32
Ignacio Aguirre war vor einer Stunde in Paris angekommen und wartete jetzt darauf, von Lorenzo Panetta empfangen zu werden.
Er war gerade lange genug in Rom geblieben, um mit Bischof Pelizzoli und einigen anderen Spitzenvertretern der Kirche über seine Befürchtungen zu sprechen.
Es war eine lange Sitzung gewesen, und alle Anwesenden hatten sich zutiefst davon beunruhigt gezeigt, was der alte Jesuit in ihrem Verlauf gesagt hatte.
Ovidio Sagardía, den man wie Domenico Gabrielli nicht zu dieser Besprechung hinzugezogen hatte, suchte eine Gelegenheit, einige Minuten mit dem Mann allein zu sein, der für ihn mehr als ein Vater gewesen war. Dazu hatte sich Aguirre, wenn auch ungern, bereit erklärt. Zur Zeit waren Sagardías Probleme die geringste seiner Sorgen, zumal er ihn enttäuscht hatte, wie er sich zögernd eingestand.
»Was gibt es?«, fragte er knapp.
»Ich muss dich um Verzeihung bitten. Mir ist klar, dass du mit mir unzufrieden bist, weil ich versagt habe. In der Erwartung, dass ich einer Situation wie dieser gewachsen sei, hast du mich über Jahre hinweg darauf vorbereitet und mir alle Wege geebnet. Ich weiß, dass ich der Sünde des Undanks schuldig bin und meine persönlichen Schwierigkeiten ernster genommen habe als meine Pflicht gegenüber der Kirche.«
»Es ist mir lieb, dass du dich ermannt hast, mir das zu sagen, aber um Verzeihung brauchst du mich nicht zu bitten. Wir sprechen später noch einmal darüber.«
»Ich finde keinen Frieden, wenn ich nicht weiß, ob du mir vergeben hast.«
»Ovidio, ich weiß nicht, was ich dir vergeben soll. Die Hauptsache ist, dass du begriffen hast, was Vorrang vor allem anderen hat, nämlich der Dienst an der Kirche.«
»Hat die Chronik des Bruders Julián tatsächlich all das ausgelöst ?«
»Wie kommst du dazu, so etwas zu sagen? Nein, diesem armen Mönch dürfen wir auf keinen Fall die Schuld daran zuschieben.«
»Aber er hat nach Rache verlangt … In der Chronik drückt er seine Hoffnung aus, dass jemand das Blut der Unschuldigen rächt …«
»Wir können nach meiner Rückkehr darüber sprechen. Jetzt muss ich aufbrechen.«
»Verlässt du Rom?«
»Ich fahre nach Paris. Bischof Pelizzoli wird dir und Domenico sagen, was ihr wissen müsst.«
An dieses Gespräch mit Ovidio musste Aguirre denken, während er einem Beamten dorthin folgte, wo Panetta sein provisorisches Pariser Hauptquartier eingerichtet hatte. Es überraschte ihn nicht, dort auch Matthew Lucas vorzufinden.
»Wie schön, dass Sie gekommen sind«, sagte Panetta.
»Ihr Rat und Ihre Erfahrung werden uns mit Sicherheit helfen«, versicherte ihm Panetta. »Und jetzt würde ich gern mit Ihnen über etwas sprechen, das niemand wissen darf. Vielleicht ist es ohnehin das Beste, wenn ich es Ihnen in der Beichte anvertraue …«
Der Graf hatte keinen Hunger und auch keine Lust, seine Suite zu verlassen. Er versuchte eine Weile zu lesen, konnte sich aber nicht konzentrieren und schaltete den Fernseher ein.
Das Telefon klingelte, und als er abnahm, meldete sich der Empfangschef.
»Entschuldigen Sie die Belästigung, aber eine Dame möchte mit Ihnen sprechen. Sie sagt, sie sei Ihre Tochter.«
Vor Überraschung brachte er einige Sekunden lang kein Wort heraus.
»Ich glaube, ich habe Sie nicht richtig verstanden«, brachte er nach einer Weile heraus.
»Ihre Tochter ist hier und hat gebeten, Sie davon in Kenntnis zu setzen.«
Er wusste nicht, was er antworten sollte. Er spürte, wie seine Beine zu zittern begannen.
»Fragen Sie sie bitte, ob sie heraufkommen oder in der Halle auf mich warten möchte.«
Gleich darauf teilte ihm der Mann mit, ein Page werde seine Tochter nach oben begleiten.
Als sie kurz danach wortlos bei ihm eintrat, wirkte sie ausgesprochen selbstsicher. In ihren großen schwarzen Augen lag nicht der geringste Hinweis auf irgendwelche Gefühle.
»Du also bist mein Vater«, sagte sie und sah ihm fest in die Augen.
»Ja.«
»Ich hatte dich mir anders vorgestellt.«
Er gab keine Antwort. Mund und Kehle waren ihm wie ausgedörrt, und er fühlte sich dieser Frau, die jetzt mit ihren Blicken den Salon musterte, unterlegen. Auch Catherine war anders, als er sie sich vorgestellt hatte. Abgesehen von der unglaublichen Selbstsicherheit ähnelte sie Nancy in nichts.
