36

Graf Raymond de la Pallissière leitete die allwöchentliche Sitzung des Verwaltungsrats der Stiftung ›Katharergedächtnis‹ und antwortete auf die besorgten Fragen der Männer, die seine Vorstellungen teilten. Gleich ihm empfanden sie der katholischen Kirche gegenüber nichts als glühenden Hass und vertrauten auf seinen Plan, Rom einen schweren Schlag zu versetzen, obwohl keiner von ihnen wusste, worin dieser Schlag bestehen sollte. Sie waren auch nicht begierig darauf, das zu erfahren, wohl aber wollten sie wissen, wann es so weit sein werde.

Alle verstummten, als der Butler in die Bibliothek geeilt kam, wo die Sitzung stattfand. Er trat zu d’Amis und flüsterte ihm etwas zu, das offenbar von großer Tragweite war, denn alle sahen, wie dieser erbleichte.

»Meine Herren … bitte entschuldigen Sie mich einige Minuten.«

Von Edward gefolgt, verließ er die Bibliothek.

Sichtlich übel gelaunt erwartete ihn Catherine stehend. Mit fragendem Blick trat er auf sie zu.

»Ich habe es mir überlegt«, sagte sie, als sei das eine hinreichende Erklärung für ihren Besuch.

»Du bist willkommen.«

»Danke.«

»Edward, begleiten Sie meine Tochter Catherine in die grüne Suite und bitten Sie eins der Mädchen, ihr behilflich zu sein.«

»Ich bleibe nicht lange.«

»Die Burg steht vollständig zu deiner Verfügung. Du kannst bleiben, solange du möchtest. Wenn du gestattest, werde ich die Sitzung mit einigen Verwaltungsratsmitgliedern meiner Stiftung fortführen. Ich hoffe, dass sie nicht mehr lange dauert.«

»Ich möchte dir nicht zur Last fallen.«

»Das tust du nicht. Jetzt aber entschuldige mich bitte.«

Verwirrt und zugleich befriedigt kehrte er in die Bibliothek zurück. Er würde sich wohl an Catherines Sprunghaftigkeit gewöhnen müssen. In dieser Hinsicht glich sie ihrer Mutter durchaus.

Catherine folgte Edward in den ersten Stock, wo dieser die Tür zu einem mit blassgrüner Seide ausgeschlagenen Raum öffnete.

»Ich schicke Ihnen gleich ein Mädchen, das Ihnen beim Auspacken helfen wird.«

»Nicht nötig, das kann ich allein.«

»Aber vielleicht brauchen Sie etwas …«

»Nein, nichts. Danke.«

Als er hinausging, atmete Catherine erleichtert auf und sah sich um.

Der Raum enthielt außer einem riesigen Himmelbett einen eleganten Damenschreibtisch mit zwei Stühlen, deren Bezüge von einem kräftigeren Grün als die Wandbespannung war. Sie sah zwei Türen und öffnete sie neugierig. Die eine führte in ein Bad und die andere in ein Ankleidezimmer.

Es dauerte keine zehn Minuten, bis sie ihre Koffer ausgepackt hatte. Sie brannte darauf, die Burg kennenzulernen.

Als sie auf den Treppenabsatz trat, sah sie, dass Edward wenige Schritte von der Tür entfernt stand.

»Wünschen Sie etwas?«

»Ja, ich möchte gern die Burg kennenlernen. Können Sie sie mir zeigen?«

Er lächelte befriedigt und diente der jungen Dame, die eines Tages Burgherrin sein würde, als Führer.

