Am 17. März, an dem sich die lange Polarnacht über den Kontinent breitete, Gletscher aus Kohle und Berge von Pech schuf, machte Martin Bonenfant sich an die Aufgabe, die Unschuld der Angeklagten nachzuweisen.
Überall im Gerichtssaal flackerten Flämmchen an mit Mörderwaltran und Weddellrobbenöl getränkten Lampendochten. Unregelmäßige Schemen umschlichen das Panzerglas der Anklagebank. Bonenfants Jungengesicht glühte, als ob in seinem Schädel eine Kerze lohte.
»Ich bitte Generalmajor Roger Tarmac in den Zeugenstand.«
Furchtlos erhob Henker sich von seinem Platz.
»Bestimmt halten Sie sich großartig«, sagte Wengernook.
»Hals- und Beinbruch«, wünschte ihm Randstable, der gerade sein kleines Reiseschach vor sich aufbaute.
»Viel Glück«, sagte George, der in seiner Phantasie dauernd Schüler und Schülerinnen sah, die Mittelstreckenraketen in einen Vulkan hinabsenkten.
Durch Bonenfant dazu aufgefordert, gab Henker eine regelrecht spannende Schilderung seiner Jugend in Indiana, aus der das Tribunal erfuhr, er hatte bei zwei verschiedenen Gelegenheiten Mitschüler vor dem Ertrinken im Muscataruck gerettet. Danach hatte er die Luftwaffenakademie absolviert, einen monumentalen Aufstieg durch die Dienstgrade genommen und in der ehemaligen Stadt Omaha eine brillante Karriere als Zielbenenner des Strategischen Luftwaffen-Oberkommandos angetreten.
»Vor einigen Tagen«, sagte Bonenfant, »ist Ihr Name von Quentin Flood, dem Gründer einer Vereinigung namens Generale gegen Atomwaffen, während seiner Zeugenaussage erwähnt worden.«
Mit einem ARES-Montur-Handschuh putzte Henker seine Kriegsverdienstmedaille. »Im Zusammenhang mit einem meiner Aufsätze: ›Theorie der Triade und landgestützte Verteidigung – unsere Achillesferse.‹«
»Dieser Artikel hat auf ein Problem in bezug auf die Schutzengel-Raketen Ihres Landes hingewiesen«, sagte Bonenfant.
»Amerikas Sicherheit hat traditionell auf drei Beinen gestanden, der Triade. Erstens hatten wir seegestützte, in U-Booten stationierte Interkontinentalraketen. Zweitens gab es bemannte Bomber. Und der dritte Faktor, den ich als unsere Achillesferse erkannt hatte, waren unsere landgestützten Schutzengel-Raketen.«
»Wieso waren sie zur Achillesferse geworden?«
»Wegen der SS Sechzig, vierhundertdreißig hochgradig treffsicheren russischen Interkontinentalraketen, deren Zweck es sein sollte, per Erstschlag unsere Schutzengel-Raketen zu vernichten.«
»Eine erschreckende Entwicklung.«
»Nach einem solchen Erstschlag hätte der amerikanische Präsident nur zwei Optionen zur Auswahl gehabt: Kapitulation oder Vergeltungsschlag gegen russische Städte.« Henkers Hand durchschnitt die Luft. »Aber das hätte naturgemäß Gegenschläge herausgefordert, und dann hätte er erst recht in der Scheiße gesteckt.«
»Und Ihre Lösung war…?«
»Die Omega-Rakete.«
»Die Omega-Raketen ließen sich gegen die neuen russischen Raketen wirksam einsetzen?«
»Zur Ausschaltung solcher Ziele ist eine kurze Reaktionszeit Voraussetzung. Die Omega ist eine schnelle Sau. Außerdem verfügt sie über eine ungeheure Treffgenauigkeit, große Reichweite sowie eine Ladung von zehn Sprengköpfen in Wiedereintritts-Projektilen.«
»Haben Sie je den Einwand gehört, die Omega-Rakete hätte ohne überlebensfähige Stationierungsweise« – Bonenfant bog die Mundwinkel zu einem gönnerhaften Ausdruck herab – »ein nur geringes Vergeltungsschlagpotential und sei daher eine sogenannte Erstschlagswaffe?«
»An der Stationierungsfrage haben wir ununterbrochen gearbeitet.«
»Welche Möglichkeiten haben Sie erwogen?«
Der Generalmajor spreizte die Finger und zählte daran die Antworten ab. »Bisher ist die Stationierung der Raketen an Bord von Luftschiffen, in Unterwasserbunkern, Kohlebergwerken, kreisförmigen Gräben und auf Flußbooten auf dem Mississippi in Betracht gezogen worden.«
»Sie hätten sie in Ihrem Hintern stationieren sollen«, rief eine junge Frau aus dem Publikum. Eine volle Minute lang mußte Richterin Jefferson mit dem Hammer auf dem Richtertisch herumwummern, bevor das allgemeine Gelächter verklang.