»Wie hattest du dich mir denn vorgestellt?«, fragte er.
»Ich weiß nicht … wie ein Ungeheuer. Dabei hatte Mutter immer gesagt, du hättest sehr gut ausgesehen. Vermutlich hat sie sich auch deshalb in dich verliebt und dich geheiratet.«
»Was möchtest du?«, fragte er kaum hörbar.
»Das weißt du – die Orte besuchen, an denen sich Mutter und die Großeltern aufgehalten haben. Ich möchte wissen, wie ihr Leben hier im Lande war. Außerdem wüsste ich gern …«, sie biss sich auf die Lippe, bevor sie fortfuhr, als kostete es sie Mühe, die Worte zu sagen, »… wie es dahin kommen konnte, dass sie sich in dich verliebt hat.«
»Ich hätte dich gern früher kennengelernt«, murmelte er. »Deine Mutter wollte das nicht. Und später wolltest auch du nichts von mir wissen.«
»Wozu auch? Du stehst für alles, was Mutter und mir verhasst war.«
»Und was hat deine Sinnesänderung bewirkt? Es wäre doch gar nicht nötig gewesen, mich aufzusuchen. Du hättest die Burg ohne weiteres in meiner Abwesenheit besichtigen können.«
Sie schwieg eine Weile und löste den Blick von ihm. Er sah sie fasziniert an. Es erschien ihm unglaublich, dass die Frau, die da vor ihm stand, seine Tochter sein sollte.
»Ich weiß selbst nicht, warum ich gekommen bin«, gestand sie.
»Hast du Hunger?«
»Eigentlich nicht.«
»Wo bist du abgestiegen?«
»Im Hotel Maurice.«
»Möchtest du, dass wir gemeinsam zu Abend essen?«
Er sah ihr Zögern.
»Von mir aus«, stimmte sie schließlich zu. »Aber nur, wenn ich mich nicht dafür umziehen muss.«
Erst jetzt sah er sie genauer an. Das volle Haar, dessen Farbe zwischen Kastanienbraun und Mahagoni spielte, war ihm ins Auge gefallen, doch hatte er nicht darauf geachtet, was sie trug. Nein, in Begleitung einer Frau in Jeans und Stiefeln, auch wenn sie einen Kaschmirpullover mit einer Jacke darüber trug, würde er kaum eins der Restaurants aufsuchen können, in denen er gewöhnlich verkehrte.
»Bist du zum ersten Mal in Paris?«, fragte er.
»Nein, ich war schon öfter hier. Eine Studienreise, aber auch Arbeitsaufenthalte.«
»Gut. Dann weißt du ja auch, wo es dir gefallen würde.«
»Wie wäre es mit La Coupole? Das Restaurant ist in Montparnasse…«
»Gern. Amerikanern gefällt es dort.«
»Dir nicht?«
»Ich weiß nicht – ich war noch nie da.«
Sie sah ihn an, als könnte sie nicht glauben, dass ein Franzose noch nie im Leben das berühmte La Coupole besucht hatte.
Während des Essens sprachen sie nicht viel. Sie fragte ihn nach diesem und jenem in der Burg, und er erkundigte sich nach ihrem Studium und ihren Plänen für die Zukunft. Auf beides gab sie ausweichende Antworten.
»Ich weiß noch nicht so recht, was ich tun möchte. Ich fühle mich sehr allein und brauche Zeit, um mich vom Verlust meiner Mutter zu erholen.«
Vielleicht war es doch möglich, eine Beziehung zu seiner Tochter aufzubauen, überlegte d’Amis. Dafür waren Einfühlungsvermögen und Rücksicht vonnöten. Es war nur allzu verständlich, dass die sich lange hinziehende Krankheit der Mutter sie so mitgenommen hatte.
»Berichte mir von deiner Mutter«, bat er.
Mit vor Wut blitzenden Augen fuhr sie ihn an: »Es gibt nichts von ihr zu berichten – dir am wenigsten von allen Menschen.«
»Ich habe sie geliebt, immer habe ich sie geliebt«, gab er zurück.
»Wenn das so wäre, hättest du deine verrückten Ideen aufgegeben.«
»Was für verrückte Ideen?«
»Du bist ein Nazi, ein Wahnsinniger, der von einer überlegenen Rasse träumt und der sich, was noch schlimmer ist, für den Erben der Katharer hält.«
»Ich bin Spross einer sehr alten Familie, deren Angehörige man den Interessen eines Königs und dem Fanatismus eines Papstes auf dem Scheiterhaufen geopfert hat. Wenn du etwas über diesen Hintergrund wüsstest, wäre dir klar, dass du keinen Anlass hast, mich als verrückt hinzustellen.«
»Ich weiß Bescheid, Mutter hat mir all diese irrwitzigen Dinge erzählt.«
»Irrwitzig? Das ist die Geschichte unserer Familie – ja, Catherine, es ist auch deine Familie – nun wirklich nicht. Unsere Vorfahren haben gekämpft, um die Unabhängigkeit ihres Landes zu bewahren und um zu erreichen, dass es nicht dem Besitz der französischen Krone einverleibt wurde. König und Papst haben ein Komplott miteinander geschmiedet, denn beiden kam es nur allzu gelegen, das Languedoc auszulöschen und …«
»Hör doch auf, mir von Königen und Päpsten zu erzählen! In welcher Zeit lebst du eigentlich? Wir schreiben das 21. Jahrhundert. Und wie kommst du dazu, Nazi zu sein? Du kannst doch unmöglich glauben, dass manche Menschen besser sind als andere.«
»Dass es diesen Unterschied gibt, liegt auf der Hand.«
»Wir sind alle gleich!«, erwiderte sie mit erhobener Stimme.