 

»Nun, meine Herren, als Letztes möchte ich Ihnen noch mitteilen, dass wir binnen weniger Tage, nämlich am Karfreitag, unseren Familien Genugtuung für das Leid verschaffen können, das man ihnen einst zugefügt hat. Mehr darf ich auch Ihnen noch nicht sagen.«

Ein älterer Herr mit deutlich südfranzösischem Akzent bat um das Wort. »Ich möchte Sie in unser aller Namen zum Ergebnis dessen beglückwünschen, was Sie unternommen haben. Die Familie d’Amis hat die Erinnerung an das, was in dieser Gegend geschehen ist, am Leben erhalten und dafür gesorgt, dass wir unsere Märtyrer nicht vergessen haben. Ganz wie Ihr Herr Vater haben Sie sich von grenzenloser Großzügigkeit gezeigt.«

Als Nächster erhob sich ein Mann in mittleren Jahren. »Wir haben Verständnis dafür, dass Sie uns keine genaueren Angaben machen dürfen. Aber könnten Sie uns nicht zumindest das Ausmaß dessen schildern, was geschehen wird?«

D’Amis sah sie einige Sekunden lang an, bevor er antwortete. Nein, er würde ihnen kein weiteres Wort sagen. Der Koordinator hatte darauf bestanden, dass alles bis zum letzten Augenblick geheim zu halten sei. Niemand dürfe mehr wissen, als unbedingt nötig, hatte er ihm immer wieder eingeschärft. Seiner Aussage nach wussten nicht einmal die Männer und Körperschaften, die er vertrat, was geschehen würde, noch wann. Ihnen lag an Ergebnissen, und die garantierte ihnen der Koordinator, so wie der Graf den Gleichgesinnten um seinen Bibliothekstisch herum die Gewähr dafür bot, dass der Tag der Rache kurz bevorstand.

»Um des Erfolgs der Unternehmung willen, aber auch zu Ihrer eigenen Sicherheit und der meinen, ist es besser, wenn Sie nichts wissen. Achten Sie einfach am Freitag auf das, was geschieht … Mehr darf ich Ihnen nicht sagen.«

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Alle Anwesenden richteten den Blick auf den Umriss der Frau, der sich dort im Schatten abzeichnete, und sie hörten, wie Edward sagte: »Ich hatte Ihnen doch gesagt, dass wir jetzt nicht in die Bibliothek können.«

Aber Catherine trat mitten in den großen Raum und sagte mit breitem Lächeln, ohne ihren Vater anzusehen: »Entschuldigung! Es tut mir leid, Sie unterbrochen zu haben.«

Der Graf sah sie an, und sie merkte, dass in seinen grünen Augen wilder Zorn aufblitzte.

»Meine Herren, ich stelle Ihnen meine Tochter vor. Catherine, diese Herren sind die Verwaltungsratsmitglieder der Stiftung ›Katharergedächtnis‹.«

Alle erhoben sich sogleich, um die Tochter des Grafen d’Amis zu begrüßen. Sie wussten von ihrer Existenz, und der eine oder andere hatte sogar ihre Mutter Nancy gekannt, die vorübergehend mit dem Grafen verheiratet gewesen war.

Mit entschuldigendem Lächeln sagte sie: »Ich bin gerade erst angekommen und muss zugeben, dass ich von der Burg ganz begeistert bin. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen einzutreten, als ich von Edward erfuhr, dass diese Bibliothek Porträts meiner Vorfahren enthält … All das ist für mich so neu …«

Alle fanden sie bezaubernd und beglückwünschten d’Amis zur Anwesenheit seiner Tochter, wobei sie hinzufügten, dass das Walten einer weiblichen Hand sicherlich nicht von Schaden sein könne.

Es erübrigte sich, die Sitzung offiziell zu schließen, und so bat der Graf den Butler, seinen Gästen einen Aperitif anzubieten. Angesichts der Uhrzeit, es war inzwischen halb acht am Abend, entschieden sich die meisten für ein Glas Sherry.

Catherine unterhielt sich mit einigen der Herren über die Bräuche der Region. Manches, was sie erfuhr, erstaunte sie. Als d’Amis sah, wie lernbegierig sie zu sein schien, legte sich sein Zorn allmählich und machte dem Gefühl des Stolzes Platz, eine solche Tochter zu haben.