»Beim SLO hatten Sie einen ungewöhnlichen Spitznamen«, sagte Bonenfant.
»Man nannte mich HOPPEL-Häschen«, erteilte Henker Auskunft. »Nach den Heuristischen Operativen Protekt-Prozeduren kontra militärische Eskalations-Lancierung.«
»Einige Leute haben den HOPPEL-Plan verdächtigt, ein als Abschreckung verbrämtes Kriegsgewinnungsszenario zu sein.«
»Die beste Methode, um einen nuklearen Krieg zu verhüten, ist doch, dem Gegner zu zeigen, daß man den Konflikt gewinnen kann.«
»Vielleicht fällt es dem Hohen Gericht schwer, diese These…«
»Streitkräfte die nicht siegen können, schrecken niemanden ab. Ist das klar genug?«
»Mir zumindest ist es klar. Keine weiteren Fragen.« Bonenfant kehrte mit einem Gehabe der Selbstzufriedenheit an seinen Tisch zurück, als wäre er eine Katze, die eine Maus in die Küche schleppte.
Richterin Jefferson stellte es dem Oberstaatsanwalt anheim, gleichfalls Fragen an den Zeugen zu richten.
»Das hat er dufte gemacht, meinen Sie nicht?« fragte Randstable, der sich auf das Schachbrett konzentrierte, auf dem er sich soeben anschickte, mit einem König einen Zug gegen sich selbst zu tun.
»Er ist ein durch und durch professioneller Berufssoldat«, sagte Wengernook.
»Auf jeden Fall hat er ihnen die Art von Informationen gegeben, die sie hören möchten«, äußerte Overwhite.
Streitkräfte die nicht siegen können, schrecken niemanden ab. Über diese spezielle Wahrheit dachte George so angestrengt nach, wie er überhaupt nur konnte.
»Generalmajor Tarmac«, sagte Aquinas, indem er auf den Zeugenstand zuschlenderte, »Ihre Hypothese von der Achillesferse hat mich verwirrt. Waren Amerikas landgestützte Raketen nicht in Betonsilos eingebunkert?«
»Die neuen russischen SS-60-Raketen hatten die Kapazität zur Zerstörung harter Ziele«, erklärte Henker geduldig.
»Harter Ziele?«
»Ein Fernraketen-Abschußbunker ist ein hartes Ziel.«
»Im Gegensatz zu weichen Zielen?«
»Sehr richtig. Viele, viele Stunden lang haben wir uns wegen der Bunkerhärte den Kopf zermartert, aber es gibt nun einmal für alles Grenzen. In diesem Fall liegt sie bei ungefähr eintausend Kilo pro Quadratzentimeter.«
»Mit anderen Worten, das gesamte Wettrüsten bietet sich uns als die Bemühung einer Anzahl Männer dar, unheimlich hart zu sein?«
»Sie mögen darüber Ihre Späßchen machen, Herr Oberstaatsanwalt, aber eine schutzlose landgestützte Raketenwaffe ist absolut nichts zum Lachen.«
Aquinas nahm eine Pose der Betroffenheit ein. »Aber mußte die Triade, eben weil sie ein so üppiges Waffenarsenal erforderte, nicht zwangsläufig von Zeit zu Zeit Schwächen hervorbringen?«
»Bei den landgestützten Raketen bestand auf unserer Seite eine ernste Lücke«, entgegnete Henker. »Deshalb haben wir die Omega-Raketen benötigt.«
»Wollen Sie damit sagen, daß die Triade mangelhaft durchdacht war und Amerika statt dessen die russische Strategie hätte nachahmen sollen?«
»Nein, ich sage damit, daß die Russen mehr landgestützte Interkontinentalraketen als wir hatten. Warum ist das so schwer zu begreifen?«
»Und Sie haben wirklich befürchtet, die Russen könnten mit Ihren eingebunkerten Interkontinentalraketen ein atomares Pearl Harbor veranstalten?«
»Diese Möglichkeit stand zwar weit am unteren Ende der Wahrscheinlichkeit, aber wir hatten trotzdem deswegen Sorge.«
»Und vor dem Omega-Programm hätten die Russen erwarten können, unter Umständen mit einem derartigen Überraschungsangriff Erfolg zu haben?«
»Sehr richtig.«
»Und dann hätten Sie kapitulieren müssen?«
Henker schluckte seinen Ärger hinunter. »Ja.«
»Wieso?« fragte Aquinas.
