28
Als Ignacio Aguirre Bischof Pelizzolis Büro mit einer prall gefüllten Aktentasche betrat, in der sich unter anderem sein zerlesenes Exemplar von Bruder Juliáns Chronik befand, fing er einen vorwurfsvollen Blick Pater Ovidios auf.
»Man könnte sagen, der Kreis schließt sich«, sagte der Bischof.
»Ja, so sieht es aus. Professor Arnaud war überzeugt, dass es eines Tages zu einer Konfrontation zwischen der Familie d’Amis und mir kommen würde.«
»Professor Arnaud?«, sagte Pater Domenico in fragendem Ton. Genau wie Ovidio Sagardía verstand er nicht, wovon die beiden sprachen.
»Ein französischer Historiker, Spezialist für die Epoche, in der sich in seinem Land die Ketzerei der Katharer ausgebreitet hatte. Der Vater des gegenwärtigen Grafen d’Amis hat ihn gebeten, die Echtheit von Bruder Juliáns Chronik zu bestätigen, die Arnaud später veröffentlicht hat. Im Verlauf von in diesem Zusammenhang unvermeidlichen beruflichen Kontakten mit dem Grafen hat Arnaud sowohl vor dem als auch während des Krieges mitbekommen, dass mehrere pronazistisch eingestellte Deutsche Gäste in der Burg waren. Obwohl ihm der Graf so wenig traute wie er diesem, hat Arnaud dort so manches gesehen und gehört.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Chronik etwas mit dem Anschlag in Frankfurt zu tun haben soll«, rief Pater Ovidio aus.
»Das hat sie sicher nicht. Aber wir wissen inzwischen, dass es eine Verbindung zwischen dem Waffenschieber Karakoz und dem Grafen gibt, der nebenbei bemerkt ein äußerst schillernder Charakter zu sein scheint«, erklärte der Bischof.
»Und wie hängt das jetzt mit diesem Professor Arnaud zusammen?« , wollte Pater Domenico wissen.
»Nur indirekt. Die Nazis haben seine jüdische Frau in Deutschland ermordet. Seinen einzigen Sohn David haben kurz nach Kriegsende Araber in Palästina bei einem Feuerüberfall auf einen Kibbuz getötet.«
»Wie schrecklich!«, rief Pater Ovidio bedrückt aus.
»Körperlich hat Arnaud seinen Sohn noch eine Weile überlebt, aber der Tag, an dem dieser begraben wurde, war sein eigentlicher Todestag.«
Pater Ignacio setzte sich dem Bischof gegenüber und begann die Dokumente zu lesen, die dieser bereitgelegt hatte.
»Möglicherweise könnte ich in Brüssel am Zentrum zur Terrorismusabwehr mehr bewirken als hier«, sagte er nach einer Weile.
»Meinen Sie?«
»Ja. Ich denke, ich sollte mich mit den Leuten kurzschließen, die in dem Fall ermitteln.«
»Dann wollen wir den Leiter des Zentrums anrufen. Vielleicht sprechen Sie erst mit ihm. Dann können Sie sich immer noch überlegen, was Sie tun wollen. Der Kardinal Staatssekretär hat mich angewiesen, so eng mit den Leuten zusammenzuarbeiten, wie es uns möglich ist«, sagte der Bischof.
Eine Minute später sprach Ignacio Aguirre mit Hans Wein. Er erfuhr die jüngsten Neuigkeiten und erbot sich sogleich, am nächsten Tag nach Brüssel zu kommen. Erfreut nahm Wein das Angebot an.
Auf die Bitte des Bischofs nach seiner Einschätzung des Falles erklärte Aguirre: »Wir sollten die Möglichkeit nicht ausschließen, dass dieser Graf Verbindung mit irgendeiner verbrecherischen Gruppe aufgenommen hat, um unserer Kirche zu schaden.«
Überrascht sah der Bischof den alten Jesuiten an. Die Vorstellung, Aguirre könne mit seiner Vermutung Recht haben, ließ den Bischof erschauern.
»Die vor dem Verbrennen bewahrten Wörter standen auf unterschiedlichen Blättern, so dass es zwischen ihnen keinen unmittelbaren oder auch nur für uns erkennbaren Zusammenhang gibt. Trotzdem könnte beispielsweise der Name ›Lothar‹ einen Sinn haben.«
»Inwiefern?«, erkundigte sich Pater Ovidio.
»Weil sich zwischen ihm und den Grafen d’Amis eine Beziehung herstellen lässt. Lothar dei Conti, besser bekannt als Papst Innozenz III., hat den Kreuzzug gegen die Albigenser ausgerufen.«
»Es gibt aber doch keinen Beweis dafür, dass sich der Name Lothar auf diesen Papst bezieht«, wandte Pater Domenico ein.