Eine halbe Stunde später verabschiedeten sich die Herren mit den besten Wünschen für einen angenehmen Aufenthalt auf der Burg von ihr und luden sie ein, sie in Begleitung ihres Vaters zu besuchen.

Einer, weit älter als der Graf, trat auf ihn zu, umarmte ihn und küsste Catherine die Hand. »Heute ist ein glücklicher Tag, nicht nur wegen der guten Nachricht, die uns Ihr Vater übermittelt hat, sondern auch, weil ich Sie kennenlernen durfte. Mein lieber Freund, am Karfreitag reden wir miteinander.«

D’Amis war versucht, Catherine ihr Eindringen in die Sitzung vorzuhalten, unterließ es dann aber. Sein Stolz darauf, dass diese Männer seine Erbin kennengelernt hatten, überwog seinen Ärger.

»Du sprichst erstaunlich gut Französisch«, sagte er. »Woher kommt das?«

»Mutter hat immer darauf gedrängt, dass ich es gründlich lerne«, gab sie zurück. »Ich hatte eine sehr gute Lehrerin, Madame Picard aus Kanada.«

»Deinem Akzent nach zu urteilen, muss sie eine glänzende Lehrerin gewesen sein.«

 

Bedächtig trank Hakim den aromatisierten Tee, den ihn Saïd, der Leiter der Gruppe in Jerusalem, angeboten hatte. Die beiden besprachen die Einzelheiten des Anschlags.

»Dein Visum ist einen Monat lang gültig. In dieser Hinsicht brauchst du dir also keine Sorgen zu machen. Die Pilger, mit denen du gekommen bist, besichtigen gerade den Sinai.«

»Glaubst du, dass die Juden nichts merken? Sie kontrollieren alles.«

»Auch sie sind nicht unfehlbar. Sie verstehen es nicht, im Dunkeln zu kämpfen. Sieh doch, wie es im Libanon war, wo sie nicht vermocht haben, die Hisbollah zu besiegen. Sie können gegen Heere kämpfen, eine Atombombe abwerfen, aber im Dunkeln zu kämpfen verstehen sie nicht.«

»Der Mossad …«

»Ist ein Mythos! Der lebende Beweis dafür sind wir: Sie wissen nichts von der Gruppe. Also immer ruhig Blut!«

»Wir dürfen uns nicht in Sicherheit wiegen.«

»Das tun wir auch nicht. Wir haben Männer, die uns überallhin folgen, um festzustellen, ob uns der Mossad oder Shin Beit beschattet, und sie haben nichts gesehen. Du wirst vierundzwanzig Stunden am Tag beschützt, mein Freund.«

»Mir geht es nicht um mein Leben, sondern um den Erfolg des Unternehmens.«

»Du wirst bis zu dem Tag leben, an dem du deine Heldentat vollbringen sollst. Die ganze Welt wird darüber staunen, und unsere Brüder werden dich segnen.«

»Nicht mich sollen sie segnen, sondern die Männer, die uns so weise führen.«

»Jetzt, mein Freund, lass uns den Plan noch einmal durchgehen. Ein Glück, dass unser Bruder Omar ein Reisebüro betreibt. Seine Anweisungen sind klar: Am Freitagmorgen wirst du zu deiner Pilgergruppe stoßen, die dem Gottesdienst in der Grabeskirche beiwohnen will. Niemandem wirst du auffallen. An jenem Tag werden Hunderte von Pilgern aus der ganzen Welt dort sein. Den Sprengstoffgürtel trägst du am Leib.«

»Und was ist mit den Kontrollen?«

»Glaubst du, die israelischen Soldaten interessieren sich für eine Pilgergruppe, die von ihrem Reiseleiter in die Kirche geführt wird? Sie werden nicht mal zu euch hinsehen. Du musst nur darauf achten, dass du bis an die Stelle gelangst, wo die Reliquie aufbewahrt wird, und dort … von dort aus wirst du ins Paradies eingehen. Der Zünder lässt sich ganz einfach betätigen. Du braucht nur an einem Ring zu ziehen.«