»Wir wären entwaffnet gewesen.«
»Hätte der amerikanische Präsident nicht beide verbliebenen Beine der Abschreckung benutzen können, um auch die Russen zu entwaffnen?«
»Denken Sie doch mal logisch. Hätten die SS Sechzig eingeschlagen, wären ihre Abschußbunker leer gewesen.«
»Sie wären also zur Kapitulation gezwungen gewesen?«
»Ja.«
»Inwiefern?«
»Das habe ich doch eben erklärt. Wir hätten keine Fernraketen mehr gehabt.«
»Die Russen genausowenig, nachdem sie sie verschossen hätten. Das haben Sie eben auch gesagt.«
»Wahrscheinlich wäre eine Reserve zurückbehalten worden«, erwiderte Henker.
»Dann hätten Sie doch einen Vergeltungsschlag führen können«, entgegnete Aquinas.
»Nein. Der Gegner hätte seine Raketenreserve unserem Gegenschlag entzogen.«
»Wie das?«
»Indem er sie gestartet hätte.«
»So daß Sie hätten kapitulieren müssen?«
»Ja!«
»Warum?«
»Wie oft muß ich’s denn noch wiederholen?« Henker brach einen Eisbrocken aus dem Zeugenstand und zermalmte ihn. »Weil wir entwaffnet gewesen wären. Können Sie denn nicht die elementarsten Prinzipien strategischen Denkens kapieren?«
»Nehmen wir einmal an, der Präsident hätte, statt zu kapitulieren, der strategischen U-Boot-Flotte befohlen, die russische Nation auszuradieren?«
»Kein Präsident hätte einen chirurgischen Schlag mit einem Großangriff beantwortet. Das wäre auf der Eskalationsskala ein viel zu großer Sprung nach oben gewesen.«
»Wie viele amerikanische Zivilisten wären bei so einem ›chirurgischen‹ Schlag ums Leben gekommen?«
»Nach dem Schlimmstfall-Szenario fünfundzwanzig Millionen.«
»Hätte der Präsident ein solches Gemetzel nicht mit einem Großangriff verwechseln können?«
»Nicht wenn er die Bereitschaft gehabt hätte, sich einmal einen Moment der Ruhe zu nehmen und anzuschauen, wie diese Verluste verursacht worden wären.«
Auf diese Weise streckte die Befragung sich noch über eine Stunde lang hin; zwischendurch gab es nur eine kurze Pause für einen Imbiß aus gekochten Pinguineiern und Walspeckstullen. »Waren die Omega-Raketen«, fragte Aquinas schließlich unvermittelt, »nicht in Wirklichkeit Erstschlagswaffen, Generalmajor Tarmac?«
»Nein«, sagte Henker.
»Was sind sie denn gewesen?«
»Sie waren ein funktionales und glaubhaftes Zweitschlag-Vergeltungs-Waffensystem zur Abschreckung.«
»Ein todsicheres Waffensystem?«
»Ein funktionales, glaubhaftes…«
»Ich verzichte auf weitere Fragen«, brummte der Oberstaatsanwalt und schlurfte mit vom Überdruß hervorgerufenen, krampfartigen Zuckungen vom Zeugenstand zurück zu seinem Tisch.
Henker stand auf, verschränkte die Arme auf der Brust. Er sah aus, als hätte das Kreuzverhör ihn zwanzig Pfund seines Lebendgewichts gekostet. Er wankte zur Anklagebank. »Na«, fragte er, »wie war ich?«
»Dafür hätten Sie ’n Preis verdient«, sagte Wengernook.
