38
Graf Raymond de la Pallissière freute sich über den Anblick der vielen Touristen, die wegen des bevorstehenden Osterfestes in noch größerer Zahl als sonst in die Burg gekommen waren.
Seit Jahren öffnete er sie an einem bestimmten Wochentag der Öffentlichkeit. Damit sparte er Steuern, denn so galt sie als nationales Denkmal. Schulklassen, Seniorengruppen und auch Einzeltouristen, die sich in der Gegend aufhielten, nahmen gern an den Führungen teil.
Catherine, die neben ihm stand, fragte, als sie den Ausdruck der Befriedigung auf seinen Zügen sah: »Du bist sicher sehr stolz auf die Burg?«
»Ich bin stolz darauf, der zu sein, der ich bin, und eine der bedeutendsten Familien Frankreichs zu vertreten, bin stolz auf das, was wir waren, und gedenke stolz auf das zu sein, was wir tun werden. Ich hoffe, dass du als Erbin all dessen hier die Burg und dieses Land eines Tages ebenso liebst wie ich.«
Sie drückte zärtlich seinen Arm. Die Inbrunst, mit der er gesprochen hatte, schien sie gerührt zu haben. Dann aber gewann sie den Eindruck, dass er das womöglich gar nicht gemerkt hatte, denn sie sah, wie er mit einem Mal erstarrte, als hätte er ein Gespenst gesehen. Sie folgte seinem Blick, doch fiel ihr in der Touristengruppe nichts auf.
»Was hast du?«, fragte sie unruhig.
Bevor er antworten konnte, trat ein Mann in mittleren Jahren mit einem spöttischen Lächeln auf den Lippen auf ihn zu.
»Graf d’Amis?«, fragte er.
»Ja …«, brachte dieser heraus.
»Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Wir sind einander vor einigen Monaten bei einem Kongress über die Kreuzzüge vorgestellt worden. Sie erinnern sich doch? Ich bin ein guter Bekannter des Professors Beauvoir.«
Dem Gesichtsausdruck des Grafen glaubte Catherine entnehmen zu können, dass er nicht ahnte, wer dieser Professor Beauvoir war.
»Ach ja! Wie schön! Als ich Sie gesehen habe … kam es mir gleich so vor, als müsste ich Sie kennen … Gefällt Ihnen die Burg?«
»Sie ist prachtvoll.«
»Ich würde mich freuen, wenn Sie mir berichten könnten, wie es dem guten Beauvoir geht. Finden Sie nicht auch, dass es sich bei einer Tasse Tee besser plaudert?«
»Vielen Dank, gern.«
»Kommen Sie bitte mit.« Mit diesen Worten führte er den Besucher zur Bibliothek.
Catherine, die sich ausgeschlossen fühlte, sagte: »Ich sage Edward Bescheid, dass er uns den Tee servieren soll.«
Als der Fremde sie erstaunt ansah, teilte ihr der Graf mit: »Nicht nötig, darum kümmere ich mich schon.« Dann fügte er hinzu: »Ich darf Ihnen meine Tochter Catherine vorstellen. Sie hält sich zu einem Besuch hier auf.«
Erstaunt fragte sie sich, warum er es für nötig hielt, einem Fremden eine solche Erklärung abzugeben.
»Ihre Tochter? Sehr angenehm.«
»Das Vergnügen ist ganz meinerseits, Monsieur …«
»Brown.«
»Ich freue mich, dass Ihnen die Burg gefällt.«
»Catherine … wenn es dir nichts ausmacht, würde ich gern eine Weile mit unserem Besucher über … Professor Beauvoir sprechen. Wir sehen uns dann beim Essen.«
Sie nickte zustimmend und mischte sich unter die Touristen, denen der Führer gerade einen Teppich aus dem 17. Jahrhundert mit einer Jagdszene zeigte.
Während der Graf und sein Besucher der Bibliothek zustrebten, tauchte Edward auf, der einen siebten Sinn dafür zu haben schien, wann er gebraucht wurde.
»Das trifft sich gut! Könnten Sie uns Tee in der Bibliothek servieren? Oder wäre Ihnen Kaffee lieber?«, erkundigte sich d’Amis bei seinem unerwarteten Gast.
»Gern Kaffee, aber bitte nicht so stark. Hier bei Ihnen in Frankreich wird er für meinen Geschmack zu stark getrunken.«
»Gewiss«, sagte Edward und verschwand ebenso unauffällig, wie er gekommen war.
Als die beiden Männer in der Bibliothek allein waren, sahen sie einander an. In den Augen des Grafen lag Unruhe, in denen seines Besuchers leiser Spott.