»Die Reliquie ist gut geschützt. Meinst du, die Explosion genügt, sie zu zerstören?«

»Es wird nichts davon übrig bleiben. Wirklich schade, dass du das nicht selbst mit ansehen kannst. Ach ja! Ich soll dir noch etwas von Omar ausrichten. Wenn deine Reisegruppe vom Sinai zurück ist, wird sie an einem der nächsten Tage nach Jordanien fahren, um in Petra die Felsengräber zu besuchen. Du sollst mitfahren.«

»Das werde ich tun. Vorher aber möchte ich noch einmal in die Grabeskirche, um mir den Weg genau einzuprägen.«

»Das würde ich lieber nicht tun, damit du niemandem auffällst. Wir waren schon dreimal dort, und du kennst den Weg auswendig.«

»Ich muss noch einmal hin …«

»Nein, Hakim. Wir dürfen unser Glück nicht zu sehr auf die Probe stellen.«

 

Catherine hatte darauf bestanden, selbst zu fahren, und d’Amis hatte das nur widerwillig zugelassen. Er fühlte sich sicherer, wenn der Fahrer am Steuer saß, der schon seit vielen Jahren in seinem Dienst stand.

Verblüfft sah er, wie sich Catherines Wesen zu ändern schien. Zwar behandelte sie ihn weder liebevoll noch auch nur liebenswürdig, aber zumindest war sie nicht mehr so schroff und abweisend wie am Anfang. Manchmal gab es sogar Augenblicke, in denen er sie entspannt und lächelnd erlebte.

Er hatte ihr jeden Winkel der Burg gezeigt, und sie hatten gemeinsam die Umgebung erkundet, doch der große Ausflug des heutigen Tages sollte sie nach Montségur führen.

Unaufhörlich stellte sie ihm Fragen nach seiner Stiftung. Mit einem Mal schien sie sich für die Vergangenheit zu interessieren und erklärte sich sogar begeistert von Bruder Juliáns Chronik, obwohl sie der Bitte des Vaters, sie zu lesen, anfangs nur widerwillig nachgekommen war. Diese Lektüre, hatte er ihr erklärt, sei nötig, damit sie die Geschichte ihrer Familie verstehen könne.

In diesem Augenblick aber dachte er an den Koordinator. Er hatte mehrfach vergeblich versucht, ihn anzurufen, und ihn beunruhigte, dass er den Mann nicht erreichte. Auch den Jugoslawen hatte er anrufen wollen, um sich zu vergewissern, dass Ylena das Material wie vereinbart bekommen hatte, und bei diesem Anruf hatte er ebenfalls kein Glück gehabt. Niemand hatte sich gemeldet.

»Du hörst mir ja gar nicht zu. Du bist abgelenkt.«

»Entschuldigung, was hast du gesagt?«

»Ich hatte dich nach dem Professor gefragt, der die Geschichte dieses Dominikanermönchs, Bruder Julián, aufgeschrieben hat.«

»Arnaud? Mein Vater hatte ihn mit dieser Aufgabe betraut, weil er einer der besten Mediävisten Frankreichs war. Unglücklicherweise war die Beziehung mit dem Mann nicht einfach. Er war mit einer Jüdin verheiratet, die eines Tages verschwunden ist, und darüber hat er den Verstand verloren.«

»Sie ist verschwunden? Wieso?«

»Das weiß ich nicht. Ich glaube, sie ist von einer Reise nicht zurückgekehrt. Er ist, wie es scheint, nicht darüber hinweggekommen, dass sie ihn verlassen hatte, und im Umgang schwierig geworden. Mein Vater wollte, dass er mit einer Gruppe von Forschern und Studenten zusammenarbeitete, die nicht nur aus Franzosen bestand, aber er hat sich immer dagegen gesträubt. Das Einzige, was ihn interessiert hat, war die Chronik jenen Dominikaners.«

»Und was hätte ihn sonst interessieren sollen?«

»Mein Kind, ich habe dir bereits erklärt, dass die Katharer ein Geheimnis bewahrt haben, das bis auf den heutigen Tag nicht enthüllt worden ist. Dabei geht es um den Gral.«

»Ich bitte dich, das sind doch Ammenmärchen!«, gab sie verärgert zurück.

