der Stadtmitte angekommen, führte ihn Ali am Flussufer entlang, wobei er sich ständig umsah.
»Was hast du nur?«, fragte Mohammed.
Bevor Ali antworten konnte, hielt neben ihnen ein Geländewagen, und Ali schob ihn hinein. Am Steuer saß ein schwarzhaariger, schnurrbärtiger Mann in mittleren Jahren, der es nicht für nötig hielt, sie zu begrüßen. Da auch Ali nichts sagte, entschied sich Mohammed, seinem Beispiel zu folgen.
Mit hoher Geschwindigkeit ging es in Richtung Küstenautobahn, und keine zwei Stunden später holperte der Wagen über einen unbefestigten Feldweg auf ein riesiges modernes Landhaus zu. Einer der beiden Männer, die sich näherten, umarmte Ali zur Begrüßung. Dann führte er die Besucher in einen großen Salon, in dessen Mitte ein niedriger Tisch stand.
»Wartet hier«, sagte der Mann.
Obwohl drei Sofas und mehrere Sessel zum Sitzen einluden, blieben Ali und Mohammed vorsichtshalber stehen.
»Ist das Omars Haus?«, fragte Mohammed kaum hörbar.
»Ja, es ist mein Haus.«
Er fuhr zusammen, denn er hatte nicht gemerkt, wie der Mann hereingekommen war, der ihm jetzt antwortete.
»Willkommen, Mohammed. Allah sei mit dir.«
»Ich danke dir.«
»Du hast dich verspätet, Ali«, sagte Omar in vorwurfsvollem Ton.
Ali versuchte gar nicht erst, sich zu rechtfertigen, sondern senkte beschämt den Kopf.
»Na ja, vermutlich ging es nicht früher. Setzt euch, ich habe nicht viel Zeit.«
Die beiden gehorchten. Mohammed sah sich den hochgewachsenen Mann, der wie ein Herr auftrat, genauer an. Seine Augen waren schwärzer als die Nacht, und das schwarze Haar wurde von grauen Fäden durchzogen. Er konnte ebensogut vierzig wie fünfzig Jahre alt sein.
Man merkte, dass er es gewohnt war zu befehlen. Soweit Mohammed gehört hatte, erwartete dieser Mann widerspruchslosen Gehorsam.
Eine alte Frau in einer Djellaba und mit dem Tuch um den Kopf brachte ein Tablett mit drei Schalen Kaffee und einem Teller voll Konfekt.
Omar wartete, bis sie den Raum wieder verlassen hatte.
»Ich möchte, dass ihr euch einem Kommando anschließt, das den Ungläubigen den entscheidenden Schlag versetzen soll, nach dem sie uns um Gnade anflehen werden. Dann wird die Macht über die Welt endgültig in den Händen der Rechtgläubigen liegen. Ursprünglich war dein Vetter Jussuf für diesen Auftrag vorgesehen. Hat er mit dir darüber gesprochen?«
»Nein«, sagte Mohammed. »Jussuf war verschwiegen. Aber ich hatte mir schon gedacht, dass er was vorhatte. Er hat von morgens bis abends in irgendwelchen Papieren gelesen, und wenn er einen Anruf bekam, dafür gesorgt, dass niemand mithören konnte. Manchmal ist er auch weggefahren, ohne zu sagen, wohin … Gesagt hat er aber nie was, weder mir noch den anderen in unserem Kommando.«
»Jussuf hatte mein volles Vertrauen und auch das Hassans. Jetzt also hat man euch für diesen Auftrag ausersehen. Es wird nicht einfach sein, ihn auszuführen. Falls man euch fassen sollte, müsst ihr euch opfern, damit man euch nicht zum Verrat zwingen kann. Das müsste ihr schwören, wie es die Angehörigen aller Kommandos tun.«
Ali und Mohammed gelobten, dass sie bereit seien, ihr Leben hinzugeben, und es für sie keine größere Freude geben könne, als zu Allah ins Paradies einzugehen.
