Um jede Mitternacht irrte George, Herr eines menschenleeren U-Boots, durch die mit Teppichboden ausgelegten Korridore der Donald Duck, vormals New York City, und lauschte in der Hoffnung auf das Tappen seiner Stiefel, daß die eigenen Schritte ihn in den Schlaf lullten. Bisweilen hörte er aus einem dunklen Nebengang oder einer vergessenen Sackgasse geisterhaftes Tuscheln, aber wenn er nachforschte, fand er nichts und niemanden. In dieser versunkenen, verlassenen Stadt weigerten sich sogar Georges eigene Halluzinationen, ihm Gesellschaft zu leisten.

Sobald die Morgenfrühe anbrach, rieb er sich die Augen, verzog das Gesicht zu einem Gähnen und fiel in einer Parodie der Erschöpfung in die nächstbeste Koje. Doch vergeblich: Morpheus ließ sich nicht überlisten. George stierte an die Kabinendecke empor, betatschte das Bettzeug. Und dann, gegen Mittag, fing er so gewaltsam mit den Zähnen zu knirschen an, daß er befürchtete, Funken stöben hervor, und vergegenwärtigte sich, ein neuer Tag war da. Habe ich geträumt? überlegte er. An einen Traum erinnerte er sich gern, weil er bedeutete, daß er tatsächlich geschlafen hatte.

»Sei drauf gefaßt«, hatte Morning ihm nahegelegt.

Am Montag kümmerte er sich um den Baum. Er ging in den Raketenbunker und sah sich die Restexemplare des Projekts Zitrusfrucht an, stieß schließlich auf den Zwerg des Obstgartens, ein kaum eins zwanzig hohes, für den beabsichtigten Zweck bestens geeignetes Bäumchen mit dünnen Ästen und mickriger Frucht; kein Wunder, daß man es nicht für die ehrenvolle Auszeichnung ausgewählt hatte, an ihm einen Kriegsverbrecher zu lynchen. Er sägte es ab, nahm es mit und stellte es in seiner Kabine auf.

Am Dienstag besorgte er Weihnachtsschmuck. Mit einem Hammer aus dem unteren Torpedodeck spazierte er durchs U-Boot und zertrümmerte jeden Gegenstand, der irgendwie hell glänzte: Gyroskope, Kompasse, Meßgeräte, Elektronenröhren, Instrumente. Die Bruchstücke sammelte er in einem Kleidersack.

Die Geschenke suchte er am Mittwoch und Donnerstag zusammen. Er beschloß, daß es zehn sein sollten. Das hielt er für eine ausreichende Anzahl, wenn genug zum Auspacken vorhanden sein sollte, wogegen zwölf oder fünfzehn auf Übertreibung hinausgelaufen wären. Aus Sverres Kabine holte er den weißen Alabasterraben, den Zylinderhut des Kapitäns, den Globus und eine leere Gin-Flasche, aus dem Silberdollar-Kasino einen Stapel Pokerchips sowie ein Poster mit einem Harlekin, dessen Sprechblase die Blackjack-Spielregeln aufzählte. Auf die Chips schrieb er die Namen etlicher Länder. In der Großkombüse gab es ein Riesensortiment von Geschirr, Besteck und sonstigen Küchenutensilien. Er häufte alles in einen Pappkarton und nahm einen Wäscheschreiber der Marine, um den Karton mit ULTRA-SUPER-KÜCHENAUSSTATTUNG zu beschriften. Die Bordbibliothek erwies sich als Enttäuschung, in den Regalen stand kein einziges Kinderbuch. Also fabrizierte er selbst eins, schrieb die Geschichte, die er ihr einmal aus dem Stegreif erzählt hatte – in der ein Kaninchen mit Holly ähnlicher Persönlichkeit seine Selbstzweifel überwand und das Fahrradfahren lernte –, in eine Kladde und illustrierte den Text mit Strichmännchen.

Als neuntes Geschenk bastelte George aus Streifen und Flicken, die er aus einer Unteroffiziersuniform schnitt, eine Stoffpuppe. Messingknöpfe dienten als Augen.

Das letzte Geschenk hing schon seit Monaten in seinem Spind.