»Ich hoffe, ich schneide halb so gut ab«, sagte Randstable, bot sich selbst Schach.
»Ich wußte gar nicht«, räumte George ein, »daß Streitkräfte, die nicht siegen können, niemanden abschrecken.«
Overwhite mußte als nächster in den Zeugenstand. Die Öllampen warfen bronzefarbene Tupfer auf seinen schneeigen Bart, während er seine Lebensgeschichte erzählte, seine Tätigkeit beim Auswärtigen Amt, im Diplomatischen Korps, im Außenministerium und zuletzt der Abrüstungs- und Rüstungsbegrenzungsbehörde schilderte. Es änderte sich nichts daran, daß George ihn für einen Windbeutel hielt, doch immerhin erweckte er von da an den Anschein eines wohl findigen und intelligenten, quasi aus den besten Zutaten gebackenen Windbeutels.
»Aufgrund der Ausführungen des Oberstaatsanwalts sind zwei Verträge zu Protokoll genommen worden, an deren Aushandlung Sie beteiligt gewesen sind«, konstatierte Bonenfant. »Offenbar ist mein hochgeschätzter Kollege der Ansicht, Ihre Bemühungen seien nicht weit genug gegangen.«
»Ich habe für Mister Aquinas Standpunkt Verständnis«, antwortete Overwhite, während er sein Kinn auf Kiefertumoren untersuchte. »Erlauben Sie mir jedoch, vor diesem Tribunal klarzustellen, daß das erklärte Ziel meiner Behörde immer die allgemeine und vollständige Abrüstung gewesen ist. Leider hat die massive russische Aufrüstung das Erreichen dieses Ziels zu unserer Zeit unmöglich gemacht.«
»Dennoch können Sie auf beeindruckende Erfolge zurückblicken.«
»Jeder dürfte stolz darauf sein, auf seinem Grabstein stehen zu haben: ›Er hat STIRB Eins und STIRB Zwei ausgehandelt.‹«
Modell Nummer Viertausendfünfzehn, dachte George. Vermonter Taubenblaugrau.
»Diese Verträge hätten der Verteidigung ohne weiteres als Exponate dienen können«, postulierte Bonenfant, nachdem Overwhite lang und breit die Einzelheiten beider STIRB-Abkommen auseinandergesetzt hatte.
Dem pflichtete Overwhite bei.
»Kritiker haben an den STIRB-Verträgen bemängelt«, sagte Bonenfant, »sie hätten dem Militär der Vereinigten Staaten bei Mehrfachsprengköpfen und Marschflugkörpern zuviel Spielraum gewährt.«
»Ich bringe dieser Einstellung Verständnis entgegen«, lautete Overwhites Entgegnung. »Allerdings sollte man immer beachten, daß am Verhandlungstisch neue Waffensysteme Verhandlungsmasse ergeben. Dadurch sind die Russen gezwungen worden, sich über Abrüstung ernsthafte Gedanken zu machen.«
»Entschuldigen Sie«, mischte sich Richter Woiziechowski ein. »Das hört sich für mich an, als wollten Sie sagen, Sie hätten, indem sie es ablehnten, die Anhäufung bestimmter Waffen zu verringern, die Rüstungsverminderung begünstigt.«
»Der Sinn meiner Feststellung ist, daß technische Innovation sowohl diplomatische wie auch militärische Vorteile hat.«
»Würden Sie im Rückblick sagen, Mister Overwhite«, fragte Bonenfant, »daß Ihre Behörde hätte mehr tun können, um den kürzlichen militärischen Konflikt zu verhindern?«
»Wenn wir sein Bevorstehen geahnt hätten… Ja, wahrscheinlich hätten wir dann auf gewisse vertrauensbildende Maßnahmen hingewirkt. Zum Beispiel wäre dringend eine Modernisierung des Roten Telefons zwischen Washington und Moskau zu empfehlen gewesen.«
»Nun ja, aber niemand kann Ihnen einen Strick daraus drehen, daß Sie keine Kristallkugel hatten, in der Sie die Zukunft gesehen hätten.«
»Es fiele mir schwer, für eine solche Haltung Verständnis zu erübrigen.«
»Ich habe keine Fragen mehr.« Während der Rückkehr an den Tisch der Verteidigung schniefte Bonenfant kräftig, als könnte seine Nase all die Siegesgewißheit, die er in der unter null Grad kalten Luft schnupperte, kaum bewältigen.
