Selbst wenn George je der Aphorismus zur Kenntnis gelangt wäre, daß nichts dem Geist nachhaltiger zur Konzentration verhilft als das Wissen, am Morgen aufgeknüpft zu werden sollen, wäre sein Verstand beklagenswert unkonzentriert geblieben. Hätte eine Stenografin des Tribunals in diesen Augenblicken seine Gedanken mitgeschrieben, wären nichts als konfuse Begriffsfetzen, Aufheuler und der gleiche Singsang, den er nach Einschlagen des Sprengkopfs in seinem Heimatort improvisiert hatte, zu Papier gebracht worden: Das kann nicht wahr sein, das kann nicht wahr sein, das kann nicht…

Wie bei einem Krebskranken, der in einem medizinischen Wörterbuch nachschlägt und hofft, die üblichen Definitionen hätten sich über Nacht in günstigere Prognosen verkehrt, kreisten Georges Überlegungen ständig um das, was Richterin Jefferson zu ihm gesagt hatte, versuchten alternative Deutungen der Worte ›als schuldig befunden‹, ›morgen bei Sonnenaufgang‹ und ›Tod durch den Strang‹ zu finden. Vergeblich. Er nahm seinen Leonardo. Seine Tränen tropften auf die Farbe, so daß Aubreys Kleid zerlief. Ich muß bei alldem Würde bewahren, rief er sich ins Bewußtsein. Aber wo war die Öffentlichkeit zur Würdigung seiner Würde? In welchem Geschichtsbuch sollte man noch seinen Mut erwähnen? Er legte das Glasbildchen zurück auf den Nachttisch.

Die Mißtöne eines Schlüsselgeklappers drangen an sein Ohr, mit einem Knarren öffnete sich die Zellentür, Fackelschein warf einen Lichtkegel auf den Fußboden.

»Morning?«

Doch der Ankömmling war nur Juan Ramos, der einen großen, wie ein Stundenglas geformten Gegenstand sowie einen Teller Essen hereintrug. »Ihre Henkersmahlzeit, Sie alter Völkermörder. Und wenn Sie möchten, laß ich Ihnen diese Uhr da.«

Georges Henkersmahl umfaßte einen üppigen Berg gebratener Raubmöwe, gekochten Seelöwen sowie Mais; letzteren hatte man, so informierte ihn Ramos, »in den eisfreien Tälern in der Nähe des McMurdo-Sunds angepflanzt«. Dazu erhielt er sogar ein kleines Glas Wein – ›gegorene Pinguinlymphe‹ – und eine frische Apfelsine.

»Am liebsten würd ich allein essen«, sagte George.

»Ich bin besorgt wegen des Bestecks, Señor.« Ramos stellte die Eisuhr neben das Bild Aubreys. »Sie könnten ja versuchen, sich umzubringen, nicht wahr?«

Die Herzhaftigkeit seines Appetits befremdete und verwirrte George bis zur Peinlichkeit. Merkte sein Körper gar nicht, was sich hier abspielte? Er verzehrte noch den kleinsten Rest, schabte mit dem Messer über den Teller und leckte die Klinge ab. Den Wein trank er in drei Zügen aus.

»Anhand der Uhr können Sie ersehen, wann es hell wird«, erklärte Ramos. »›In der Antarktis ist es vor dem Hellwerden am dunkelsten‹, sagen wir hierzulande, ›und danach ist es auch am dunkelsten.‹« Er zeigte George, wie die Konstruktion funktionierte. Im Sockel brannte eine kleine Robbenöllampe. Im oberen Gehäuse steckte ein Eisblock. Durch das Aufsteigen der Hitze schmolz der Eisblock, das Wasser rann Tröpflein um Tröpflein ins untere Gehäuse, in dem George schon ein Pfützchen erblickte.

»Das Prinzip stammt aus Leonardo da Vincis Skizzenbüchern«, sagte der Gefängniswärter. »Buenos noches«, fügte er leise hinzu. Er nahm Geschirr und Besteck und ging hinaus.

Als das Untergehäuse der Uhr sich halb gefüllt hatte, so daß kaum noch zehntausend Tröpfchen George von der Hinrichtung trennten, suchte eine andere Person ihn auf, ein Mann, mit dem George, dessen war er sicher, nichts mehr zu besprechen hatte.

