22
Machmud sah aufmerksam zu, wie die drei Gruppen von je fünfzehn jungen Männern ihre Waffen bereit machten. Niemand wusste, wohin es gehen sollte. Er hatte ihnen lediglich mitgeteilt, dass sie vor Morgengrauen bereit zu sein hatten.
Hamsa dachte an David, den er in den vergangenen Tagen so gut wie nicht gesehen hatte. Sie waren einander aus dem Weg gegangen, hatten über den Zaun hinweg mit Zeichen ausgemacht, dass sie sich später treffen würden. Ob David etwas argwöhnte? Sogleich wies Hamsa diesen Gedanken von sich. Woher hätte er denn wissen sollen, dass sein Freund inzwischen einer Guerillagruppe angehörte?
In gewisser Hinsicht hatte es ihn überrascht, dass von David in den vergangenen Tagen nichts zu sehen gewesen war. Vielleicht ist unsere Freundschaft am Ende, weil wir einander nicht mehr trauen, ging es ihm durch den Kopf. Ich halte etwas vor ihm verborgen, und möglicherweise misstraut er mir oder verheimlicht mir selbst etwas.
»So ist es richtig. Mit einer ordentlich gereinigten Waffe schießt es sich gleich noch mal so gut«, unterbrach Machmud seine Gedanken. »Heute Nacht kannst du zeigen, was du gelernt hast und ob du etwas taugst.«
Ohne ihm zu antworten, sog Hamsa den Rauch seiner Zigarette tief ein. Inzwischen rauchte er unaufhörlich, obwohl ihm die Mutter Vorhaltungen machte. Der Vater gab sich verschlossen und war noch schweigsamer als sonst.
Er überlegte, warum Machmud das Ziel ihres Einsatzes für sich behalten mochte, und kam zu dem Ergebnis, dass er das wohl weniger aus Misstrauen tat, als um seine Macht zu demonstrieren.
Gegen vier Uhr morgens gab er seine Anweisungen.
»Echsan nimmt sich mit seinem Trupp das Dorf vor und Ali mit seinem die Lagergebäude. Du, Hamsa, greifst mit deinen Leuten den Kibbuz hinter eurem Grundstück an. Du warst ja gelegentlich schon auf dem Gelände und kennst dich da bestens aus. Schleicht euch unauffällig an. Sobald ihr die Sprengladungen gelegt habt, dringt ihr in die Häuser ein und erschießt alle. Anschließend jagt ihr die Ladungen in die Luft. Ich komme mit.«
»Im Kibbuz leben zwanzig Kinder«, sagte Hamsa entsetzt. »Die würden dabei umkommen …«
»Und wenn schon. Das sind Juden«, gab Machmud lachend zurück. »Wenn du nicht den nötigen Schneid aufbringst, bleibst du eben hier«, fügte er drohend hinzu und zielte mit seiner Pistole auf Hamsas Schläfe. Diesem war bewusst, dass Machmud nicht zögern würde abzudrücken. Der Mann schien förmlich einen Vorwand zu suchen, ihn zu töten, und Hamsa machte sich im Stillen Vorwürfe, weil er so am Leben hing.
Während er sich Machmuds Anweisungen anhörte, versuchte er die Übelkeit zu bekämpfen, die in ihm emporstieg. Machmud weidete sich unübersehbar an Hamsas Angst. Er hatte diese Situation bewusst herbeigeführt, weil er feststellen wollte, ob er sich auf Hamsa verlassen konnte. Sein ebenso einfacher wie grässlicher Gedankengang war: Wer es fertigbrachte, Menschen zu töten, die er kannte, würde auch andere töten.
Unter Hamsas Führung schlich sich der Trupp vorsichtig an den Zaun, der den Kibbuz umgab. Er wusste genau, wo man mit Wachen zu rechnen hatte und wo nicht. Sie durchschnitten den Draht und drangen mit angehaltenem Atem auf das Gelände vor. Hamsa hörte die leisen Rufe der Patrouillierenden und glaubte Davids Stimme zu erkennen.
Doch vielleicht hatte er sich verhört. Er flehte zu Allah, dass sein Freund in dieser Nacht keine Wache hatte.