»Solltet ihr den Ungläubigen in die Hände fallen, ist es besser, dass ihr euch selbst das Leben nehmt, damit wir das nicht tun müssen, zu eurer eigenen Schande und zu der eurer Familien. Zu diesem Zweck müsst ihr ständig eine Tablette bei euch tragen.«
»Eine Tablette?«, fragte Mohammed überrascht.
»Ja. Als letztes Mittel. Es könnte sein, dass ihr keine Möglichkeit habt, im Kampf zu sterben.«
»In Frankfurt hatten wir Sprengstoffgürtel für den Fall, dass uns die Polizei festnehmen wollte. Damit haben sich Jussuf und die anderen in die Luft gesprengt. Das hätte auch ich getan, wenn mich mein Vetter nicht beauftragt hätte, die Papiere zu verbrennen.«
»Du brauchst dich nicht dafür zu entschuldigen, dass du bei diesem Anschlag nicht umgekommen bist. Allah hat gewollt, dass du weiterlebst. Vielleicht stirbst du diesmal, vielleicht auch nicht. Sprengstoffgürtel bekommt ihr ohnehin, aber das hier ist ein ganz besonderer Auftrag, bei dem ihr zeitweise offen auftreten müsst. Da kann man nicht mit Sprengstoffgürteln herumlaufen. Mir ist klar, dass es euch wenig heldenhaft erscheint, eine Tablette zu schlucken, um zu sterben, aber wir dürfen keine Risiken eingehen.«
Mohammed und Ali stimmten ihm zu, ohne ihre Enttäuschung zu verbergen. Helden starben ihrer Ansicht nach nicht durch eine Tablette, aber sie konnten Omar unmöglich widersprechen. Er wusste mehr über die Sache als sie.
»Jetzt werde ich euch in die Einzelheiten einweihen. Hört gut zu.«
Zwei Stunden lang legte er den beiden dar, was von ihnen erwartet wurde. Mohammed und Ali waren von ihrem Auftrag begeistert.
»Wir werden sie treffen, wo es sie am meisten schmerzt: in dreien ihrer größten Heiligtümer. Ihr werdet die Reliquien dessen zerstören, was den Christen am heiligsten ist. Sie verehren auf der ganzen Welt Hunderte Splitter, von denen sie sagen, dass sie von dem Kreuz stammen, an das man Christus genagelt hat. Wir werden dort zuschlagen, wo sich das größte Stück davon befindet, nämlich im Kloster Santo Toribio in Kantabrien. Es ist neben Jerusalem, Rom und Santiago de Compostela einer der wenigen Orte, an denen die Christen das feiern, was sie ein Jubeljahr nennen, ein Heiliges Jahr. Es trifft sich gut, dass man dort gerade jetzt ein solches Jubeljahr feiert, denn so wallfahren Tausende von Pilgern aus aller Welt zu diesem Stück Holz. Außerdem werden wir das Heilige Grab in Jerusalem sowie die in der Heilig-Kreuz-Basilika in Rom aufbewahrten Reliquien zerstören.
Über diese Herausforderung können die Ungläubigen nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Presse, Rundfunk und Fernsehen werden, sobald sie die Nachricht davon übermitteln, deren eingeschlafenes Gewissen wachrütteln. Selbst Menschen, die sich als Agnostiker oder Atheisten bezeichnen, werden diese Herausforderung nicht ignorieren können. Sie werden nicht wissen, was sie tun sollen, und daher nichts unternehmen. Das ist ihre Tragödie. Als Nächstes werden sich Stimmen erheben, die zur Besinnung mahnen, zur Verständigung zwischen ihnen und uns. Man wird sagen, dass es sich um das Werk von Verrückten und Fanatikern handelt. Allein entscheidend aber ist, dass sie klein beigeben werden, statt sich uns entgegenzustellen, denn sie fürchten uns.«
So entflammt war Omar von seinen eigenen Worten, dass seine Augen leuchteten. Er sah schon vor seinem geistigen Auge, wie die Reliquiensplitter durch die Luft flogen, und genoss diesen Augenblick im Voraus. Er nahm einen Schluck Wasser und fuhr fort: »Über Jahrhunderte hinweg haben sie uns im Zeichen des Kreuzes bekriegt und getötet. Jetzt werden wir einen Teil dieses Kreuzes zerstören. Danach wird uns Europa gehören. Es ist eine reine Frage der Zeit, bis es so weit ist.«
Der Plan konnte auf keinen Fall fehlschlagen. Wenn alles gut ging, würde dieser Anschlag dem Westen den Todesstoß versetzen. Die christliche Welt würde wie eine reife Frucht fallen und sich nie wieder erheben.