»Wieso ist es für die Abrüstung günstig«, erkundigte George sich bei Henker, »wenn man die Menge bestimmter Waffen nicht vermindert?«
»Brian hat es doch vorhin erklärt«, antwortete der Generalmajor.
»Der Prozeß muß für jemanden wie Sie ganz schön langweilig sein«, meinte Wengernook.
»Für mich ist er nicht langweilig«, sagte George.
Der Oberstaatsanwalt näherte sich dem Zeugenstand mit einer Scheibe Eis unter dem Arm. »Mister Overwhite, wenn Ihrer Behörde die vollständige Abrüstung so sehr am Herzen lag, weshalb haben Sie dann nie einen Vertrag über die Abschaffung aller Atomwaffen vorgeschlagen?«
»Tja, wenn man über so radikale Vorschläge nachdenkt, stößt man auf gräßliche Probleme, sobald man entscheiden will, welches technische Gerät verboten und welches erlaubt bleiben soll. Nehmen Sie nur mal die Trägersysteme…«
»Inwiefern sind Verhandlungen über Trägersysteme schwierig?« Aquinas furchte die eindrucksvolle Stirn.
»Weil die Sprengköpfe immer kleiner werden und deshalb so gut wie alles als Trägersystem benutzt werden kann. Ein Walküre-Dreizehn-Bomber ist eindeutig ein Trägersystem. Aber wie verhält es sich mit einem Piper-Sportflugzeug? Oder einem Heißluftballon?«
»Sie haben also nur darum nie irgendwelche Raketen oder Bomber abgeschafft, weil Sie nicht die Fähigkeit hatten, sie von Heißluftballons zu unterscheiden?«
»Ich will lediglich sagen, daß es manchmal eine reichlich unliebsame Sache ist, klare Definitionen auszuarbeiten.«
»Es ist eine unliebsame Sache, in einer Atomexplosion zu verglühen.«
Bonenfant stand auf. »Hohes Gericht, könnten wir nicht ein Moratorium gegen billige Seitenhiebe beschließen?«
»Das Gericht mißbilligt Ihre letzte Bemerkung, Mister Aquinas«, sagte Richterin Jefferson.
Bescheiden deutete Aquinas eine Verbeugung an und setzte die Befragung fort. »STIRB Eins betraf Raketenstartanlagen, nicht wahr? Jeder Seite wurden achthundertsechsundfünfzig Abschußrohre in U-Booten und elfhundertfünfundsiebzig verbunkerte Startschächte zugestanden.«
»Das waren die festgelegten Obergrenzen, ja.«
»Diese Zahlen klingen nach keiner sonderlich wirksamen Begrenzung.«
»Läßt man das Arsenal zu spartanisch werden, Mister Aquinas, verstärkt man die Versuchung, einen Erstschlag zu führen.«
»Also war es vorstellbar, daß es Ihnen nie gelungen wäre, die Startvorrichtungen auf Null zu reduzieren?«
»Wir hielten es für am besten, in einem Rahmen zu denken – und dabei auch kleinere Irrtümer hinzunehmen –, der unsere Sicherheitsinteressen beachtete.«
Aquinas hielt eine Robbenöllampe über seine Scheibe Eis. Der gespenstische Lichtschein flackerte auf Grafiken und Statistiken. »Bei STIRB Zwei ging es um die Bomben selbst…«
»Wir haben auch Obergrenzen für die Unterteilung festgelegt. Zwölf Sprengköpfe je Rakete.«
»Nach meinen Berechnungen hat sich nach der Verabschiedung des STIRB-Zwei-Abkommens die Zahl der Sprengköpfe auf beiden Seiten erheblich erhöht.«
»Aber jede Rakete trug nur noch ein Dutzend.«
»Mister Overwhite, haben Sie je zu einem Reporter der Zeitschrift Time gesagt, ich zitiere: ›Wir dürfen die Wirtschaft nicht mit Abrüstungsverträgen belasten, die nur abgeschlossen werden, um sich bei der Öffentlichkeit lieb Kind zu machen?‹«
»Dabei dachte ich an die Menschen, die keine Arbeit mehr gehabt hätten, wenn plötzlich, sagen wir mal, das Omega-Programm gestrichen worden wäre.« Overwhite klopfte sich Reif aus dem Bart. »Wissen Sie, es galt zu verhindern, daß die Abrüstungspolitik…«