Der Prozeß schien Bonenfant gealtert, ihm Falten eingefurcht zu haben. Man hätte meinen können, sein Gesicht wäre einem Luftballon aufgedruckt, dem jetzt die Füllung entwiche. »Die Justiz hat versagt«, meinte er zu George. Durch sein schwarzes Haar verlief ein weißes Zickzackmuster. »Nein, es ist noch ärger. Die Justiz ist gemeuchelt worden. Selbstverständlich haben wir sofort alle Rechtsmittel eingelegt.«

»Aber es war aussichtslos, stimmt’s?«

»Ich dachte, es wird ein gerechtes Verfahren. Das habe ich im Ernst geglaubt. Das Gericht ist schlichtweg zu begreifen unfähig gewesen, daß die wenigsten Nuklearkriege so enden. Soviel hochtrabendes Gewäsch über Unparteiigkeit, und dabei haben sie die ganze Zeit hindurch ausschließlich als Schwarzblütige gehandelt. Es tut mir leid, George. Meine besten Bemühungen haben nicht genügt.«

»Sehen Sie das hier?« George holte die Glasmalerei vom Nachttisch und hielt sie Bonenfant vors Gesicht. »Ein Original-Leonardo.«

»Hmm?« Der Rechtsanwalt besah sich das Bildchen aus unterschiedlichen Abständen. »Eindrucksvoll, so viel Details auf so kleiner Fläche.« Seine Stimme klang wie ein rostiges Scharnier. »Das Paar sieht Ihnen und Dr. Valcourt ein bißchen ähnlich, wie? Ein Leonardo, sagen Sie?«

»Er hat das Bild nach Schilderungen des berüchtigten Lügners und Scharlatans Nostradamus gemalt.«

Bonenfant latschte in der Zelle auf und ab; seine Gangart bezeugte eine gewisse Erschlaffung, seiner Haltung ließ sich leichte Gebeugtheit anmerken. »Das Gericht interessiert sich dafür«, sagte er, »ob Sie irgendeinen letzten Wunsch haben.«

Müde schaute George hinüber zur Eisuhr. »Ich möchte, daß meine Familie wieder bei mir, daß der Planet wieder in Ordnung ist und meine Hinrichtung um fünfzig Jahre aufgeschoben wird.«

Bonenfant rang sich ein Lachen ab. Wenn man an den Galgen kam, folgerte George daraus, erzielte man selbst mit den dümmsten Späßchen einen Lacher.

»Tarmac hat um einen Soldatentod gebeten.« Der Anwalt mimte einen Schützen, der das Gewehr hebt. »Erschießungskommando.«

»Ich habe gehört, man scheißt in die Hose, wenn man gehängt wird«, sagte George.

»Ist aber abgelehnt worden.«

»Armer Kerl.«

»Aber einen Wunsch hat man ihm genehmigt, er wird mit dem tragbaren Raketengeschoß im Gürtelhalfter erhängt. Natürlich wird es vorher entschärft. Er hat Jefferson gesagt: ›Ich glaube noch immer, daß die Raketenwaffe dem Weltfrieden gedient hat, und es wäre Heuchelei, sich in meiner letzten Stunde davon zu distanzieren.‹« Aus der Hüfttasche seiner ARES-Montur brachte Bonenfant einen Umschlag zum Vorschein. »Für Sie.«

George entledigte sich der Handschuhe, riß den Umschlag mit froststarren Fingernägeln auf. Heraus rutschte ein Blatt Papier.

 

Liebster Schatz,

manche Dinge tun einfach zu weh.

Die Ausrottung der Menschheit.

Ein Wiedersehen mit dem Mann, den ich liebe, am Vorabend seiner Exekution.

Verübelst Du es mir, wenn ich Dich nicht mehr besuche? Ich habe an das gedacht, was wir einander zu sagen hätten, und ich konnte es nicht ertragen. Aber ich lasse Dich nicht im Stich. Am Ende werde ich bei Dir sein. Es gibt keine Gerechtigkeit. Verzeih mir.

In aller Liebe,
Morning

 

Bonenfant hantierte an der Eisuhr, doch mißlang es ihm, ihr Abtauen zu unterbinden. »Sie sind eine wahre Berühmtheit geworden, George, ist Ihnen das eigentlich klar? Die Leute sagen, man hätte Sie nie anklagen dürfen. Jeder weiß, daß man Sie nur aus symbolischen Gründen hängt. Ein schwacher Trost, denke ich mir, aber…«

»Ich möchte, daß Sie nun gehen.«

Mit stärkerer Gewaltsamkeit, als Georg je im Leben auf irgendeine andere Verrichtung verwendet hatte, zerriß er Mornings Brief.