Ein halber Tag. Eine kurze Frist. Wahrscheinlich war es am günstigsten, den Baum vorher zu schmücken. Schließlich mußte Holly ja sämtliche Geschenke auspacken, und bestimmt wollte sie auch damit spielen. Als Haken verwendete George die Klipps, die Kapitän Sverres lausige Gedichte zusammengehalten hatten. Am Freitagnachmittag hatte sich das ursprüngliche Orangenbäumchen in einen Glitzerkegel verbogener Armaturen und verdrehten, unkenntlichen Blechs verwandelt.

Den Deckel einer Büchse Linsensuppe mit Bauchspeck hämmerte er zu einem Stern zurecht. Ein Weihnachtsbaum ohne Stern auf der Spitze war schlichtweg inakzeptabel. Er rückte die Trittleiter an die richtige Stelle…

Weshalb liege ich auf dem Fußboden? fragte er sich. Wieso glotze ich die Decke an? Er betrachtete die mit Nieten garnierten Wände, den unfertigen Weihnachtsbaum. Ich liege auf dem Boden, weil nichts mehr einen Sinn hat. Die Menschen sind ausgestorben.

Mitternacht kam. Er rappelte sich hoch. »Nur sind Holly und ich nicht vom Aussterben betroffen worden«, sagte er laut. Er befestigte den Weihnachtsstern, wo er hingehörte.

Den Samstag nutzte er für die abschließenden Vorbereitungen. Er wickelte die zehn Geschenke in Alufolie und schob sie unter den Baum, arrangierte sie viele Male neu, um die repräsentativste Anordnung herauszufinden.

*

Sonntag.

7 Uhr.

Rund um den Weihnachtsbaum beschritt George einen Weg der Nervosität und der Zweifel, blieb regelmäßig stehen, um die Geschenke abermals neu anzuordnen oder Baumschmuck umzuhängen. Möglicherweise gefiel die Stoffpuppe Holly nicht. Vielleicht machte sie Zoff. Bestimmt ging etwas schief…

8 Uhr. 9 Uhr. 10 Uhr.

Nachdem Chester gestorben war, der Kater, hatten sie beschlossen, für ihn ein anständiges Begräbnis zu veranstalten, einschließlich eines kleinen Grabsteins mit dem Namenszug CHESTER, den George in der Grabmalwerkstatt Crippen aus einem übriggebliebenen Brocken Granit anfertigte. Zuerst hatte die ganze Idee Holly überhaupt nicht behagt; sie weigerte sich, an der Beisetzung teilzunehmen, und hatte ihre Eltern wegen des Einfalls angeschrien. Doch schon am nächsten Tag hatte sie angefangen – wie seitens Georges und Justines vorausgesehen –, jedem von dem großen Ereignis zu erzählen, dem Grabstein, dem vom Tierarzt überlassenen Pappsarg, und sie sprach davon noch monatelang…

11 Uhr.

Justine hatte eine Tarantel platzen lassen. Wenn man sich es einmal genau vorstellte, war das eigentlich ein reichlich komisches Erlebnis gewesen…

Mittag.

Vor der Kabine: Rasche Schleifschritte. In Georges Hals und Handgelenken pochten spürbar die Adern, es schien, als wollten sie sich seinem Körper entwinden. Seine Schußwunde schmerzte, und er mußte tief durchatmen. Guter Gott, laß den Tag gelingen.

Ein kleines Mädchen kam in die Kabine gerannt. Beim Laufen vollführte es mit den Füßen seltsame Kreisbewegungen. Weit spreizte es die Arme.

»Papi! Papi!« Obwohl Hollys Stimme etwas rauh kratzte – drohte ihr ein Schnupfen? –, sprach sie nach wie vor in den Engelsklängen, die George bei keinem außer seinem Kind je gehört hatte.

»Holly!«

Sie fielen sich in die Arme, das Kind lachte und juchzte, George weinte. Holly fühlte sich warm an. George wischte sich am Ärmel die Augen, verheimlichte die Tränen, die ihm darin standen, weil Holly zu jung war, um zu begreifen, wieso jemand vor Glück weinte.

»Wie schön, dich zu sehen«, sagte George.