»Du leitest das Kommando«, sagte Omar zu Mohammed. Dieser lächelte geschmeichelt, stolz, die Nachfolge seines bewunderten Vetters Jussuf an der Spitze dieses Kommandos antreten zu dürfen. »… aber zuständig für Koordination, Infrastruktur, Fluchtwege und so weiter ist Salim al-Bashir«, fuhr der Leiter der Gruppe in Spanien fort. »Von ihm bekommst du alles, was du brauchst. Ihr seid ein einziger Organismus. Er ist der Kopf, und ihr seid die Glieder. Wir haben gegenüber den Christen einen großen Vorteil: Wir wissen Dinge, von denen die noch keine Ahnung haben.«
»Zum Beispiel?«, fragte Ali neugierig.
»Das, mein Freund, darf ich dir nicht sagen, und du solltest mich auch nicht danach fragen.«
»Wann werden wir Salim al-Bashir kennenlernen?«, wollte Mohammed wissen.
»Schon bald. Er muss noch einige Einzelheiten organisieren. Sobald das erledigt ist, wird er herkommen und Verbindung mit euch aufnehmen. Ihr müsst jederzeit bereit sein, unverzüglich aufzubrechen. Mit Bezug auf eure Angehörigen dürft ihr beruhigt sein. Wir betrachten sie als unsere Angehörigen und werden für sie sorgen, sollte euch etwas zustoßen. Was übrigens die Schwierigkeiten mit deiner Schwester angeht …«
Erschrocken senkte Mohammed den Kopf. Vor lauter Begeisterung darüber, dass man ihm einen großen Teil der Verantwortung an der Mission übertragen hatte, war ihm die Sache mit Laila ganz entfallen. Jetzt musste er sich der Frage stellen.
»Sie ist noch jung. Mach dir keine Sorgen, ich bringe das in Ordnung. Sie ist voll guter Absichten.«
»Ich kann mir denken, wie sehr es dich entsetzt haben muss, dass sie auf Abwege geraten ist. Dir muss aber klar sein, dass wir keine Ausnahmen machen dürfen. Entweder führt sie sich auf, wie sich das für eine gute Moslemin gehört, oder wir werden an ihr ein Exempel für andere Frauen statuieren.«
»Sie ist Spanierin …«, stammelte Mohammed.
»Auch ich bin Spanier«, gab Omar knapp zurück. »Das ändert nichts daran, dass es für uns kein höheres Gesetz gibt als das des heiligen Korans. Ich werde dich nicht bitten, sie selbst zu bestrafen, wenn du dich nicht dazu imstande fühlst, aber sofern du es nicht tust … Nun, vielleicht habe ich mich in dir geirrt, und du bist doch nicht der richtige Mann für den wichtigsten Auftrag, den die Gruppe zu vergeben hat. Dafür brauche ich Männer, die unserer Sache hundertprozentig treu sind.«
»Es ist nicht nötig, dass du eingreifst, ich erledige das schon«, versicherte Mohammed.