»Schlechte Neuigkeiten?«

»Ich habe gesagt, Sie sollen gehen.«

»Für Overwhite habe ich einen presbyterianischen Priester gefunden. Ich könnte versuchen, für Sie einen unitarischen Geistlichen ausfindig zu machen.«

»Mister Bonenfant, in zehn Sekunden werde ich Sie erwürgen, und dann merken draußen meine Sympathisanten, daß ich doch nicht bloß ’ne Symbolfigur bin.«

George warf einen Blick auf die Eisuhr und sah, das Untergehäuse war zu zwei Dritteln voll. Das Rumsen der Zellentür löste vom Eisblock einen besonders unangenehm großen Tropfen.

*

70. Grad 0 Minuten südlicher Breite.

11. Grad 50 Minuten östlicher Länge.

Morgendämmerung.

Während es die Eistrümmer durchpflügte, die vor der Prinzessin-Astrid-Küste das Meer übersäten, blieb Periskop Nummer I auf das eisige Ufer gerichtet. Der Betrachter des ersichtlichen Panoramas, Korvettenkapitän Olaf Sverre von der Kriegsmarine der Vereinigten Staaten, grinste breit. Die Astrid-Eisbarriere lag so öd und leer da, wie er es vermutet hatte. Auf den silberglitzrigen Klippen ließ sich kein einziges Südpol-Gehenna erkennen. Als früherer Standort der Stationen Lasarew und Nowolasarewskaja war aus der Astrid-Barriere das gleiche wie aus allen einstigen russischen Parzellen geworden – ein bis zum äußersten verrufenruchloses Anti-Mekka, ein Landstrich der unaussprechlichen Gottlosigkeiten und unzumutbaren Wallfahrten. Also ein verläßlicher Zufluchtsort, hatte er sich überlegt.

Er ging in die Kombüse, brühte sich einen Becher Kaffee auf und goß einen Schuß Gin hinein. Während er durch verlassene Gänge an aufgegebenen Unterkünften vorüberstrebte, sann er über die Fakten seines Triumphs nach: einer zwölftägigen U-Boot-Fahrt durch fünftausend Seemeilen widrigen, mangelhaft kartografierten Ozeans – vom McMurdo-Sund in den offenen Pazifik, dann über den Polarkreis hinaus, um die Palmer-Halbinsel und zur Prinzessin-Astrid-Küste –, ohne daß er einen einzigen Mann zur Unterstützung gehabt hatte. Er betrat den Periskopraum, drückte das Auge an den Sucher. Das Periskop hatte die tiefergelegene Umgebung am Fuß des Nimrod-Gletschers in der Erfassung, eine Gegend, die auf seiner Karte die Bezeichnung Shackleton-Bucht trug. Er verstellte an einem Knopf die Brennweite und drehte am Rändelrad des Schärfereglers.

Die Verschwommenheit des Sichtbereichs klärte sich zum Anblick eines ausgedehnten, flachen, felsigen Hügels. Nahe beieinander ragten in der Mitte des Nunataks sechs Bäume empor, Gewächse aus Kapitänleutnant Grass’ hydroponischem Obstgarten, gekeimt und herangezüchtet in Raketenabschußrohren, geschaukelt in den Wiegen des Todes. Dank rigoroser Behäufung mit Mörderwal-Dung und anderen heimischen Düngerstoffen waren die Bäume in prachtvoller Verfassung, unter dünnen Reifschichten leuchteten Apfelsinen, biegsam bogen die Zweige sich im schwachen Wind, die Wurzeln saugten karge Nahrung aus dem Muttergestein.

An jedem Baum hing die Schlinge eines Stahlkabels.

Zwischen den Obstbäumen und der Zuschauermenge standen mehrere Züge des Antarktischen Gardekorps. Den Armen eines Seesterns vergleichbare Ausläufer der unüberschaubaren Menschenmasse verteilten sich weithin rund ums Nunatak bis auf die Gletscherzunge sowie von dort auf das höhere Plateau und das tiefere Ross-Eisschelf. Reihenweise flackerten Fackeln auf den Kämmen aus Eis und verharschtem Schnee, ihr Elmsfeuerglanz glomm auf den Ästen und warf verworrene Schatten auf den Untergrund. SCHULDIG! schrie der Mount Christchurch in dreieinhalb Meter hohen Buchstaben den Urteilsspruch hinaus.