Er bedeutete den anderen, sich im Gelände zu verteilen. Er hatte ihnen bereits erklärt, wo sie die Sprengladungen anbringen sollten. Während sich seine Gefährten flink und geräuschlos in der Dunkelheit bewegten, wartete er mit einigen weiteren Männern den geeigneten Augenblick ab, um die Wachen zu töten. Danach konnten sie in die Häuser eindringen und mit ihren Maschinenpistolen das Feuer auf die Schlafenden eröffnen. Er wusste, wo Davids Zimmer war. Er würde nicht dort hingehen und auch andere daran hindern.
Als alle Sprengladungen angebracht und die Männer zurückgekehrt waren, stürmten sie auf sein Zeichen los, traten die Türen ein und schossen auf die friedlich Schlafenden. Im nächsten Augenblick zerrissen Schreie die Stille der Nacht, und ihr Feuer wurde erwidert. Wie im Fieber schoss Hamsa wild drauflos, hierhin und dorthin, von Machmud gefolgt, der sich vom Verlauf ihres Überfalls befriedigt zeigte.
Einige der Angreifer fielen unter den Kugeln der Siedler. Dann sah Hamsa überrascht, dass die blonde Tanja laut schreiend feuerte. Natürlich, fiel ihm ein, die Juden machten in dieser Hinsicht keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen. Beide Geschlechter wurden im Gebrauch von Waffen geschult. Entsetzt sah er, wie das Mädchen im nächsten Augenblick zu Boden stürzte, von mehreren Kugeln getroffen.
Seine schlimmste Befürchtung wurde wahr, denn er sah David. Mit ausdruckslosem Gesicht visierte er und feuerte. Die Entschlossenheit des Freundes überraschte Hamsa. Machmud trieb ihn an, in den Teil des Kibbuz vorzurücken, den David verteidigte, und so blieb es nicht aus, dass sie einander bald gegenüberstanden. David sah ihn gequält an, schien aber nicht überrascht zu sein. Es kam Hamsa vor, als hätte David diesen Augenblick erwartet. Er wollte ihm zurufen, er solle Deckung suchen, und senkte die Waffe. Er wollte den Freund nicht töten, selbst auf die Gefahr hin, anschließend von Machmud erschossen zu werden. Doch im Unterschied zu Hamsa zögerte David nicht, sondern richtete die Pistole auf ihn. Er spürte einen stechenden Schmerz im Unterleib. Die Hand, mit der er unwillkürlich an den Unterleib fuhr, bedeckte sich mit Blut. Er sah David erneut an und erkannte den Kummer im Gesicht des Freundes. Lächelnd ließ er seine Waffe fallen und stürzte zu Boden.
Machmud sprang über ihn hinweg und gab einen Feuerstoß aus seiner Maschinenpistole auf den Mann ab, der Hamsa getötet hatte. Befriedigt sah er, wie dieser getroffen neben Hamsa zu Boden sank. So ein Idiot! Hamsa hatte die Waffe gesenkt, gezögert und seinem Mörder noch zugelächelt. Um ihn war es nicht schade. Mit seiner Feigheit hatte er nichts anderes verdient, als zu krepieren wie ein Hund.
Machmud gab den Befehl zum Rückzug. Während der Trupp den Kibbuz verließ, detonierten die Sprengladungen. Er war zufrieden; die Operation war ein voller Erfolg – dieser Kibbuz hatte aufgehört zu existieren.
Der Überfall auf den Kibbuz war ein Gemetzel gewesen. Nur fünf Kinder hatten überlebt, von den hundert Erwachsenen dreißig, unter ihnen David.
Dass er noch lebte, war ein Wunder. Machmuds Kugeln hatten ihm nicht nur einen Lungenflügel zerfetzt und ein Schlüsselbein zerschmettert, eine war auch durch den Magen gedrungen und eine andere durch den Oberschenkel.
Mehrere Tage schwebte er zwischen Leben und Tod. Die Ärzte zeigten sich verblüfft von der Widerstandskraft seines Körpers.
Eine Sauerstoffmaske führte ihm Atemluft zu. Er konnte nicht sprechen, hatte nicht einmal die Kraft, die Augen aufzuschlagen. Einmal, als er sie geöffnet hatte, glaubte er Martine Dupont zu sehen, vielleicht auch Saul, doch er war sich seiner Sache nicht sicher.
Er hörte, wie die Ärzte sagten, dass sie an seinem Durchkommen zweifelten. Ihm war es gleich. Er dämmerte unter der Wirkung der Schmerzmittel vor sich hin. Als er wieder zu sich kam, sah er vor seinem inneren Auge Hamsa, der lächelnd mit gesenkter Waffe auf ihn zutrat. Ja, es war offenkundig, dass sein Freund nicht auf ihn hatte schießen wollen, während er selbst keinen Moment gezögert hatte. Er sah ihn zu Boden sinken, nach wie vor das Lächeln auf dem Gesicht, als handelte es sich um ein Spiel.