»Das stimmt. Doch was ist mit dem Wort ›Blut‹? Könnte damit nicht das Blut der Unschuldigen gemeint sein? Bruder Julián schreibt am Ende seiner Chronik, dass eines Tages jemand das Blut der Unschuldigen rächen werde.«
»Bruder Julián! Du bist von dieser Chronik ja geradezu besessen!«, rief Pater Ovidio ärgerlich aus. »Du willst uns doch nicht weismachen, dass dadurch ein Zusammenhang mit dem Anschlag von Frankfurt besteht?«
»Natürlich kann ich darüber nichts Konkretes sagen – aber warum den Gedanken von vornherein verwerfen? Ich kenne den Grafen. Man hat ihn zum Hass erzogen.«
»›Es wird fließen das Blut im Herzen des Heiligen‹…«, murmelte Pater Domenico.
»Das kann auf einen Anschlag hinweisen. Dann haben wir das Wort ›Kreuz‹ … Wenn es etwas gab, was den Katharern zuwider war, dann das Kreuz«, fuhr Pater Aguirre fort.
»Es gibt aber keine Katharer mehr«, hielt Pater Domenico dagegen.
»Natürlich nicht. Aber Raymond de la Pallissière hält sich für den Bewahrer dieser Ketzerei und ist überzeugt, dass es sein Auftrag ist, das zu jener Zeit vergossene Blut zu rächen. Ich weiß nicht, ob du schon einmal in Südwestfrankreich warst, dem Teil des Landes, der sich gern ›Okzitanien‹ nennt. Falls ja, hast du sicher gesehen, dass die Katharer dort mittlerweile zu einer wahren Touristenattraktion geworden sind. Dort gibt es Hippie-Gemeinschaften, die felsenfest überzeugt sind, dass ihre Lebensweise jener der Katharer ähnlich ist. Außerdem wollen esoterische Gruppierungen in den Burgen jener Gegend kosmische Schwingungen gemessen haben. Manche Sekten haben sogar ihre Anhänger aufgefordert, Selbstmord zu begehen, um auf diese Weise in den Zustand der Vollkommenheit einzutreten, der sie ihrer Überzeugung nach Gott näher bringt. In Büchern über das angebliche Erbe der Katharer heißt es, es handele sich bei ihnen um niemand anders als die Nachkommen Jesu, ganz davon zu schweigen, dass immer wieder Leute gekommen sind, um auf Montségur nach dem legendären Katharerschatz zu graben… Viele Menschen in jenem Teil des Landes sprechen davon, dass der König von Frankreich und unsere Kirche die alleinige Schuld am Untergang der ruhmreichen Vergangenheit von Troubadouren und edlen Frauen haben. Selbst ganz einfache Leute halten sich für die Nachkommen irgendwelcher Ritter oder Troubadoure. Sicher, die Katharer existieren nicht mehr, wohl aber Menschen, die darauf beharren, sich als deren Nachkommen und Anhänger zu bezeichnen … Der Graf ist Abkömmling einer Familie, in der es zur Zeit der Katharer eine Vollendete und mehrere Gläubige gab, und sein Vater hat mit Unterstützung von Nazis nach dem Katharerschatz gesucht. Ihrer Überzeugung nach musste es sich dabei um einen Gegenstand handeln, der dem, der ihn findet, unumschränkte Macht verleiht. Professor Arnaud hat die Leute ausgelacht und nie besonders auf das geachtet, was in diesem Zusammenhang in der Burg gesagt wurde, aber alles, was er dort gehört hat, schriftlich festgehalten.
Graf d’Amis hat seinen Sohn Raymond auf eine einzige Aufgabe hin erzogen: Er sollte den Katharerschatz bergen und nach Möglichkeit auch das Blut der Unschuldigen rächen. Raymond ist in einer Umgebung aufgewachsen, in der sich alles um diese aberwitzige Vorstellung drehte. Als ich ihn kennenlernte, war er ein unterdrückter, unsicherer Junge von zehn Jahren, der sich gegenüber seinem Vater beweisen wollte. Professor Arnauds Notizen konnte ich entnehmen, dass dieser eine Geheimgesellschaft zur Bewahrung des Erbes der Katharer und zur Suche nach deren Schatz gegründet hat. Nach außen hin hatte sich dieser Zusammenschluss, zu dessen Zusammenkünften Professor Arnaud anfangs eingeladen wurde, kulturelle Ziele auf die Fahne geschrieben. Als der Graf merkte, dass Arnauds Interesse an den Katharern ausschließlich akademischer Natur war, sorgte man dafür, dass er nicht mehr über das Treiben dieser Gesellschaft erfuhr, als unbedingt nötig war.«
»Du hast vom Blut der Unschuldigen gesprochen …«, sagte Pater Domenico.