»Eskaliert?«
»Sonderinteressen zum Opfer fällt.«
»Ich würde gerne mit Ihnen über die sogenannte Verhandlungsmasse sprechen.«
»Wie Sie wünschen.«
»Nennen Sie bitte drei zur vollen Einsatzfähigkeit fertigentwickelte Offensivwaffensysteme, die dank Ihrer Behörde am Verhandlungstisch – bei Gegenleistungen der Russen – abgeschafft worden sind.«
»Wir haben dauernd Bomben und Raketen, sobald sie veraltet waren, aus dem Verkehr gezogen.«
»Dahin geht meine Frage nicht. Ich möchte, daß Sie drei Waffensysteme nennen, die durch Verhandlungen beseitigt worden sind.«
»Momentan fallen mir keine drei ein.«
»Können Sie zwei nennen?«
»Nicht unbedingt, nein.«
»Können Sie ein Waffensystem nennen?«
»Tja, wie Sie sich bestimmt leicht denken werden, hat eine Waffe, wenn erst einmal die Produktion aufgenommen worden ist, nicht nur als Verhandlungsmasse, sondern auch als Abschreckungsinstrument ihren Wert.«
»Mister Overwhite, alles in allem besehen, kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, daß in Wahrheit Sie und die Waffenfabrikanten an einem Strang gezogen haben.«
»Ich hege für Ihre Verbitterung durchaus Verständnis, Mister Aquinas. Ganz und gar unverständlich dagegen ist mir Ihre Schlußfolgerung.«
Geradezu theatralisch schauderte der Oberstaatsanwalt zusammen, ehe er dem Hohen Gericht mitteilte, daß er keine weiteren Fragen zu stellen beabsichtigte.
»Das mit der allgemeinen und vollständigen Abrüstung war eine wirklich bündige, einprägsame Verlautbarung«, sagte Randstable, indem er seinen König kippte, um sich die eigene Niederlage einzugestehen.
»Er hat permanent alles im Griff gehabt«, sagte Wengernook.
»He, Overwhite«, schrie aus dem Publikum ein Mann mit rotem Gesicht, »da kommt ’ne Verhandlungsmasse auf dich zu!« Er stand auf und schleuderte, als hätte er einen beliebig zielbaren Sprengkopf in der Faust, einen Eiszapfen. Der gefährliche kleine Kegel sauste durch die frostige Luft und verfehlte den Ex-Abrüstungsunterhändler um nur zwei Zentimeter.
Das war, befand George, ein beispielloser Vorfall.
*
Am folgenden Morgen hörte das Hohe Gericht sich die Autobiografie Dr. William Randstables an, des Mannes, der im Leben schon in fast so viele Rollen geschlüpft war, wie Theophilus Carter in seinem Ladengeschäft Kostüme hängen hatte. Schach-Wunderkind. Urheber des beliebten Computerspiels Alarmstart!, (dessen Tantiemen ihm den Besuch des Technischen Instituts des Staates Massachusetts ermöglicht hatten). Autor des Science Fiction-Bestsellers Das Dunkel der Sonne. In Mathematik jüngste Kanone der unter dem Namen Lumen AG bekannten Denkfabrik. Leiter der Abteilung für Raketenlenksysteme beim Bundesforschungslaboratorium Sugar Brook.
»Ich bin ehrlich überwältigt«, sagte Wengernook.
»Solche Leute hängt man nicht einfach so auf«, meinte Henker.
»Ich habe mich schon immer gefragt«, sagte George, »wie man sich wohl fühlt, wenn man so ein Geistesriese ist.«
Randstable beendete seine Selbstdarstellung, indem er darüber Aufschluß gab, wie er einmal einen sowjetischen Schach-Großmeister geschlagen hatte, der gleichzeitig KGB-Agent gewesen sei.
»Sie haben während Ihrer ersten Zeit bei der Denkfabrik Lumen AG…«, fing Bonenfant einen Satz an.
»Sind Denkfabriken Teile der Rüstungsindustrie gewesen?« fragte Richter Yoshinobu dazwischen.
»Keineswegs zwangsläufig, Euer Ehren«, gab ihm Randstable Auskunft.