Mit diesem Bild Hamsas konnte er nicht weiterleben. Jede Sekunde seines wachen Daseins würde er das lächelnde Gesicht und die Hand sehen, die die Pistole sinken ließ. In jenem entscheidenden Augenblick hatte sich Hamsa als tapfer und er als feige erwiesen. Dies Bild würde ihn wie ein Alptraum sein Leben lang verfolgen, doch er war nicht bereit, zeitlebens zu fliehen. Da war es schon besser zu sterben. Warum blieb sein Herz nicht einfach stehen?
So viel Mühe, ihn am Leben zu halten. Wozu? Falls er wieder auf die Beine käme, würde er es sich selbst nehmen.
»David, mein Sohn, hörst du mich?«
War das die Stimme seines Vaters? Er bemühte sich, die Augen zu öffnen, doch die Lider waren zu schwer. Es konnte nicht sein. Bestimmt war es wieder ein Traum. Ein weiterer Alptraum.
»Glauben Sie, dass er mich hört?«
»Das kann Ihnen niemand sagen«, gab der Arzt zur Antwort. »Es ist ein wahres Wunder, dass er noch lebt. Ich weiß nicht, wie es weitergeht, ob er sich je wieder wird bewegen können… Sein Herz hat bisher durchgehalten, es ist jung und kräftig. Er liegt nach wie vor im Koma. Wie lange dieser Zustand andauern wird, ist völlig unbestimmt …«
Auf einmal glaubte er auch die Stimme des Großvaters zu hören, der ihn aufforderte, die Augen zu öffnen und zu kämpfen.
»Gib nicht auf, David, wir sind bei dir. Du musst weiterleben.«
Hamsa lächelte ihm zu und zog ihn sacht an der Hand. Er schien ihm nicht zu grollen. Er wollte mit dem Freund sprechen, ihn um Verzeihung bitten, doch Hamsa wollte nichts davon hören, zog ihn lediglich sacht, aber unwiderstehlich, an der Hand mit sich auf die Ewigkeit zu.
Arnaud merkte, dass die Hand seines Sohnes mit einem Mal eiskalt war. Er drückte sie kräftig und rief dann mit lauter Stimme nach der Krankenschwester.
Zwei Ärzte und mehrere Schwestern eilten herbei, während Arnaud lautlos Gott anflehte, ihn wenigstens dieses eine Mal nicht im Stich zu lassen.
Bevor einer der Ärzte den Mund auftun konnte, wusste Arnaud, was er hören würde.
Sie begruben David auf dem Gelände des Kibbuz nahe dem Zaun zum Garten von Hamsas Eltern. Arnaud merkte, wie ein Mann durch die Bäume zu ihnen hersah, und erkannte in dessen Augen den gleichen Schmerz, den er empfand.
Aber es gab nichts, was sie einander hätten sagen können, und sie wären nicht imstande gewesen, sich gegenseitig zu trösten.
Da trat ein Alter mit einer leeren Pfeife in der Hand auf ihn zu.
»Es gibt keine Worte, um einen Mann zu trösten, der einen Sohn verloren hat, aber Sie sollen wissen, dass sein Mörder tot ist.«
Dann wandte er sich um und ging. Reglos und ohne zu wissen, was er tun oder sagen könnte, hörte Arnaud zu, während ihm jemand eine Erklärung zuflüsterte.
»Er heißt Saul und ist Offizier der Hagana. Vergangene Nacht hat er Davids Tod gerächt. Er hat den Mann aufgespürt, der ihn niedergeschossen hat. Es war ein gewisser Machmud, einer der Anführer der Guerilla. Saul hat ihn getötet und dabei das eigene Leben aufs Spiel gesetzt. Ganz allein hat er ihn in seinem Haus überrascht, wo er mit einigen seiner Männer zu Abend aß, und sie alle erschossen.«
»Was nützt mir sein Tod?«, fragte Arnaud.
»Auge um Auge, Zahn um Zahn, so lautet das Gesetz hier im Orient. Wer einen der Unseren tötet, muss wissen, dass er sich nirgends verstecken kann. Wir werden ihn finden und töten.«