»Also gut. Jetzt macht euch an die Arbeit. Ich stelle euch Hakim vor, dem ebenfalls ein Kommando übertragen wird. Wie Salim hat er bei einer ganzen Reihe von Aktionen Erfahrungen gesammelt. Nachdem er in Bosnien gekämpft hat, war er einige Monate im Irak. Er ist ein eiskalter Bursche und hat Nerven wie Drahtseile. Seine Ausbildung als Sprengstoffspezialist hat er in Afghanistan bekommen. Er war nicht nur bei dem Anschlag auf den Autobus in Paris beteiligt, sondern hat auch zu dem Kommando gehört, das die Bombe im dänischen Konsulat von Wien gelegt hat. Seine einzige Schwäche besteht darin, dass er nicht gut Englisch spricht. In diesem Punkt hast du allen anderen etwas voraus, Mohammed. Ich weiß, dass du nahezu akzentfrei Deutsch sprichst und auch Englisch kannst. Ali spricht nur Arabisch und Spanisch. Doch das genügt für diese Unternehmung.«
»Und Salim?«
»Er ist eine ganz außergewöhnliche Persönlichkeit. Er ist Brite und hat einen Lehrstuhl an einer angesehenen englischen Universität. Er ist in London geboren, aber seine Eltern stammen aus Syrien. In der Öffentlichkeit predigt er Mäßigung und setzt sich für eine Verständigung zwischen den Völkern ein. Alle im Westen sind von ihm begeistert: seine Kollegen an der Hochschule, die Medienleute und die Vertreter der europäischen Regierungen. Er gilt als Mann ohne Fehl und Tadel, der sich ausschließlich mit seiner Wissenschaft beschäftigt. Daher würde niemand je auf den Gedanken kommen, er könnte etwas mit uns zu tun haben.«
»Heißt das, er hat noch nie an einer Aktion teilgenommen?«, fragte Mohammed.
»Ganz im Gegenteil. Er war an jeder beteiligt, die uns gelungen ist, denn er hat sie alle auf das Genaueste vorbereitet. Ich habe euch ja gesagt, dass er der Kopf ist. Vergesst das nie. Eure Aufgabe ist das Handeln und seine das Denken.
Denkt aber immer daran, dass absolutes Stillschweigen für das Gelingen des Unternehmens entscheidend ist. Es darf nichts, aber auch gar nichts durchsickern«.
»Ich kenne Salim«, sagte Ali.
»Ich weiß. Er hat euch bei der Aktion in Tanger unterstützt.«
»Er ist ein äußerst liebenswürdiger Mensch.«
»Vor allem ist er tüchtig«, ergänzte Omar. »Und allein darauf kommt es an.«
»Außerdem ist er ein guter Sohn und Bruder. Er hat sich immer Sorgen wegen seines Vaters und seiner Geschwister gemacht, und es hat ihn sehr mitgenommen, dass seine Frau bei der Geburt ihres ersten Kindes gestorben ist. Er hat nie wieder geheiratet«, fuhr Ali fort, ohne darauf zu achten, dass Omar die Brauen runzelte.
»Sein Privatleben geht uns nichts an. Ich stehe ganz und gar hinter ihm, und er genießt mein vollständiges Vertrauen. Ich weiß, dass er der richtige Mann für uns ist. Alles andere ist unerheblich.«
Dann, als fiele es ihm erst jetzt ein, sagte er: »Ach, Mohammed, fast hätte ich es vergessen! Ich muss mit Bezug auf deine Schwester doch noch etwas sagen. Sie hat dich mit Jalil bekannt gemacht, und du hast an einer Zusammenkunft in seinem Haus teilgenommen. Ich kann dir nur raten, halte dich von ihm fern. Er gehört nicht zu uns. Der alte Narr glaubt doch tatsächlich, dass man auf der Welt mit gutem Willen und Beten etwas erreicht.«
Mohammed kam sich geradezu nackt vor. Woher wusste Omar das alles? Mit einem Mal fiel ihm der junge Mann ein, den er gegenüber Lailas Büro gesehen hatte. Vermutlich leistete der für Omar Spitzeldienste. Panik überfiel ihn, als ihm aufging, dass Laila große Gefahr drohte.
»Jalil ist ein guter Mensch. Ich glaube nicht, dass er jemandem schadet«, sagte er furchtsam. Offenbar entging diesem Mann nichts, dem er da gegenüber saß.
»Ein Ärgernis ist er. Er besteht darauf, den Frieden zu predigen, und vergisst dabei, wie stark unser Feind ist. Erst wenn wir ihn besiegt haben, können wir von Frieden sprechen und uns großmütig zeigen.«
»Ich glaube nicht, dass von Jalil irgendeine Gefahr ausgeht«, wagte Mohammed anzumerken.