»Das glaubst du. Aber irgendwo gibt es einen Gegenstand, der seinem Besitzer so außergewöhnliche Macht verleiht, dass er, kurz gesagt, der mächtigste Mensch auf der ganzen Welt wäre.«

Catherine lachte laut heraus, aber er ärgerte sich nicht darüber. Es war ihm klar, dass es keinen Sinn hatte, sie von der Existenz dieses Gegenstandes zu überzeugen. Ebensowenig glaubte sie an den Katharerschatz.

Es war kalt, und d’Amis zitterte leicht, als sie aus dem Wagen stiegen. Der Ausflug schien Catherine zu begeistern. Erstaunt sah sie, dass am Fuß des Felssporns Touristen aufmerksam den Erläuterungen eines Reiseleiters folgten. »Der französische Name Montségur bedeutet so viel wie ›Berg der Sicherheit‹. In der Tat hat die Festung länger standgehalten, als es der Papst und der König von Frankreich für möglich gehalten hatten.«

»Kommst du mit?«, fragte sie d’Amis. Ihn schien die Vorstellung, zur Hochfläche des Felssporns emporzusteigen, den er wie seine Westentasche kannte, nicht besonders zu begeistern.

»Ich begleite dich einen Teil des Weges.«

Es freute ihn zu sehen, wie sie hierhin und dorthin eilte, sich an der Stelle entsetzte, die man »Feld der Verbrannten« nennt, und sich von ihm neben der Stele fotografieren ließ, die man dort zum Gedenken an die dort getöteten Unglückseligen errichtet hatte.

Als sie nach zwei Stunden erklärte, sie habe genug gesehen, fiel ein feiner Nieselregen.

»Ich habe gehört, wie der Reiseleiter gesagt hat, das hier sei gar nicht die eigentliche Katharerburg, weil man hier im 14. Jahrhundert eine neue Festung erbaut hat.«

»Es existieren noch Überreste von der früheren Anlage: das Untergeschoss und ein Teil der in den gewachsenen Fels gehauenen Wände.«

»Ich musste immer an deine Vorfahrin Doña María denken.«

»Es ist auch deine Vorfahrin, Catherine.«

»Du musst verstehen, dass all das meiner Welt sehr fern ist. Die Frau muss wirklich äußerst bemerkenswert gewesen sein.«

»Ich glaube, dass du etwas von ihr geerbt hast«, gab er mit einem Lächeln zurück.

»Warum sagst du das? Ich bin nicht einmal gläubig und schon gar keine Fanatikerin wie sie.«

»Ich habe aber den Eindruck, dass du ebenso hart bist wie jene Frau. Der arme Bruder Julián lebte in ständiger Angst vor ihr, und die ganze Familie hat getan, was sie wollte.«

»Ja … sogar der Tempelherr … Der arme Mann ist in den Templerorden eingetreten, um seine Mutter zu ärgern.«

»Fernando … ein tapferer Ritter. Das Bestreben, das Gegenteil von dem zu tun, was die Eltern von einem erwarten, ist so alt wie die Welt. Auch du genießt es, mir bei allem und jedem zu widersprechen.«

»Das liegt daran, dass ich in nichts deiner Meinung bin. Bei Mutter war das anders. Wir brauchten uns nur anzusehen, und jede wusste, was die andere dachte.«

Er zuckte zusammen, als sein Mobiltelefon klingelte. Es war Catherine schon aufgefallen, dass er immer zwei Mobiltelefone bereithielt und bei dem einen regelmäßig die SIM-Karte wechselte, sobald er jemanden angerufen hatte.