»Ich scheine Sie ziemlich erschreckt zu haben. Das ist mir unangenehm, aber ich muss unbedingt mit Ihnen sprechen. Und da ich in letzter Zeit den Eindruck gewonnen habe, dass die Telefonleitungen nicht mehr sicher sind …«
»Ich habe Sie anzurufen versucht.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber da die Herren, in deren Auftrag ich tätig bin, die unterschiedlichsten Interessen vertreten, bin ich verpflichtet, hierhin und dorthin zu reisen. Ihre Tochter ist wirklich hübsch. Ich wusste gar nicht, dass sie sich hier aufhält. Lebt sie nicht in den Vereinigten Staaten?«
»Wie Sie wissen, ist ihre Mutter kürzlich gestorben, und so hat sie sich zu einer Reise nach Frankreich entschlossen.«
»In dem Bericht über Sie heißt es, dass weder Ihre Gattin noch Ihre Tochter mit Ihnen verkehrte …«
»Das war auch der Fall. Aber nach dem Tod meiner Frau hat Catherine eine Reise nach Frankreich unternommen, um auf andere Gedanken zu kommen, und auch, um die Orte kennenzulernen, an denen ihre Mutter in jungen Jahren gelebt hat. Unser Verhältnis ist nicht unbedingt herzlich, aber immerhin reden wir inzwischen miteinander.«
»Ergreifend.«
»Was führt Sie hierher, Koordinator?«
»Nennen Sie mich nicht länger Koordinator. Sie können mich mit Brown anreden.«
»Was natürlich nicht Ihr wirklicher Name ist.«
»Ach ja? Mir gefällt er. Aber wenden wir uns unserem Projekt zu. Übermorgen ist Karfreitag. Ist alles bereit?«
»Ja. Die Kommandos werden wie vorgesehen verfahren. Die Frau ist in Istanbul, wo die Männer des Jugoslawen sie Tag und Nacht bewachen. Ich zweifle nicht im Geringsten daran, dass sie zusammen mit den Reliquien in die Luft fliegen wird.«
Beide verstummten, als es leise an die Tür klopfte. Ein Dienstmädchen stellte ein Tablett auf einen Couchtisch und ging wieder, nachdem der Graf erklärt hatte, er brauche sie nicht mehr.
Zwar sagte er nichts, fragte sich aber im Stillen, warum Edward nicht selbst gekommen war. Wo mochte der Mann stecken?
»Im Zentrum der Europäischen Union zur Terrorismusabwehr herrscht hektische Betriebsamkeit«, teilte ihm der Mann mit, der Brown genannt werden wollte. »Soweit ich weiß, behandelt dessen Leiter, Hans Wein, den Fall Frankfurt als streng geheim. Nicht einmal seine engeren Mitarbeiter kennen die letzten Einzelheiten der Ermittlung. Das beunruhigt mich.«
»Wieso? Die Leute können den Fall Frankfurt unmöglich mit uns in Verbindung bringen.«
»Ja, das dürfte in der Tat schwierig sein. Aber man soll die Intelligenz anderer Menschen nie unterschätzen. Es ist immer möglich, dass es irgendwo eine undichte Stelle gibt.«
»Es gibt keine. Sie werden doch nicht im letzten Augenblick noch nervös werden?«
»Ich nicht. Aber wenn es einen Fehlschlag gibt, haben Sie allen Grund, nervös zu werden.«
»Den wird es nicht geben. In Santo Toribio wird nicht das kleinste Stückchen der Kreuzesreliquie übrig bleiben, und auch was das Heilige Grab betrifft, habe ich keinen Zweifel.«
»Und wie sieht es mit Rom aus?«
»Auch die Heilig-Kreuz-Basilika wird in die Luft fliegen. Dieser Verlust wird die Christenheit schwer treffen …«, sagte der Graf tief befriedigt.