»Wie schön, daß ich dich seh, Papi«, sagte Holly.

Spurlos war der Krieg nicht an ihr vorübergegangen. Ihr Haar sah wie Garn aus. Weit mehr Lücken klafften in ihrem Lächeln, als sich allein durch die unsauberen Machenschaften des Kariesteufels erklären ließen. Sie hatte eine leicht gebeugte Haltung und hinkte ein wenig. Aber ihre grünen Augen funkelten, ihr Gesichtchen leuchtete, sie zeichnete sich noch durch ihre zauberhafte Stämmigkeit aus, und es war sie, war sie!

»Boooh, was für ’n Baum«, rief Holly.

»Gefällt er dir? Die Apfelsinen kann man wirklich essen.«

»Nein danke. Das is ’n toller Baum. Mit ’m Stern drauf. Das erinnert mich an was.«

»Was denn?«

»An die Bäume, die wir immer zum Erntedankfest aufgestellt haben.«

»Ja, da haben wir Gummifledermäuse drangehängt.«

»Und kleine Kürbisse. Die waren echt niedlich.«

»Ich möchte, daß wir heute Weihnachten feiern«, sagte George. »Du hast letztes Jahr kein Weihnachten gehabt. Das war wegen des Kriegs.« Er hatte seit jeher darauf Wert gelegt, in vollständigen, grammatisch korrekten Sätzen mit ihr zu sprechen.

»Papi, ich muß dir was ganz Trauriges sagen. Es ist wichtig.«

»Und was?«

»Es ist wichtig. Mami ist tot.«

»Du hast recht, das ist sehr traurig. Sie ist im Krieg umgekommen.«

»Ich weiß«, sagte Holly leicht verstimmt.

»Du hast ihr Orangensaft zu trinken gegeben, nicht wahr?«

»Sie ist trotzdem gestorben.«

»Holly, Holly, wie wunderbar, daß du hier bist. Siehst du die Geschenke da?«

»Sind sie für mich?«

»Ja. Sie sind alle für dich.«

»Die alle? Alle? O Papi, danke, vielen Dank. Ich bin ganz aufgeregt.«

»Warum fängst du nicht mit dem an?« fragte George, reichte ihr die Gin-Flasche. Holly wickelte die Alufolie ab. »Eine Blumenvase«, sagte George.

»Können wir nachher eine Blume pflücken gehen?« fragte Holly.

»Natürlich.«

Holly stürzte sich auf das große Päckchen und zerriß die Verpackung. »Es steht drauf: Ultra-Super-Küchenausstattung«, erklärte George.

Holly nahm den Deckel ab, holte die Teller, Tassen, Soßenschüsseln, Töpfe, Pfannen, Kessel und Terrinen heraus. »O Papi, das gefällt mir, das find ich toll. Spielst du Kochen mit mir?«

»Ich glaube, erst mal sollten wir alles auspacken.«

»Spielst du danach mit mir?«

»Na klar.« Gespannt gab er ihr das Päckchen mit der Stoffpuppe. »Schau mal da hinein.« Holly zupfte an der Alufolie. »Ich weiß, daß du dir eine Mary-Merlin-Puppe gewünscht hast«, sagte er. »Aber ich konnte keine mehr kriegen.«

»Der Weihnachtsmann auch nicht?«

»In den Geschäften hatten sie keine mehr.«

»Ist ja egal.« Holly küßte die Puppe und streichelte ihr Haar. »Die mag ich auch sehr. Sie heißt Jennifer.«

Sie legte Jennifer in einer Bratpfanne der Ultra-Super-Küchenausstattung schlafen und breitete eine Decke aus Aluminiumfolie über sie. Als nächstes händigte George seiner Tochter den weißen Alabasterraben aus. Sie taufte ihn Flörchen und bettete ihn neben Jennifer. Bald schliefen Jennifer und der Rabe fest.