»Ja? …« Er hörte die Stimme des Jugoslawen.

Sie trat einige Schritte beiseite, um zu zeigen, dass sie ihn in Ruhe telefonieren lassen wollte, bekam aber durchaus mit, was er sagte.

»Dann erfährt sie eben nichts von der neuesten Entwicklung, wenn sie in Istanbul eintrifft. Rufen Sie mich an, sobald sie und die anderen da sind.

Selbstverständlich bekommen Sie den vereinbarten Betrag, aber erst, wenn ich weiß, dass alles reibungslos abgelaufen ist. Ihre Leute müssen bis Karfreitag für die Sicherheit der Frau bürgen und dafür sorgen, dass es zu keinen Zwischenfällen kommt. Selbstverständlich werde ich mich erkundigen, ob es ihr gut geht … Ich habe Ihnen gesagt, dass Sie den Differenzbetrag in den nächsten Tagen bekommen. Es gibt also gar keinen Anlass, mir mit Ihrem Chef zu drohen, das dulde ich nicht … Beschränken Sie sich darauf zu tun, was ich gesagt habe. Sie brauchen nicht mehr zu wissen, als was ich Ihnen gesagt habe: Sie beschützen die Frau bis Karfreitag. In dem Augenblick, wo sie an dem Tag zusammen mit den anderen ihr Hotel verlässt, ist die Arbeit Ihrer Leute erledigt. Sorgen Sie auf jeden Fall dafür, dass Ylena das vollständige Material bekommt. Das ist von entscheidender Bedeutung …«

Obwohl er mit gedämpfter Stimme sprach, hörte Catherine an einigen Stellen, dass er sich ereiferte. Sie hatte sich eine Zigarette angezündet und machte einen nachdenklichen Eindruck, als er das Gespräch beendete.

»Entschuldige, die Geschäfte verfolgen mich bis auf den heiligen Berg.«

»Gibt es Schwierigkeiten?«, fragte sie.

»Nein, nichts Besonderes. Es ist nur so, dass manche Leute nicht vernünftig arbeiten und man ihnen alles mehrfach sagen muss, bis sie verstehen, was sie zu tun haben. Wollen wir nach Hause zurückkehren?«

»Ja. Und ich möchte dir danken, dass du mit mir hierher gefahren bist. Es hat sich wirklich gelohnt.«

Bei der Rückfahrt wirkte sie zerstreut, obwohl sie konzentriert auf die Straße sah. Auch d’Amis war nicht besonders gesprächig. Als sein Mobiltelefon erneut klingelte, verfinsterte sich seine Miene. Es war offenkundig, dass es ihm nicht recht war, in ihrer Gegenwart sprechen zu müssen.

»Salim, mein Freund. Wie schön, von Ihnen zu hören … Sind Sie schon in Rom? Das freut mich. Und wie läuft die Sache?

Ja, mir ist aufgefallen, dass Sie bester Stimmung sind … Und die anderen Freunde? … Ich hoffe, dass alles wie geplant abläuft und es keine Schwierigkeiten gibt … Ja, das kann ich mir denken, dass Sie die Fäden aller drei Kommandos in Händen halten … Gut, ich kann nicht lange reden, ich bin gerade im Auto unterwegs … Die zweite Rate bekommen Sie noch vor Karfreitag … Mir ist bekannt, dass es bis dahin nur noch vier Tage sind, aber machen Sie sich keine Sorgen … Für die Familien wird gesorgt … Ich hoffe, dass Sie mich dann am Freitag anrufen. Wenn alles nach Plan verläuft, treffen wir uns in Paris, um zu feiern.«

»Ich muss schon sagen, deine Geschäfte scheinen dir keine freie Minute zu lassen«, sagte Catherine, nachdem er das Telefon wieder eingesteckt hatte.