Durch eine Polizeibrigade von der übrigen Menge abgesondert, schwenkten ein paar Dutzend Dissidenten Transparente: FREIHEIT FÜR PAXTON – KEINE SYMBOLISCHEN HINRICHTUNGEN – JEDER HÄTTE UNTERSCHRIEBEN. Sieh da, sieh da, sinnierte Sverre, Dr. Valcourts Geliebter hat Fans. Im Geist des Kapitäns entstand ein nebelhaftes Bild Kristins, seiner verhinderten Braut. Wo mochte sie jetzt sein? Schaute sie gleichfalls den Exekutionen zu? Oder war sie in einem Südpol-Gehenna? In welchem Alter mochte sie auf den Kontinent gelangt sein?

Unter einer der Schlingen parkte ein Eisbär-Raupenfahrzeug – ein Schwarzbär war jetzt daraus geworden, dachte sich Sverre, ein Schwarzer Killerbär – mit einem frischen, dicken Anstrich schwarzer Farbe. Eisblumen trübten die Fahrzeugfenster; schwärzliche Fürze entströmten dem Auspuff. Auf dem Fahrzeugdach stapfte ein Mann in schwarzer ARES-Montur ständig ruhelos vom einen zum anderen Ende. Die Gucklöcher seiner schwarzen Maske ähnelten schrecklichen Wunden. Am Wagendach des Killerbärs hatte man eine Strickleiter befestigt.

Abgeschirmt durch eine bewaffnete Eskorte rumpelte ein zweites, diesmal in morbidem Weiß gestrichenes Raupenfahrzeug ins Blickfeld, bremste ungefähr acht Meter vor dem kleinen Obstgarten. Aus dem Führerhaus sprangen Juan Ramos und Gila Guizot, stapften zum Heck. Vor einer Gewehrmündung taumelte Randstable aus dem Wagen, stolperte über die eigenen Füße. Ramos führte ihn zu dem Killerbär-Fahrzeug und befahl ihm, die Strickleiter hinaufzuklettern. Sobald der Verurteilte auf dem Fahrzeugdach stand, tat der Scharfrichter seine Pflicht, fesselte Randstables Hände mit einem Lederriemen und wickelte ihm das Koppel einer ARES-Montur um die Fußknöchel. Dann legte er dem Ex-Wunderkind die Stahlkabelschlinge um den Hals.

»Haben Sie noch etwas zu sagen?« rief Ramos.

»Die Gesamtmegatonnenstärke unseres nuklearen Waffenarsenals war auf fünfundzwanzig Prozent des Umfangs der späten fünfziger Jahre gesunken«, gab Randstable mit offenbar fester Stimme seine letzte Erklärung ab; jedes Wort war sogar für jemanden unmißverständlich, der im Lippenlesen so relativ neu war wie Sverre.

Der Scharfrichter zog die Schlinge straff zu und stülpte dem Todeskandidaten eine schwarze Lederhaube über den Kopf. Ramos drehte sich dem Fahrer des Killerbär-Fahrzeugs zu und machte die Bewegung des Halsabschneidens. Mit dem Scharfrichter auf dem Dach brummte der Wagen vorwärts.

Randstable blieb am Baum hängen.

Aus der Menschenmenge grölte Jubel. »Bravo!« riefen manche Zuschauer, andere »Da capo!« oder »Hurra!« Sverre trank Gin und wand sich vor Unbehagen. Er hätte von seinesgleichen ein anständigeres Benehmen erwartet. Mitten während Randstables zweiterZuckung öffnete sich das Vorderteil seiner ARES-Montur, und sein kleines, magnetisches Reiseschach fiel heraus. Der Wind blähte die Transparente der Zuschauer: LASST UNS EIN! – VÖLKERMÖRDER SOL-LEN LANGSAM STERBEN – TARMAC HÄTTEST DU NUR DIE RAKETEN IN DEINEM HINTERN STATIONIERT – WANN?

Das Killerbär-Fahrzeug stoppte unter dem benachbarten Baum.

Mit gebrochenem Genick baumelte Randstable besinnungslos in der eisigen Luft, die Schachfiguren lagen verstreut wie Fallobst unter seinen Füßen. Der Gerichtsmediziner kam mit einem Stethoskop und horchte den Brustkorb des Erhängten auf Herzschlag ab. Der Arzt schüttelte den Kopf, ging beiseite. Er trat von einem Bein auf das andere, kehrte zu Randstabe zurück, horchte ihn noch einmal ab, entfernte sich. Er horchte Randstable ein drittes Mal ab. Und ein viertes Mal. Nach zwanzig Minuten unverminderter Spannung wurde Randstable offiziell für tot erklärt.