»Nein. Das liegt aber auch nur daran, dass wir das nicht zulassen werden. Du jedenfalls solltest sein Haus nicht mehr aufsuchen, auch nicht, um zu beten. In Granada findest du dafür genug Moscheen und Imame, die dich anleiten und dir helfen können, auf dem eingeschlagenen Weg weiterzugehen.«
Omar sah ihn fest an, und Mohammed begriff, dass das kein Rat, sondern ein Befehl gewesen war.
Mit einem Mal kam ein kleines Mädchen hereingestürmt, gefolgt von der Alten, die ihnen den Kaffee gebracht hatte.
»Papa, Papa! Darf ich mit zum Schulausflug? Mama sagt nein, aber ich möchte so gerne. Bitte, bitte, wenigstens dies eine Mal!«
»Aber Rania! Was für ein Benehmen ist das?«
Trotz des erzürnten Tones in Omars Stimme sah Mohammed, dass in die Augen dieses so unnachgiebig scheinenden Mannes ein Anflug von Zärtlichkeit getreten war. Bestimmt hatte die Kleine nur deshalb gewagt, ihren Vater zu stören, weil sie sicher war, dass sie nicht bestraft würde. Sie war höchstens zehn Jahre alt und trug zu der Schuluniform, deren grauer Rock ihr bis zu den Knöcheln reichte, ein Kopftuch.
»Tut mir leid, Papa, entschuldige.«
Sie senkte den Kopf, als bedauerte sie, den Vater belästigt zu haben, hob aber sogleich wieder das Kinn und fragte lächelnd: »Nicht wahr, du erlaubst es mir doch? Wir gehen auf die Alhambra.«
»Die kennst du doch schon«, gab Omar zurück.
»Aber ich war noch nie mit meinen Schulkameradinnen da. Das wird sicher schön.«
»Wir sprechen später darüber. Jetzt geh zu deiner Mutter.«
Die Kleine drang nicht weiter in ihn und verließ den Raum, gefolgt von der alten Frau, die ihr das Ungehörige ihres Verhaltens vorhielt.
»Es ist meine jüngste Tochter, entschuldigt.«
Keiner der beiden wagte etwas zu sagen. Sie hatten die Szene schweigend beobachtet und fragten sich im Stillen, ob Omar der Kleinen die Teilnahme an dem Ausflug erlauben würde.
»Das Schlimme am Leben in diesem Lande ist, dass wir fortwährend gegen den Einfluss der christlichen Lebensgewohnheiten kämpfen müssen, die unseren Frauen und Kindern den Kopf verdrehen. Der Tag wird kommen, an dem sie so leben müssen, wie es unsere Vorschriften verlangen. Doch bis dahin … machen wir weiter. Wo waren wir? Ach ja, bei Jalil.«
»Keine Sorge. Ich gehe nicht mehr hin«, versprach Mohammed.
»Das möchte ich mir ausgebeten haben. Ist jetzt alles klar? Dann solltet ihr mit Hakim reden.«
»Ist der denn auch hier?«, fragte Ali.
»Man wird euch zu ihm bringen. Er erwartet euch zum Essen. Er ist Ortsvorsteher eines Dorfs namens Caños Blancos in den Bergen der Alpujarras. Es gehört uns, denn wir haben alle Häuser aufgekauft, und es leben keine Ungläubigen mehr dort.«
Omar erhob sich und verabschiedete sich von seinen Besuchern. Er schien mit einem Mal besorgt zu sein, ohne dass Mohammed den Grund dafür hätte nennen können. Vielleicht hatte ihn das Eindringen seiner Tochter mehr geärgert, als er zeigen wollte.
An der Haustür umarmten sie einander zum Abschied. Der Geländewagen, der sie zu Hakims Haus bringen sollte, stand bereit.
Während der nahezu eine Stunde dauernden Fahrt überlegte Mohammed, dass die Essenszeit bestimmt vorüber sein würde, bis sie dort eintrafen. Er hatte Hunger, sagte aber nichts, denn er sah, dass sein Freund Ali in sich versunken dasaß und den leeren Blick über die Landschaft schweifen ließ. Auch der Fahrer sprach nicht, und so kam Mohammed zu dem Ergebnis, dass man von ihm ebenfalls Schweigen erwartete.