»So ist es. Nur gut, dass man dank der Erfindung des Mobiltelefons nicht den ganzen Tag im Büro herumhocken muss.«

»Du hast aber keine Scherereien?«

»Wieso fragst du das?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht der Ton deiner Stimme. Ich konnte nicht umhin, das eine oder andere zu hören.«

»Nein, Scherereien habe ich nicht, aber bis die Finanzgeschäfte unter Dach und Fach sind, bereiten sie mir immer eine ganze Menge Kopfzerbrechen, vor allem dann, wenn ich dabei auf andere angewiesen bin.«

»Kann ich dir helfen?«

Ihr Angebot überrascht ihn. Er sah aufmerksam zu ihr hin und empfand den übermächtigen Wunsch, sich ihr anzuvertrauen, unterließ es dann aber lieber. Sie war wie Nancy, die ihn verlassen hatte, als ihr klar geworden war, was die d’Amis planten.

»Danke, aber ich brauche keine Hilfe. Mach dir keine Sorgen. Wenn es erforderlich sein sollte, würde ich nicht zögern, dich darum zu bitten. Allerdings weiß ich nicht, ob du viel von Finanzgeschäften verstehst.«

»Du kannst ja ausprobieren, ob man mir vertrauen kann«, gab sie in herausforderndem Ton zurück.

»Vertrauen? Geschäfte haben nichts mit Vertrauen zu tun.«

»Ich denke schon. Aber es spielt keine Rolle. Letzten Endes bin ich für dich eine Außenstehende und darf nicht erwarten, dass du mir anvertraust, was du tust, wovon du lebst und womit du dich beschäftigst.«

»Das kann ich dir gern sagen. Ich bin Graf d’Amis, verwalte das von meinen Vorfahren auf mich übertragene Erbe: Ländereien, Anlagepapiere, andere Investitionen … und bemühe mich, keine Risiken einzugehen, auch wenn das bisweilen unvermeidlich ist. Das sind dann die Fälle, bei denen ich unruhig werde.«

»Und das bist du jetzt.«

»Ja. Ich habe dir ja schon gesagt, dass ich mir Sorgen mache, wenn andere die Verantwortung für die Dinge tragen und ich nicht selbst eingreifen kann.«

»Wer ist dieser Salim?«

»Ein guter Freund, mit dem ich Geschäfte abwickle … Es sind schwierige Geschäfte, in die er auch nicht immer selbst eingreifen kann. Wir beide müssen uns auf das verlassen, was andere tun.«

»Woher kommt er? Der Name klingt arabisch, nicht wahr?«

»Er ist Brite syrischer Abstammung. Ein Herr vom Scheitel bis zur Sohle. Du wirst ihn kennenlernen, und er wird dir gefallen.«

»Kommt er auf die Burg?«

»Das weiß ich nicht. Warum willst du das wissen?«

»Weil ich nicht lange bleiben werde.«

»Wann willst du denn fort?«, fragte er beklommen. Er fürchtete ihre Antwort.

»Darüber bin ich mir noch nicht im Klaren. Auf keinen Fall will ich dir mit meinem Besuch lästig sein.«

»Catherine, du bist kein Besuch, das habe ich dir bereits gesagt. Du bist hier zu Hause, und eines Tages wird dir alles gehören.«

»Manchmal weiß ich selbst nicht, was ich von mir denken soll. Ich bin ganz verwirrt. Das war wohl alles ein bisschen viel für mich … dich kennenzulernen, die Burg zu sehen, die Orte aufzusuchen, an denen meine Mutter gelebt hat …«

»Brich nicht vorschnell den Stab über mir. Lass mir Zeit, aber auch dir, um zu erkennen, ob du mich als Vater haben möchtest.«

Über der Burg lag nächtliche Stille, als sie müde zurückkehrten. Lediglich der Butler war noch auf, für den Fall, dass der Graf einen Wunsch hatte. Doch weder er noch Catherine wollte etwas anderes als sich zurückziehen und schlafen.

Das Blut der Unschuldigen: Thriller
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