Ramos strebte wieder zu dem weißen Eisbär-Raupenfahrzeug und befahl Overwhite auszusteigen. Binnen einer Minute stand der Urheber der STIRB-Abkommen gefesselt, die Schlinge um den Hals, sterbefertig auf dem Wagendach.

»Möchten Sie noch etwas sagen?« rief Ramos zu ihm hinauf.

»Zum Dank für Ihr rücksichtsvolles Verständnis möchte ich zum Ausdruck bringen, daß ich für Ihre Haltung zu dem stattgehabten Krieg und mehr oder weniger auch dafür Verständnis hege, daß Sie mich deswegen erhängen.«

Das war seine letzte Verhandlung.

Der Scharfrichter setzte ihm die Lederhaube auf, zog die Schlinge stramm. Ramos winkte dem Killerbär-Fahrer zu. Overwhites Stiefel schleiften übers Wagendach, dann schwangen sie durch die Luft. Elf Minuten später erklärte der Gerichtsmediziner ihn für tot.

Gila Guizot zerrte Pastor Sparren aus dem Fahrzeug ins düstere Freie. Als er auf dem Dach des Killerbär-Fahrzeugs stand, zückte er seine kleine Bibel, klappte sie auf. »›Denn der Stein aus der Mauer schreit auf‹«, las er daraus mit beachtlicher Majestät vor, »›und vom Gebälk gibt der Sparren ihm Antwort.‹«

Das ist wahrscheinlich das Geistreichste, was er je gesagt hat, dachte Sverre, indem er das heile Auge schloß. Als er es wieder aufschlug, lag die Bibel im Schnee, während der Prediger am Baum hing.

Sverre widmete seine Aufmerksamkeit dem weißen Eisbär-Raupenfahrzeug. Hatten Wengernook, Tarmac und Paxton die Exekutionen mitangeschaut? Welche merkwürdigen Empfindungen mochten ihr rotes Blut durchrauschen? Ob sie weinten? Aufgrund der geringen Erfahrungen, die er mit der Geborenen-Mentalität gesammelt hatte, bezweifelte Sverre, daß sie sich mit der kosmischen Tragweite der Stunde angemessenen Gedanken beschäftigten.

Amerikas für Internationale Sicherheitsangelegenheiten zuständiger Staatssekretär des Verteidigungsministeriums schien zu Wackelpudding geworden zu sein. Vier Gardisten mußten seine erschlaffte, zittrige Gestalt zu dem Killerbär-Fahrzeug tragen. Sie zogen ihn aufs Wagendach wie einen Sack Altkleider, stellten ihn hin, keilten ihn zwischen ihren muskulösen Schultern ein. Sverre erinnerte sich an die Videokassette, die das Tribunal ihm gegeben hatte, bevor er zur Erledigung von Operation Erebus auslief. »Hierauf ist der Mann zu sehen, den wir haben wollen«, hatte man ihm gesagt. »Sie können sie sich an Bord anschauen.« Das Video war die Aufnahme einer Reklamesendung für ARES-Monturen gewesen, wohlgemeint hingemurkst durch einen nervösen Robert Wengernook; der Staatssekretär hatte den Konsumenten weisgemacht, es hätte sich bei den ARES-Monturen um einen Beitrag zur Abschreckung gehandelt, jedoch vergessen, ihre außerordentliche Nützlichkeit unter den Wetterbedingungen der Antarktis herauszukehren. »Denken Sie daran«, hatte er gesagt, »daß jede Abschreckung nur soviel taugt wie die Menschen, die sich damit schützen.«

Ein Gardist steckte Wengernook eine Zigarette zwischen die Lippen; sie wippte wie eine Kompaßnadel, die auf einen vorbeigeführten Magneten reagierte, fiel ihm schließlich aus dem Mund. Sverre schnitt eine Grimasse. Operation Erebus war ein Mißgriff. Es fehlte ihrvöllig am Romantischen höherer Gerechtigkeit.

»Haben Sie noch etwas zu sagen?« rief Ramos dem Staatssekretär zu.

Wengernook fing zu würgen an. Sobald er baumelte, brauchte er nur zwei Minuten zum Sterben.

Das nahe Unwetter ballte seine Kraft. Böen durchfegten die Bäume, wirbelten die vier Toten umher. Zweige flogen fort, gefrorene Apfelsinen prallten auf den felsigen Boden. Henker Tarmac strebte durch Schneegestöber zu dem mobilen Schafott – seine Schritte fielen selbstsicher, gemessen und ruhig –, kletterte auf das Fahrzeug.