»Du mußt ganz still sein, Papi.«

»Ja sicher.«

»Das nächste Päckchen suchst du dir selber raus.«

»Klar.«

Holly kramte den Zylinder aus dem Stapel und packte ihn aus. Ohne sich über ihn zu äußern, setzte sie ihn auf und zeigte eines ihrer gelegentlichen, mit Zahnlücken durchsiebtes Lächeln. Die silberne Rolle weckte ihre Beachtung. Fetzchen Alufolie flogen durch die Luft. »Ach, ein Clown«, rief sie, während sie das Poster entrollte. »Der sieht aber lustig aus. Ich will ihn aufhängen.« Sie klebte das Poster an ein Schott.

»Und außerdem bekommst du das hier«, sagte George. Freudig zerrupfte Holly die Folie. »Da steht eine Geschichte drin, die ich dir mal erzählt habe«, erklärte George ihr. »Ein Häschen möchte gerne Fahrradfahren lernen, und…«

»Lies sie mir vor.«

Er las sie vor.

»Lies sie mir noch mal vor.«

Er erfüllte ihr den Wunsch.

»Lies sie mir noch mal vor.«

»Du hast dort noch Geschenke liegen.«

»Bestimmt ist das ’n Strandball.« Holly entfernte die Verpackung, und ihre Miene behielt ihren fröhlichen Ausdruck, sobald sie sah, der Strandball war in Wirklichkeit ein Globus. »Was ist das für ein Ding?«

»Man kann darauf sehen, wie die Welt ist. Aber es ist auch als eine Art von Spiel zu gebrauchen.«

»Dann wollen wir’s spielen.«

»Gut. Dazu muß aber noch das her.« George drückte ihr die Pokerchips in die Hand, und sie holte sie aus der Verpackung. »Schau hier, da drauf stehen die Namen von Ländern. Jeder hat zehn Chips. Dann dreht man den Globus – so! – und macht die Augen zu, und man streckt den Finger aus, wie ich’s jetzt tu, und wenn der Finger auf das Land zeigt, das auf deinem Chip steht, und…«

»Ist das letzte Päckchen auch für mich?« unterbrach ihn Holly, zog den Hut und winkte damit in Richtung Weihnachtsbaum.

»Ja. Es ist vom Weihnachtsmann.«

Hollys befreite ihre Zivilschutzkluft aus der Alufolie. »Oooh, eine goldene. Wie schön.«

»Man nennt das eine ARES-Montur.«

»Ich weiß.«

»Ich dachte, vielleicht möchtest du sie anziehen.«

»Echt fein. Was ist ’n mit dem Handschuh?«

»Den hat was getroffen.«

»Laß uns Besuch spielen. Ich bin die alte Schwester. Du kommst zu Besuch.«

Holly verteilte ihr neues Geschirr auf dem Kaffeetisch. In die Mitte stellte sie Sverres Gin-Flasche und steckte vom Baumschmuck einiges hinein, das vage Ähnlichkeit mit Blumen hatte. Sie lud den Raben, die Puppe, den Besucher und auch die von ihr zur Vogelscheuche erklärte ARES-Montur zum Tee ein. Jeder bekam unsichtbaren Kuchen und ebensolches Spaghettieis. Im Laufe des Nachmittags wechselte der Name der Vogelscheuche von Susi zu Margret und von Margret zu Alfred.

Später spielte Holly allein, gab Flörchen, Jennifer und Alfred das Fläschchen und brachte sie zu Bett. Außerhalb des U-Boots wich das Schwarz des Tages dem Schwarz der Nacht.

Vater und Tochter zogen in die Kombüse um und aßen ihr Weihnachtsessen. Die altbackenen Brezeln schmeckten ihnen prima. Sie schütteten zusätzlichen Zucker in den Kakao.

»Möchtest du Hottemax reiten, Holly?« fragte George, sobald sie in die Kabine zurückgekehrt waren.

»Nö.«

George fühlte sich bitterlich enttäuscht.

»Ich möchte Hottemax reiten«, sagte Holly zehn Sekunden später.

George stufte seinen Vorschlag als Test ein. Früher hatte jeder Hottemax-Ritt damit geendet, daß er darauf bestand, zum Weitermachen zu müde zu sein. In Wahrheit hatte er sich gelangweilt. Jedesmal hatte er den Eindruck gehabt, es käme nie der Zeitpunkt, an dem Holly von sich aus mit dem Hottemax-Reiten Schluß machte, sondern eher im Sattel einschliefe.