»Und alle Anschläge werden um dieselbe Stunde stattfinden?«
»Nein, jedes Kommando bestimmt den für sein Vorhaben am besten geeigneten Augenblick selbst. Wichtig ist allein der Erfolg. Außerdem ist die Wirkung größer, wenn zuerst Santo Toribio oder das Heilige Grab gesprengt wird, und erst dann die Basilika in Rom. Dieser Freitag wird ein schwarzer Tag für die Christenheit sein.«
»Aber auch für den Islam.«
»Ja, auch für den, und daraufhin werden sich Christen und Moslems in einen Krieg verbeißen.«
»Hoffentlich behalten Sie Recht. Die Herren, die ich vertrete, dulden kein Versagen.«
»Ich habe es schon einmal gesagt, alles wird glattgehen. Ich rufe Sie am Freitag an.«
»Nein. Wir sehen und sprechen einander heute zum letzten Mal. Hiermit endet unsere Geschäftsbeziehung, respektive sie steht kurz vor dem Ende. Sie werden bekommen, was Sie wollen – Ihre private Rache für etwas, was vor fast achthundert Jahren geschehen ist.«
»Und Sie ebenfalls, nämlich die gewalttätige Auseinandersetzung zwischen den beiden Religionen.«
»Ach was! Die interessieren weder mich noch die Leute, die ich vertrete. Es geht ausschließlich um Geschäfte, um sonst nichts. Wenn die Menschen so töricht sind, einander im Namen Allahs oder Gottes umzubringen, soll uns das recht sein. Es ist für uns ein glänzender Vorwand zu erreichen, dass sich die Regierungen in die für uns vorteilhafte Richtung bewegen.«
»Ich werde Sie also nicht wiedersehen.«
»Nein. Ich bin lediglich gekommen, um mich zu vergewissern, dass alles seinen Gang geht und es nicht in letzter Minute zu unvorhergesehenen Zwischenfällen kommt.«
»Das wird es nicht, Sie können beruhigt sein.«
»Gut, dann gehe ich.«
»Wollen Sie zum Essen bleiben?«
»Das wäre nicht klug. Ihre Tochter könnte Verdacht schöpfen.«
»Wieso das?«
»Ich glaube, dass sie über mehr Scharfblick verfügt, als Sie vermuten.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Das sehe ich am Glanz ihrer Augen.«
Der Graf gab keine Antwort. Während er sich erhob, um sich von dem Mann zu verabschieden, fühlte er Erleichterung darüber, dass er nichts mehr mit ihm zu tun haben würde. Ihm haftete etwas an, was ihn von Anfang an abgestoßen hatte.
Sie verließen die Bibliothek und wandten sich dem Burghof zu. Ein lautes Geräusch ließ sie zusammenfahren. Die Tür der Bibliothek war ins Schloss gefallen, so, als hätte jemand sie in großer Eile verlassen. Der Koordinator sah den Grafen aufmerksam an. »Vermutlich hat der Wind ein Fenster zugeschlagen.«
»Meinen Sie? Soweit ich gesehen habe, waren alle Fenster geschlossen. Niemand kann dort gewesen sein. Da es zur Bibliothek nur eine Tür gibt, besteht kein Anlass, nervös zu werden.«
»Sie werden Ihre Räumlichkeiten kennen. Nur hoffe ich … dass alles gut geht, denn ich kann Ihnen versichern, dass man sich andernfalls nicht an mich halten würde. Die Leute, die ich vertrete, haben beste Beziehungen zu Menschen, die Sie lieber nicht kennenlernen würden. Achten Sie also darauf, Ihre Fenster geschlossen zu halten.«
»Wie können Sie es wagen, mir auf meinem eigenen Grund und Boden zu drohen?«
»Das ist nicht als Drohung gemeint, Graf, sondern als Hinweis.«
Während der Mahlzeit war d’Amis nicht bei der Sache, aber auch Catherine schien keine besondere Lust zu haben, ein Gespräch zu führen. Kurz bevor die Tafel aufgehoben wurde, erklärte sie ihre Absicht abzureisen.
»Wann hast du den Entschluss gefasst?«
»Ich hatte dir doch schon gesagt, dass ich nicht lange bleiben würde.«
»Wohin willst du?«
»Ich möchte gern die Côte d’Azur kennenlernen. Danach fahre ich vielleicht nach Italien weiter.«
»Bleib doch bitte noch«, bat er sie.
»Ich hatte von Anfang an nicht die Absicht hierzubleiben. Mein Lebensmittelpunkt ist New York, und ich kann auch die Galerie nicht aufgeben. Mutter hat schwer gearbeitet, um sie voranzubringen.«
»Darf ich dich begleiten?«
»Nach New York?«
»Wohin du willst. Ich bin alt und habe niemanden außer dir. In wenigen Tagen … wird das, was meinem Leben bisher einen Sinn gegeben hat, vorüber sein.«
»Und was hat deinem Leben einen Sinn gegeben?«
»Der Wunsch, das Blut der Unschuldigen zu rächen.«
»Du bist ja verrückt.«
»Nein. Du weißt, dass das nicht stimmt.«
»Ich kann nicht hierbleiben.«
»Wenigstens noch zwei, drei Tage. Warte bis zum Ende der Karwoche.«
»Warum?«
»Es ist das Einzige, worum ich dich bitte.«
»Von mir aus«, stimmte sie zu.
Edward hörte dem Gespräch der beiden zu, während er den Tisch abräumte. Er schien bedrückt zu sein, ganz wie sein Herr. Catherine sah zu ihm hin, und in beider Augen blitzte es herausfordernd auf.