Durch sein Gummiauge lenkte Sverre seine Gedanken zurück in die Zeit, in der er an die Berechtigung des Tribunals geglaubt, zu dem Nachmittag, an dem Tarmac in seine Kabine gestürmt war und einen Vergeltungsschlag gefordert hatte. Damals hatte er den Generalmajor nicht ausstehen können, doch heute bemerkte er bei ihm Eigenschaften, die zusammengefaßt als Adel zu bezeichnen er kaum gezögert hätte. An Geborene mußte man sich erst gewöhnen. Er öffnete sein heiles Auge und sah Tarmac, an Händen und Füßen gefesselt, um den Hals die Schlinge, gelassen auf dem schwarzen Fahrzeugdach stehen. HOPPEL-Häschen grinste die Zuschauer an, als der Scharfrichter ihm das geliebte tragbare Raketengeschoß ins Gürtelhalfter schob.

»Wollen Sie noch etwas sagen?« rief Ramos ihm zu.

»Ich habe nur zu sagen, daß ich unschuldig bi…«

Der Scharfrichter zog die Schlinge zu. Das Stahlkabel schrammte den Hals des Generalmajor auf bis aufs Blut. Mit einer ebenso würdigen, unbekümmerten wie selbstgefälligen Gebärde lehnte Henker die Lederhaube ab.

Das Killerbär-Raupenfahrzeug brummte ein Stück vorwärts, aber der Generalmajor schien seinerseits ein stählernes Genick zu haben, es mochte nicht brechen. Für kurze Zeit tanzte er inmitten der Schneeflocken, die ihn in Schwällen umwehten, ermüdete dann, seine Bewegungen erlahmten. Doch als der Arzt vortrat, stieß Henker ihm einen harten, vereisten Stiefel ins Gesicht. Unverzüglich griff Ramos ein, befahl zehn Gardisten, sich in einer Reihe aufzustellen. Verzerrt feixte HOPPEL-Häschen, als das Exekutionskommando die Gewehre anlegte. Der Feuerbefehl erscholl. Hellrotes Blut spritzte, rotes Geborenenblut rann das zerfetzte Vorderteil von Henkers ARES-Montur hinab, sprenkelte das Eis, dann war es vorbei, hatte Tarmac doch noch einen Soldatentod gefunden.

Sverre trank Gin und beobachtete das weiße Eisbär-Raupenfahrzeug. Konnte Paxton unter diesen Umständen an Sexuelles denken? War es ihm und Dr. Valcourt vor ihrer unwiderruflichen Trennung noch gelungen, den Geschlechtsverkehr zu vollziehen? Der Kapitän drehte das Periskop, stellte es so ein, daß es die gesamte Stätte zeigte, an der die Zukunft Rache genommen hatte, die fünf Obstbäume, die als größte Früchtchen gehenkte Kriegsverbrecher trugen, und den leeren sechsten Baum, der noch auf diese Ehre wartete.

*

Allmählich erlosch Georges Bewußtsein.

Teilnahmslos wie ein Autist sah er dem Dahinschmelzen der Eisuhr zu, geräuschvoll fielen die Tropfen, jeder so traurig und endgültig wie eine Träne, in ihr Zielgebiet. Plüsch, machten die Tropfen, platsch, und es blieb keine Stunde mehr.

Dann nur noch eine halbe Stunde. Zwanzig Minuten. Zehn.

An Bord der Donald Duck, vormals New York City, betrat Sverre den Periskopraum und suchte den Kontinent nach Kapitänleutnant Grass’ Obstgärtchen ab.

Plitsch-platsch, machten die Tropfen.

George hob den Blick. Über seinem Kopf breitete sich ein großer, roter Klecks aus. Die Zellendecke blutete. Der Fleck wuchs schnell, leckte mit nassen Zungen rundum.

George dachte sich, daß er da den letzten unvermuteten Überraschungseffekt des Atomkriegs mitansehen durfte.

Von oben fing eine dunkle Gestalt die blutige Eisdecke zu demolieren an. Eine Furche entstand, dann zeigte sich ein Flußdelta von Rissen. Splitter barsten aus der Decke, fielen auf Georges Schultern und Brust, versetzten seine Spermatiden in Panik.