Holly kletterte auf seine breiten Pferdeschultern, und er galoppierte durch den Korridor. Ihr Gewicht auf seiner Wirbelsäule empfand er als regelrechte Annehmlichkeit. Indem sie ihren Zylinderhut schwang, trieb Holly ihn an. »Anders nun… Da hin, Hottemax…! Durch die Tür… Da lang, Hottemax…«

Fünfzehn Minuten verstrichen. Hottemax wurde es langweilig. Wie ist so etwas möglich? grübelte er. Aber es war ihm unmißverständlich langweilig. Ich halte durch, nahm er sich vor. Dieser Hottemax macht nicht schlapp. Auf gar keinen Fall.

»Das erinnert mich an was«, rief Holly.

»Und an was?« fragte Hottemax.

»An das Pferd, in das du immer das Geld gesteckt hast. Zu Hause. Ach, ich wäre gern wieder zu Haus, Papi. Bei meinem Kätzchen.«

»Hottemax ist jetzt müde.« Der Klumpen in Hottemax’ Kehle fühlte sich an, als wäre ihm eine Walnuß im Hals steckengeblieben. »Hottemax geht in den Stall zum Schlafen.«

»Können wir jetzt das Spiel spielen? Das mit der Weltkugel?«

»Na sicher, mein Schätzchen.«

In der Kabine gaben sie sich mit einem halbherzigen Versuch ab, das stumpfsinnige Spiel zu bewältigen. Holly verlor schnell die Lust und betrug sich störrisch. »Wie wär’s«, fragte George, »ich lese dir noch einmal Häschens Fahrrad vor?«

Er las ihr vor, während sie beide, in Decken eingemummelt, auf der Koje saßen. »Das Buch erinnert mich an was«, sagte Holly anschließend. »Vor langem, als ich noch ganz klein war, drei oder so, hast du mir ’n Buch darüber vorgelesen, wie sie am Meer leben.«

»Carrie von Kap Cod. Vergangenen Herbst haben wir oft drin gelesen.«

»Weißt du noch das über den Großen Löffel?«

»Den Großen Wagen. Ja.«

»Könnten wir uns den Großen Wagen angucken? Ich meine, könnten wir ihn jetzt sehen?«

»Na gut«, sagte George, entzog dem Teetisch ihre ARES-Montur. »Aber du mußt die Montur anziehen. Draußen ist es kalt.«

»Nein, nein«, keifte Holly, »das ist doch Alfred die Vogelscheuche!«

»Die Sache ist so, mein Herzchen: Wenn du die Montur nicht anlegst, können wir uns nicht den Großen Wagen angucken. Ich ziehe doch auch eine an.«

»Flörchen möchte mitkommen.«

»Na klar.«

George wappnete seine Tochter gegen die Elemente. Die ARES-Montur paßte ihr genau. Holly sah darin, so wie ihr rundliches Strahlegesicht aus dem goldgelben Kragen lugte, bewundernswert aus. Um das Einschußloch im Handschuh auszugleichen, wickelte George ihre Hand in aus dem Bettzeug gerissene Seidenstreifen.

Er hob Holly auf die Arme, trug sie und Flörchen einen Kilometer weit durch Korridore, blieb kurz an einem Schott stehen, nahm eine elektrische Leuchte vom Haken und hängte sie sich ans Handgelenk. Von der Navigationszentrale führte eine Wendeltreppe mit zwanzig Stufen aufs Hauptdeck. Am Luk zögerte er. »Schätzchen«, sagte er, »ich würde dich gerne was fragen.«

»Was?«

»Weißt du, was mit dir passiert ist?«

»Ja, weiß ich.«

»Was ist denn mit dir passiert?«

»Ich möcht’s dir lieber nicht erzählen.«

»Bitte verrat’s mir.«

»Du weißt doch, was passiert ist.«

»Sag’s mir.«

»Ich bin gestorben.«

*

Eine dicke Schneeschicht lag auf dem Oberdeck, verhüllte die Klappen der Abschußrohre. Silbrige Eisgebilde schrägten von den Seitenflossen des U-Boots abwärts und hingen an den Sehrohren wie das Netz einer ungeheuren antarktischen Spinne. Zerklüftete Eisberge keilten den Rumpf von allen Seiten ein, drückten ihn fest gegen die Eisbarriere.