»Ja. Damals ist viel Blut vergossen worden. Indem ich das sage, will ich aber keineswegs die Kirche verdammen. Sie gründet sich auf Menschen, und man muss geschichtliche Ereignisse im Zusammenhang der jeweiligen Epoche beurteilen. Allerdings rechtfertigt diese Betrachtungsweise keine Irrtümer, sondern erklärt sie lediglich. Hältst du es etwa für richtig, Menschen zu töten, weil sie überzeugt sind, dass es einen Gott des Guten und einen Gott des Bösen gibt? Die Katharer sahen in der Welt das Werk des Letzteren …«
»Entschuldigung, aber es kommt mir so vor, als wenn du in deiner Besessenheit von der Chronik Dinge miteinander vermengst, die nichts miteinander zu tun haben. Zwar kenne ich die Gründe für den Umgang des Grafen d’Amis mit den Leuten dieses Karakoz nicht, doch daraus zu schließen, er könne gemeinsam mit der Gruppe einen Anschlag planen … Ich möchte dir nicht zu nahe treten, aber das halte ich für lachhaft.«
Nachdem Ovidio Sagardía diese Überzeugung vorgetragen hatte, schluckte er heftig. Es bereitete ihm Unbehagen, sich dem Mann entgegenzustellen, den er so sehr bewunderte und dem er seine Laufbahn in der Kirche verdankte. Aber jetzt sah er in Aguirre zum ersten Mal einen alten Mann, der außerstande war, kühl und sachlich über ein Geschehen zu urteilen. Sicher würden die Leute in Brüssel in ihm einen überspannten Greis, wenn nicht sogar Schlimmeres, sehen.
»Ich begreife, warum du dich meinen Vermutungen nicht anschließen willst, und es ist auch gut und richtig, dass du das laut sagst. Dennoch fürchte ich, Ovidio, dass ich Recht habe, wie verrückt dir meine Gedanken auch vorkommen mögen. Ich kenne Raymond de la Pallissière und weiß, wessen er fähig ist.«
»Du kennst ihn? Du hast gesagt, dass du ihn einige Male gesehen hast. Wie lange liegt das zurück? Sechzig Jahre?«, gab Pater Ovidio in herausforderndem Ton zurück.
»Du kannst dir weder vorstellen, in welchem Umfeld er aufgewachsen ist, noch, wie sein Vater war. Außerdem bin ich im Besitz aller Papiere, die Professor Arnaud hinterlassen hat – Notizen und Gedanken zu dem, was er auf der Burg gesehen und gehört hat … Nein, ich irre mich nicht.«
Zum ersten Mal fühlte sich der Schüler seinem Lehrmeister überlegen, und so griff er ihn erneut an. »Nie und nimmer würde die Gruppe einem Nichtmoslem vertrauen. Die große Schwierigkeit, an die Leute heranzukommen, besteht ja gerade darin, dass sie niemandem über den Weg trauen. Wozu würden sie außerdem diesen Grafen brauchen? Bisher haben sie ihre Anschläge allein verübt und leider damit Erfolg gehabt. Warum also sich mit einem Außenstehenden verbünden?«
»Ich habe auf keine dieser Fragen eine Antwort, sondern lediglich eine Hypothese. Die aber halte ich für zutreffend, ganz gleich wie abwegig sie dir erscheint.«
»So einfach soll das sein? Im Brüsseler Zentrum zerbrechen sich ich weiß nicht wie viele Leute seit Wochen den Kopf auf der Suche nach einer greifbaren Fährte, und von einem Augenblick auf den nächsten kommst du her und behauptest, dass der Fall gelöst ist und der Graf d’Amis mit der Gruppe im Bunde steht«, sagte Pater Ovidio aufgebracht.
»Ja, ganz genau so. Und weißt du auch, warum die ein Bündnis miteinander geschlossen haben? Weil sie einen Schlag gegen unsere Kirche führen wollen«, erklärte Aguirre, wobei er Sagardía fest in die Augen sah.
»Was für ein Unsinn!«, entfuhr es Pater Domenico.
»Wir sollten keine Zeit mit Wortgefechten vergeuden«, sagte der Bischof. »Wir haben die Aufgabe, den Leuten in Brüssel alles an Angaben zur Verfügung zu stellen, was wir besitzen. Auch mich überrascht Aguirres Hypothese, denn mir will nicht in den Kopf, welchen Grund die Gruppe dafür hätte, sich mit der Kirche anzulegen, aber…«
Der alte Jesuit sah alle drei gelassen und ohne jeden Anflug von Ärger an und sagte, zum Bischof gewandt: »Sie haben mich gebeten zu kommen, hier bin ich. Es tut mir leid, dass Ihnen meine Schlussfolgerungen nicht zusagen.«
»Das ist es nicht. Es geht nicht darum, was mir zusagt, sondern darum, wie die Dinge wirklich liegen … Ich kann zwar Ihren Gedanken durchaus folgen, sehe mich aber ehrlich gesagt außerstande, zu der soeben von Ihnen vorgetragenen Schlussfolgerung zu gelangen. Mir scheint die Sache nicht so klar zu sein wie Ihnen«, räumte der Bischof ein.
»Sie brauchen sich meinen Folgerungen nicht anzuschließen. Immerhin besteht die Möglichkeit, dass ich mich irre. Ich hoffe sogar, dass Sie Recht haben. Trotzdem würde ich gern meine Erwägungen in Brüssel vortragen. Man muss damit rechnen, dass mich die Leute da ganz wie Sie auch für einen von der Vergangenheit besessenen Greis halten, der den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hat. Von Brüssel werde ich gleich nach Bilbao zurückkehren.«
»Es ist schon spät. Für heute sollten wir die Sache auf sich beruhen lassen. Da Pater Ignacio morgen bereits wieder abreist, würde ich jetzt gern mit ihm essen gehen.«