Die Erscheinung hackte unermüdlich auf das Eis ein, bis die Decke schließlich – mit einem Geräusch, das an den Laut eines verzweifelten Froschs erinnerte – der Länge nach entzweibrach. Eine Million Eisklümpchen hagelten in die Zelle, wie ein Blutregen rieselten rote Tröpflein herunter. Der Wind sauste mit einer Eisigkeit und Schärfe herein, als triebe er Rasierklingen vor sich her, heulte wie ein Annulliertenkind.

Weshalb in diesem Moment keine Angehörigen des Antarktischen Gardekorps zur Tür eindrangen, blieb George ein Rätsel, das aufzuklären George gar keine Lust verspürte. Er grapschte sich sein Familienporträt, steckte es in die Hüfttasche seiner ARES-Montur und ratschte den Reißverschluß zu. Wenn Henker die Absicht hat, mit seinem tragbaren Raketengeschoß im Gürtelhalfter zu sterben, überlegte George, will ich mit meinem Leonardo in der Hand sterben.

Ein riesiger Geier einer lange für ausgestorben gehaltenen Art schwang sich durch die zertrümmerte Decke abwärts und auf den Fußboden herab.

So, man hat die Hinrichtungsmethode geändert, dachte George. Ich werde nicht gehängt, sondern aufgefressen. Wahrscheinlich geht das sogar schneller.

Der Teratornis stieß ein Kreischen aus. Aus seinem Schnabel schwappte Blut wie Suppe aus einer Terrine. Sein schäbiges Gefieder schien mit aus Eis gepreßten Juwelen gespickt zu sein.

Erst als George einen Menschen in ARES-Montur im Nacken des Geiers sitzen sah, erkannte er, daß hier etwas anderes als eine Hinrichtung seinen Lauf nahm.

»Steig auf«, rief die Person, zog den Helm ab, so daß ein Schopf roten Haars hervorquoll. »Ich halte dich noch immer für unschuldig«, sagte Morning Valcourt. Sie warf George eine Schutzbrille und einen Parka zu, dessen Kapuze gefüttert war mit Vielfraßfell.

»Du hast ihn gezähmt?« fragte George. »Du lieber Himmel!«

»Psychologie-Lehrheft Hunderteins, Thema: Operante Konditionierung. Normalerweise für Tauben, aber es klappt auch bei Geiern.«

Als Morning sich den Helm wieder aufsetzte, dröhnten Schritte durch das Gangsystem außerhalb der Zelle. George hörte Geschimpfe.

Indem er nacheinander die Fäuste um Federbüschel krallte, sich daran hinaufklammerte, erkletterte Georgeden linken Flügel des Riesengeiers. Der Vogel stank. Er stierte George aus einem Auge an, das vulkanischer Asche ähnelte. George schwang sich in seinen dürren Nacken und schlang die Arme um Mornings Taille.

»Die Decke war voller Blut«, sagte er zu Morning.

»Von einer toten Robbe, damit unser gefiederter Freund das Eis zerhaut. Infolge der Freßwut, verstehst, du? Halt dich fest!«

Die Zellentür flog auf, krachte gegen die Wand. George blickte hinab. Er sah einen Gardisten mit einem Gewehr in der einen und einer Pistole in der anderen Hand. Wie ein schwarzes Wadi verlief ihm eine Narbe von der Stirn bis zum Mund, den er momentan vor Staunen weit aufriß.

Der Geier schlug mit den Flügeln, und die Ausreißer schwebten auf seinem Rücken empor in die trübe Morgendämmerung.

Im Innenhof tummelten sich Gardisten, ihre Laternen und Fackeln huschten umher wie übergeschnappte Glühwürmchen. Lichtschein glänzte auf Schußwaffen. Gewehrschüsse peitschten durchs Düstere, zischten durch den Schwanz des Teratornis, so daß ausgerupfte, große Federn abwärtssegelten. Eine Kugelbohrte sich in Georges Stiefelabsatz, eine zweite zerfledderte den Pelzbesatz seines Parkas. Der Geier kreischte, geriet ins Schlingern, aber hielt sich in der Luft. Dutzende von nur schattenhaft sichtbaren, bewaffneten Protestlern, die durchs Tor in den Innenhof drängten, eröffneten ihrerseits das Feuer auf die Gardisten. FREIHEIT FÜR PAXTON, stand auf ihren Spruchbändern. KEINE SYMBOLISCHEN HINRICH-TUNGEN. Laut jubelten die Protestler, während die Flüchtigen hoch über das Scharmützel aufstiegen. Schüsse knallten, Kugeln schwirrten, Körper wumsten aufs Eis, schwarzes Blut sprudelte aus ARES-Monturen, die Schreie der Getroffenen mischten sich mit dem schrillen Gekreische des Geiers. O du kostbarer Vogel, dachte George, du aasfressender Engel, der du kühner als der Aar bist, vollkommener als ein Roß, Leonardo hätte dich nicht zu fürchten brauchen. Mit einem kraftvollen Emporschwingen seines aller Kreiselsteuerung baren Leibs überflog der Teratornis die Mauern des Eispalasts. Indem er über einen Turm hinwegglitt, streckte die Beine, spreizte die Krallen und zerschlitzte die antarktische Nationalfahne zu einem Dutzend flattriger, schmaler Bändchen.