»Ich habe mir bisher darunter eine automatische Fabrik vorgestellt, die von einem körperlosen menschlichen Gehirn gesteuert wird«, sagte der Richter.
»Das ist eine wirklich interessante Idee…« Randstable zog die Hornbrille ab und kaute versonnen auf einem Bügel. »Am heikelsten wäre die elektroneurale Schnittstelle…«
»Die was?« fragte Richterin Gioberti.
»Das Wetware-Modem«, antwortete Randstable. »In so einem Fall wäre Schnittstelle, wenn man’s genau bedenkt, eine wirklich rundum passende Bezeichnung, man würde ja Hirnschale, Augen, Nase und andere Körperbestandteile entfernen müssen.« Mehrere Minuten lang schweifte er in weiterführende Veranschaulichungen ab, bis Richter Woiziechowski ihn unterbrach und daran erinnerte, daß er hier vor Gericht stand und es für ihn um Leben oder Tod ging. »Ach so, ja, Verzeihung«, sagte der ehemalige Superkönner. »Ich bitte um Entschuldigung.«
»Erzählen Sie uns etwas über Ihre Tätigkeit bei der Lumen AG«, forderte ihn Bonenfant auf.
»Unser Team hatte die Aufgabe, die durch die Waffenarsenale der Großmächte aufgeworfenen logischen Probleme zu analysieren. Die epistemologischen Fallgruben der garantierten wechselseitigen Vernichtung, wie IRRE sie implizierte, um ein Beispiel anzuführen, oder die Tautologien, die sich beim Emporbewegen auf der Eskalationsskala ergeben.«
»Was ist Ihrerseits bezüglich dieser Probleme Konkretes getan worden?« wollte Richterin Gioberti erfahren.
»Wir haben darüber nachgedacht.«
»Diese kniffligen Forschungsgegenstände haben Ihnen sicherlich gehörig die Nerven verschlissen, kann ich mir vorstellen«, sagte Bonenfant.
»Herrgott, ja. Als ich dann ein Angebot von Sugar Brook erhielt, habe ich sofort angenommen.«
»Dort sind Sie, glaube ich, für das Projekt Inertialsystem-Kreiselsteuerung zuständig gewesen.«
»Ich habe bei jeder Rakete, mit der ich zu tun bekam, für eine Verbesserung ihrer Treffgenauigkeit gesorgt.«
»Wie groß war die Verbesserung?«
»Stellen Sie sich vor, Robin Hood steht in Nottingham auf dem Markt und schießt in der Schweiz Wilhelm Teils Sohn den Apfel vom Kopf.«
Ganz langsam breitete sich auf Bonenfants Gesicht ein Lächeln aus. »Was war das letztendliche Resultat der Inertialsystem-Kreiselsteuerung?«
»Erhöhte Sicherheit auf der Welt«, sagte Randstable.
»Erhöhte Sicherheit der Welt?«
»Klingt paradox, hm? Aber wenn man die Gewißheit hat, daß man jederzeit seine Ziele mit hundertprozentiger Zuverlässigkeit treffen kann – das heißt, die Gewißheit, man schaltet jedes feindliche Raketensilo und jedes gegnerische Befehlszentrum nach Wunsch aus –, senkt man damit die Schwelle der Overkillkapazität, die man braucht, ganz beträchtlich.«
Der Verteidiger reichte seinem Mandanten ein großes Stück in Knochen eingerahmten Seehundleders. Auf eine Seite des Leders hatte man zwei Kurvengrafiken gezeichnet. »Gewinnt eine Rakete an Treffgenauigkeit«, fragte Bonenfant, »verliert sie also an Destruktivität?«
»Genau. Wie aus dieser Übersicht erkennbar ist, hat die Megatonnenstärke des nuklearen Waffenarsenals sowohl in Amerika wie auch Rußland seit Anfang der sechziger Jahre kontinuierlich abgenommen.«
»Wie hat Ihr Lenksystem funktioniert?«
Randstable streifte die Jahre ab wie einen zu schweren Mantel. Plötzlich war er wieder Willi das Wunderkind. »Die Grundkonstruktion bestand aus einer Beryllkugel voller Gyroskope und Beschleunigungsmesser«, erklärte er mit dem Eifer eines Buben, der über elektrische Modelleisenbahnen diskutierte. »Ich hatte die Idee, das Gerät in eine zweite Kugel mit einer nichtleitfähigen Flüssigkeit von neutralem Auftrieb zu plazieren, und – presto! – schon blieben die Gyroskope während des Flugs in ihrem Kohlenwasserstoffbad schön warm und gleichmäßig gelagert. In gleicher Weise ist ein menschlicher Embryo geschützt.«
»Außerdem haben Sie das Projekt Intelligente Sprengköpfe geleitet.«
»Dadurch ist eine noch genauere Treffsicherheit gewährleistet worden. Jeder Sprengkopf war mit einem eigenen Computer ausgestattet, verstehen Sie? Anhand dessen konnte er das Radarbild des Zielgebiets Pixel um Pixel mit einer gespeicherten Richttopografik vergleichen.«
Das Wörtchen Pixel gefiel George. Es hörte sich wie ein Wort an, das eine Elfe zur Selbstverniedlichung hätte verwenden können.