Als der Wagen in einen Feldweg einbog, sah man von ferne einen Berghang, an dessen Fuß mehrere leuchtend weiße Häuser standen. Es dauerte fast noch einmal eine halbe Stunde, bis sie dort eintrafen. Das von sich weithin erstreckenden Feldern umgebene Dorf bestand aus höchstens fünfzig Häusern. In seiner Mitte befand sich eine von ausladenden Feigenbäumen beschattete riesige Zisterne. Man sah niemanden, was angesichts der Hitze des frühen Nachmittags nicht weiter verwunderlich war.
Der Fahrer hielt vor einem Haus am jenseitigen Rand des Dorfes an. Während sie darauf warteten, dass man ihnen das Zufahrtstor öffnete, sah Mohammed, dass hinter dem Haus ein Gemüsegarten lag.
Ein bärtiger mittelgroßer Mann von athletischem Körperbau, dessen Gesicht eine kräftige Nase beherrschte, kam heraus.
»Willkommen, tretet ein. Ich habe schon auf euch gewartet.«
Er führte sie durch den Halbdämmer des Flurs in einen Raum, von dem aus es auf eine Terrasse ging. Ein kleiner Springbrunnen davor spendete angenehme Kühle.
»Setzt euch. Ihr bekommt gleich etwas zu essen.«
Gehorsam nahmen Mohammed und Ali auf einem Sofa Platz. Hakim setzte sich ihnen gegenüber.
Ein junger Mann in einer Djellaba, der gleich Hakim braune Augen hatte und dessen Gesicht wie bei diesem der Bart teilweise verdeckte, brachte ein Tablett mit einem Krug Wasser und Gläsern herein, das er auf den Tisch stellte. Mohammed glaubte, eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden feststellen zu können.
»Mein jüngerer Bruder Achmed«, sagte Hakim, als dieser wortlos wieder hinausgegangen war. »Er hat in Granada studiert. Ich glaube, er kennt deine Schwester.«
Mohammed rutschte unbehaglich auf dem Sofa umher. Es war ihm nicht recht, ständig an Laila erinnert zu werden, und so ging er nicht darauf ein, sondern konzentrierte sich auf das Glas Wasser, das er an die Lippen setzte.
»Allah sei Dank hat er gleich uns anderen den richtigen Weg gefunden. Anfangs wollte er nicht auf unsere Gründe hören, weil er sicher war, die Christen würden ihn wie ihresgleichen behandeln. Er hat gern in Granada studiert, weil ihm die Atmosphäre der Freiheit an der Universität gefallen hat, und stets hat er seine dortigen Freunde heftig verteidigt. Doch eines Tages hat er gemerkt, dass er nie einer von ihnen sein würde, sondern immer nur ein ›Muselmann‹, wie man uns herablassend nennt.«
Jetzt brachten Achmed und eine Frau, die ebenfalls in eine Djellaba gekleidet war und dazu ein Kopftuch trug, zwei Tabletts mit Salat, Käse, Hummus, Datteln und Orangen herein. Ohne ein Wort zu sagen, verschwanden beide so rasch, wie sie gekommen waren.
»Das war meine ältere Schwester. Sie ist verwitwet wie ich, und so kümmert sie sich um mein Haus. Ihre beiden Kinder leben ebenfalls hier. Sie sind noch klein.«
Schweigend hörten Ali und Mohammed zu.
Hakim forderte sie auf zuzugreifen. Während sie aßen, unterhielten sie sich über Belanglosigkeiten. Erst nachdem Hakims Schwester den Kaffee gebracht hatte, kamen sie auf ihr Vorhaben zu sprechen.
»Omar hat euch in Einzelheiten erklärt, worin der Auftrag besteht?«
»Ja«, sagten Mohammed und Ali wie aus einem Munde.
»Und seid ihr bereit? Ihr solltet es euch gut überlegen, denn die Sache wird nicht einfach sein. Es ist ohne weiteres möglich, dass der eine oder andere von uns dabei ums Leben kommt …«
»Wenn ich sterbe, hoffe ich, zu Allah ins Paradies einzugehen«, versicherte Ali im Brustton der Überzeugung.