Ihr Plan ist geglückt, lautete Kapitän Sverres Schlußfolgerung, als feststand, daß Juan Ramos kein sechstes Mal zu dem weißen Eisbär-Raupenfahrzeug ging. Sverre lächelte, freute sich darüber, daß er die letzte Fahrt nicht in Diensten der Urheber der McMurdo-Sund-Konvention und nicht zugunsten ihres Schauprozesses unternommen hatte. Er drehte das Periskop und sah einen Suchtrupp über den Nimrod-Gletscher ausschwärmen, die Laternen hüpften zwischen den Eishügeln wie Irrlichter. Er spähte hinüber zum Plateau, sein Blick erhaschte einen schwarzen, bedrohlichen Umriß, der vor den südlichen Sternbildern kreuzte. Ein russischer Kugelblitz-Marschflugkörper? Nein, ein Teratornis. Eine Jungfrau wird empfangen und eine Spezies gebären. Flieg, George. Flieg, Morning…

»Flieg, Teratornis!« schrie George.

Obwohl er hinlänglichen Anlaß zu der Sorge hatte, seine Flucht könnte nur ein Trugerlebnis sein, der Wachtraum eines Todeskandidaten, verdeutlichten die beiläufigen Unerfreulichkeiten des Flugs George auf überzeugende Weise, daß er Realität erlebte. Auf einem Vogelrücken durch die Lüfte zu kreisen, erwies sich als weit weniger traumhaft, als er es sich vorgestellt hätte. Teratornis-Geierwaren anscheinend flugtüchtige Ökosysteme, ihr Gefieder strotzte von Parasiten – Flöhen und Milben – sowie den Schmarotzern von Parasiten. Der Wind schmetterte ihm ins Gesicht,drang ihm schier unter die Haut und höhlte eiskalte Mulden in seine Knochen. Die Halswirbelsäule des’ Vogels war zu hart für das Futter der ARES-Montur und zerscheuerte ihm die Oberschenkel. Geruch nach schleimigem Geierschweiß, das Odeur von in der Sonne liegengebliebenem Aas, wehte ihm in die Nase. Ja, das alles erduldete er wirklich.

»Wohin fliegen wir?« rief er, sich insgeheim sicher, er müßte jeden Moment abstürzen, durchs nachgerade hysterische Gejaule des Winds Morning zu.

»Über den Pol«, antwortete Morning. »Zum U-Boot.«

»Zum U-Boot?«

»Es ist auf See gewesen. Sverre ist in den Pazifik ausgelaufen, hat das Getz-Eisschelf umrundet und…«

Ihre restlichen Worte verwehte der Sturmwind.

Sie waren frei! Sie konnten an Bord des U-Boots gehen, zu den Zeitfalten fahren, Gegenden suchen, in denen noch Blumen blühten und auf gewellten Hügeln dicke Matten aus Gras wuchsen. Frei… Unvermeidlich, unaufhaltsam kreiste erneut sein psychisches Museum durch Georges Gehirn. Er sah Morning zum Zeitpunkt der Entbindung, die nasse Nabelschnur des: Neugeborenen, sein unerwartet dichtes Haar, die winzigen Händchen, Arabesken aus Runzeln.

Morning gab dem Geier einen Klaps gegen den Hals. Er schwenkte seinen Schnabel aus der Richtung der Endurance-Klippen auf den Gletscherkamm zu, hinter dem das Königin-Alexandra-Gebirge und, noch weiter entfernt, auf dem kolossalen polaren Plateau, das Land Zehntausender von Südpol-Gehennas, ungezählter Eishügel sowie der trostlose, gottverlassene Punkt lagen, von dem aus ein Reisender sich nirgends als nach Norden hinwenden konnte.