»Oh, toll«, rief Holly. »Es hat geschneit, sieh nur, Papi, es hat geschneit.«

Ihr zu entgegnen, daß es in der Antarktis nicht schneite, sondern der Wind lediglich ununterbrochen die Eiskristalle umverteilte, verspürte George kein Bedürfnis.

Holly schaute an den Himmel empor. Die Sterne schienen scharf und klar. »Ist er da? Können wir den Großen Wagen sehn?«

»Ich weiß nicht genau…«

»Ich glaube, ich seh ihn.«

»Schätzchen, mir fällt gerade was ein. Wir sind in der südlichen Hemisphäre…«

»Ist er das?« fragte Holly, deutete mit den stämmigen, umhüllten Fingern himmelwärts.

George betrachtete das Firmament. Unkenntliche Sternenschwärme. Undeutbare Schwaden von Sternchen. »Ja, Herzchen, ich glaube, das ist er.«

»Das sagst du nur! Wir können den Großen Wagen gar nicht sehn.«

»Tut mir leid, Schätzchen. Das tut mir wirklich leid. Wir sind zu weit im Süden, deshalb…«

»Macht ja nichts, Papi. Laß mich runter.« George senkte die Arme, Holly rutschte hinab in den verharschten Schnee. Ächzen ähnliche Geräusche durchknarrten die Luft, als Eis und Rumpf aneinanderschabten. »Ich hab dich lieb, Papi.«

»Ich hab dich auch lieb, Holly.«

»Mami konnte nicht kommen«, sagte sie leise.

»Ja. Das ist sehr traurig.«

»Wir konnten den Großen Wagen nicht sehn.«

»Ja. Das ist auch traurig.«

Wind kam auf, zerwühlte den Schnee, wehte Schneebälle gegen den Turm. »Dankeschön für die Geschenke, Papi«, sagte Holly. »Die Puppe gefällt mir echt. Das war ’n tolles Weihnachtsfest.«

»Das schönste Weihnachten«, bekräftigte George, »was wir je hatten.«

»Jetzt muß ich gehn.«

»Nein! Du kannst doch jetzt nicht gehen!«

»Das Geschirr fand ich total gut, und mit dir Besuch zu spielen, hat mir riesig Spaß gemacht. Vielen Dank für Flörchen. Und vergiß nicht, Jennifer zu füttern. Sie kriegt ihr Fläschchen um sechs Uhr mitternachts.«

»Bitte bleib da, Holly! Bitte! Du darfst noch nicht fort!« George riß eine Faustvoll Vielfraßfell aus der Parkakapuze. »Ich muß dir erst eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen. Sie ist über eine Elfe, die einen goldenen Schatten wirft. Bitte! Eines Tages kam der Onkel der Elfe zu Besuch und wollte wissen, was…«

»Tschüß, Papi.«

Sie umarmten, drückten sich so fest, daß es hätte wehtun müssen.

»Bitte geh nicht, Holly! Bitte!«

»Lebwohl, Papi. Ich hab dich lieb.«

»Lebwohl, mein Schätzchen. Ich hab dich auch lieb. Ich habe dich so lieb.«

Holly befreite sich aus seinem Griff, rutschte auf dem Hinterteil den Rumpf hinunter, geradeso wie auf einer Rutschbahn. Der Zylinderhut fiel ihr vom Kopf. Dann hörte George unter ihren Stiefelchen Schnee knirschen. Auf ihrer goldgelben ARES-Montur funkelte Sternenschein, so daß es aussah, als überquerte eine Phosphorgestalt die Barriere in Richtung Lasarew-Station. Holly faßte Flörchen fester, lief schneller, und bald verschwand sie in Dunkelheit und Schneegestürm.