»Aber nicht die Spur. Ich und der Kellner, der uns hier bedient, sind nicht von ferne gleich. Ich bin der dreiundzwanzigste Graf d’Amis, während er äußerstenfalls den Namen seiner Großeltern kennt. Auch du bist nicht wie alle anderen. Ob dir das recht ist oder nicht, eines Tages wirst du, ganz gleich wie amerikanisch du dich fühlen magst, Gräfin d’Amis und Erbin von mehr als nur Geld und Ländereien sein, nämlich Erbin einer Geschichte. Doch selbst wenn du nicht die künftige Gräfin d’Amis wärest, bist du auf keinen Fall wie der Kellner hier. Du hast an einer erstklassigen Universität studiert, bist von klein auf verwöhnt und verhätschelt worden, und es hat dir an nichts gefehlt.«
»In dem Punkt irrst du dich. Auch ich war Kellnerin. Zwei Jahre lang habe ich in einer der Cafeterias meiner Universität den Gästen Erfrischungsgetränke und heiße Würstchen an die Tische gebracht. Diese beiden Jahre waren die interessantesten meines bisherigen Lebens. Was stört dich am Beruf eines Kellners? Bei uns in Amerika ist es nicht wichtig, welche Arbeit man tut, und die Menschen sind stolz darauf, wenn sie als Kellner, Zeitungsbote, Straßenkehrer oder was auch immer gearbeitet haben. Hältst du dich wirklich für etwas Besseres?«
Sie brach in Lachen aus. Es schmerzte ihn, und er begann, Zorn auf seine verstorbene Gattin zu empfinden, die seine Tochter zu einer ordinären Frau erzogen hatte, zu einem Menschen, der fähig war, sich dem jungen Mann mit dem Akzent der Pariser Vorstädte gleich zu fühlen, der sie da bediente.
»Was hat dir deine Mutter über mich berichtet?«, wollte er wissen.
»Die Wahrheit. Sie hat mich nie belogen. Sie hat mir erklärt, dass dein Vater nicht ganz richtig im Kopf war und dir als Kind seine überspannten Ideen eingetrichtert hat.«
»Ich bin nicht überspannt, Catherine, ich will nur das Beste für mein Land und meine Leute. Als Erbe einer Überlieferung habe ich eine Verantwortung gegenüber der Gegenwart und der Zukunft. Möglicherweise wirst du das verstehen, wenn du eines Tages Gräfin d’Amis bist.«
»Ich habe nicht die geringste Absicht, Gräfin zu werden«, versicherte sie ihm.
»Danach wirst du nicht gefragt. Sobald ich sterbe, bist du es, ob du willst oder nicht. Seit Jahren quält mich die Sorge, dass meine Familie mit mir aussterben könnte und so viele Jahrhunderte der Pflichterfüllung ins Nichts verschwinden, weil du so bist, wie du bist.«
»Wie bin ich denn? Du kennst mich überhaupt nicht«, gab sie hochmütig zurück.
»Es fällt nicht schwer, sich das vorzustellen, wenn man weiß, wie dich deine Mutter erzogen hat. Jahrelang habe ich sie immer wieder gebeten, dich auf die Burg zu schicken, damit du dein künftiges Erbe kennenlernst, aber sie wollte nicht. Hinzu kam deine Haltung, mit der du alles von dir gewiesen hast, was mit mir zu tun hatte.«
»Ich brauche nichts von dir. Mutter hat immer genug verdient, um uns beide zu ernähren, und mehr als das.«
Er seufzte. Diese junge Frau, die seine Tochter war, kostete ihn mit ihrer direkten Art, mit ihrer Selbstsicherheit und damit, dass sie ohne jede Hemmung sagte, was sie dachte, viel Kraft. Sie war so ganz anders, als er sie sich erträumt hatte.
Er begleitete sie zu ihrem Hotel und wagte nicht, sie nach einem möglichen Wiedersehen zu fragen.
»Woher wusstest du überhaupt, dass ich im Crillon bin?«
»Mein Anwalt hat deinen Anwalt gefragt, und er hat ihm gesagt, dass du in Paris bist.«
Sie verabschiedeten sich ohne Händedruck voneinander. Er fühlte sich bedrückt und fürchtete, dass er seine Tochter zum ersten und letzten Mal gesehen hatte.