»Was ist schon dabei, wenn wir sterben müssen? Die Hauptsache ist, der Auftrag wird erledigt«, fügte Mohammed voll Begeisterung hinzu.
»Sicher, sterben ist eine Ehre, aber Tote nützen niemandem etwas. Wichtig ist, dass der Auftrag erledigt wird. Sorgt also dafür, dass ihr zumindest bis zum letzten Tag am Leben bleibt. Danach spielt es keine Rolle mehr. Auf jeden Fall möchte ich, dass ihr euch gründlich vorbereitet. Dazu müsst ihr jeden Tag herkommen. Ich kann nur mit Leuten etwas anfangen, die in erstklassiger körperlicher Verfassung sind. Ganz davon abgesehen müsst ihr den Umgang mit Sprengstoff lernen, damit ihr euch nicht selbst gefährdet. Ich versichere euch, dass das kein Kinderspiel ist.
Ihr kommt um acht Uhr morgens zum Üben hierher. Außerdem werden wir an den Einzelheiten feilen und uns mit den Örtlichkeiten möglichst genau vertraut machen: Santo Toribio, die Heilig-Kreuz-Basilika in Rom und die Grabeskirche in Jerusalem. Zwar werden andere Brüder die Anschläge auf die beiden Letzteren ausführen, doch wir müssen für den Fall vorbereitet sein, dass diese Ehre uns zufällt. Wir kämpfen gegen das Kreuz, das Feldzeichen der anderen, das wir auf alle Zeiten zerstören werden. Wir warten, bis uns Salim al-Bashir sagt, dass der Augenblick gekommen ist, dann schlagen wir zu.«
»Werden sich die Leute im Dorf nicht über unsere Anwesenheit wundern?«, fragte Ali.
»Jeder, der hier wohnt, gehört der Gruppe an. Dass hier auch Frauen und Kinder leben, dient lediglich der Tarnung und sorgt für den Eindruck von Normalität. Die Behörden lassen uns zufrieden, denn wir zahlen unsere Steuern, und es gibt hier keine Schlägereien oder sonstige gewaltsame Auseinandersetzungen. Wir tun unsere Arbeit und beten in der Moschee. Einmal hat das spanische Fernsehen sogar eine Reportage über unser Dorf gebracht und es als Oase des Friedens und beispielhaft für die Eingliederung von Moslems im Lande bezeichnet.
Unsere landwirtschaftlichen Erzeugnisse vermarkten wir über eine eigene Genossenschaft. Um kein Aufsehen zu erregen, wirst du, Mohammed, deinen Leuten sagen, dass du hier Arbeit gefunden hast. Ali braucht niemandem Erklärungen abzugeben, denn seine Eltern leben in Marokko, und sein Bruder ist einer von uns.«
»Ich vertraue meinen Angehörigen«, sagte Mohammed.
»Dein Vater ist ein ordentlicher Mann und deine Mutter eine musterhafte Frau, aber sie gehören nicht der Gruppe an«, gab Hakim zurück.
»Mein Vater weiß … er weiß über Frankfurt Bescheid.«
»Dann weiß er schon zu viel. Du darfst zu Hause kein Sterbenswörtchen von diesem Auftrag sagen. Als Hassans Schwester weiß deine Frau, dass sie dir keine Fragen stellen darf. Was Laila angeht … Sicher hat man dir schon gesagt, dass wir ihr nicht vertrauen.«
»Sie tut nichts Böses«, versuchte Mohammed sie in Schutz zu nehmen.
»Sie ist keine gute Moslemin. Ich fürchte, sie legt sich den Koran so aus, wie es ihr passt. Zu ihrer Rechtfertigung beruft sie sich auf den alten Jalil. Nein, mein Freund, wir trauen ihr nicht.«
Mohammed unterließ es, ihm zu widersprechen, denn er hätte nicht gewusst, was er sagen sollte.
»So oder so«, schloss Hakim, »haben wir die Pflicht, über alles, was die Gruppe betrifft, strengstes Stillschweigen zu bewahren.«
Als Mohammed und Ali das Dorf verließen, wurde es allmählich dunkel. Auch die Rückfahrt nach Granada verlief schweigend.