Eitelkeit der Eitelkeiten: George hatte aufrichtig geglaubt, er könnte seine Spezies retten. Aber dennoch, trotz der Gründlichkeit seines Versagens, war er nicht in seine alte, ehrgeizlose Schlaffheit zurückgefallen. Jetzt erwartete er erst recht etwas vom Leben. Gott sei es ihm schuldig, lautete seine Überzeugung. Ohne zu ermüden, eilte er verwegen übers Lasarew-Eisschelf. Ich wende mich an die Leute, mit denen Morning die Abmachung getroffen hat, dachte er. Sie müssen mir mein Kind lassen. Sie müssen einfach.

Seine Lampe hatte starke Leuchtkraft, zeigte sich dem antarktischen Schneetreiben mehr als gewachsen, und es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, Holly in Sicht zu behalten. Sie war erst vier, schwach auf den Beinen, dazu kam das Gewicht der ARES-Montur und Flörchens. George rief ihren Namen. Der Wind blies ihn zurück in sein Gesicht. Eisklümpchen prasselten ihm entgegen, zerschabten seine Stirn, machten ihm die Wangen schrundig. Er wünschte sich, ein Annullierter zu sein, so daß sein Gedächtnis verschwommen wäre, doch statt dessen zeichneten seine Erinnerungen sich durch brutale Klarheit aus: Hollys erster Besuch im Zoo, Holly zu Karneval als Marienkäfer verkleidet…

Die Eisklüfte der Antarktis lauerten wie hungrige Raubtiere auf Opfer. Holly bemerkte die große Nowolasarewkaja-Eisspalte nicht. In der einen Sekunde rannte sie noch vor George dahin, in der nächsten Sekunde sah er sie nicht mehr, war sie mit einem Aufblinken goldgelben ARES-Montur-Gewebes abgestürzt.

Lauthals verfluchte George die Eisspalte und schwor, ihren Anschlag auf seine Absichten so vollkommen zu vereiteln, wie Sverres U-Boot-Besatzung die liquidierte Vergangenheit abgeschmettert hatte. Schon sprang er an den Rand der Spalte, warf sich der Länge nach auf den Bauch, streckte den Arm mit der Leuchte über die Kante. Der Lichtstrahl flutete abwärts, erhellte Gewirbel von Schneeflocken und eine an die Eiswand gepreßte, mit den Stiefeln auf ein brüchiges Schneesims gestützte Kindergestalt. George blickte in zwei furchtsame grüne Augen, hörte Wimmern. Seine Muskeln und Sehnen quarrten, rissen fast, während er sich reckte, um ein paar Zentimeter verlängerter Reichweite abquälte.

George übertraf sich selbst mit seinen Anstrengungen. Er berührte etwas Weiches, packte es. Ruckartig zog er daran. Es gelang ihm, Hollys mit Seide umwickelte Hand heraufzuzerren, doch es fehlte ihr seltsam, ja grauenvoll an Gewicht.

»So sollt’s nicht enden!« schrie eine Stimme durch den Sturm.

George stierte den gräßlichen Gegenstand an, den seine Faust hielt. Hollys Handgelenk war aufgetrennt. Aus dem Schlitz ragte ein Plastikschlauch. Am zertrümmerten Ellbogen ragten ein Kugellager und Kupferdrähte hervor. Der Oberarmstumpf glich einem Springquell gelber Hydraulikflüssigkeit; aus Gummiadern spritzte künstliches Blut, umfloß stählerne Knochen und versickerte im Lasarew-Eisschelf.

Theophilus Carter, gekleidet in seine ARES-Montur mit dem Rautenmuster, kam in Georges Blickfeld gewackelt. Wie Hauer wuchsen Eiszapfen an seinen Nasenflügeln hinab, Eiszapfen hingen wie kristallisches Haar am Innenrand seines Klapphuts. Seine in Handschuhe gehüllten Hände umfingen eine Teekanne. In einiger Entfernung glomm die Beleuchtung seiner mobilen Boutique (›Sensationelles für den menschlichen Körper‹) durch die verschwommene Trübnis des Schneesturms.

»So sollt’s nicht enden…«, wiederholte Theophilus.

George schleuderte den Arm der Marionette in die finstere, vom Sturm durchwinselte Grube des Eisspalts, und als Hollys Double ihn anschaute, schwanden ihm die Sinne, und er sank ohnmächtig aufs Eis.