»Hat das Bundesforschungslabor Sugar Brook auch die bodengestützte Anti-Raketen-Rakete Lachhabicht entwickelt?« fragte Bonenfant.
»Ja«, bestätigte ihm Randstable.
George erinnerte sich daran, daß er vorgehabt hatte, Holly eine Geschichte über eine Elfe zu erzählen, die einen goldenen Schatten warf.
»Ich denke mir, es war für Sie ein herrlicher Tag«, sagte Bonenfant, »als Sie schließlich demonstriert haben, daß das Lachhabicht-System einfliegende Raketen in der Luft vernichten kann.«
»Wir haben Champagner aufgerissen und uns so einiges reingeknallt.«
»Ihre Lachhabicht-Anti-Raketen-Raketen sind im Grunde genommen ein Vorläufer der raumgestützten Verteidigung gewesen, die Mister Seevogel in seinen Aussagen zum Einstein-Sechs-Abkommen ja in höchsten Tönen gepriesen hat.«
»Das könnte man durchaus so sagen.«
»Darüber müssen Sie doch sehr froh sein.«
»Ich bin mit allem sehr zufrieden, was das Forschungslabor Sugar Brook an Neuerungen hervorgebracht hat.«
»Ich bin mir sicher, die Anklage wird versuchen, Sugar Brook als Händler des Todes zu diffamieren, ein Füllhorn des Teufelswerkzeugs… Entschuldigen Sie, Mister Aquinas, falls ich Ihrer Rhetorik zuvorkommen sollte.«
»Ich wüßte dagegen nichts einzuwenden«, sagte der Oberstaatsanwalt.
»In was für einer Art von Betrieb sind Sie denn wirklich tätig gewesen, Dr. Randstable?«
»Einem Betrieb, zu dessen Bestrebungen es gehörte, Nuklearwaffen überflüssig zu machen.«
»Keine Fragen mehr.«
Fröhlich entfernte Bonenfant sich zurück an den Tisch der Verteidigung.
»Darauf zu verweisen, daß er die Raketen treffsicherer gemacht hat, war schlau«, kommentierte Henker.
»Das mit dem Überflüssigmachen war auch gut«, sagte George.
Nachdem er den rechten Handschuh ausgezogen hatte, fuhr Aquinas mit gestrecktem Zeigefinger die tröstliche Abwärtskurve einer der aufs Seehundleder gemalten Grafiken hinab. »Eine beeindruckende Darstellung.«
»Finde ich auch«, sagte Randstable.
»Sind Sie tatsächlich der Auffassung, die Megatonnenstärke wäre immer weiter gesunken?« fragte der Oberstaatsanwalt.
»O ja.«
»Bis unter die Schwelle, die eine Vernichtungsgefahr für die Menschheit ausgeschlossen hätte?«
»Unsere Extrapolationen haben es uns so gezeigt.«
»Die Erhöhung der Raketen-Treffgenauigkeit hat auch eine andere Seite, nicht wahr?«
»Was meinen Sie?«
»Sobald Raketen treffgenauer sind, werden Sie auch leichter einsetzbar.«
»Ja, aber wenn Sie so argumentieren, muß man sagen, es ist selbstverständlich besser, man hat einsetzbare statt unbrauchbare Raketen.«
»Dr. Randstable, haben Sie es nicht als reichlich abwegig empfunden, all diese ausgeklügelte Technik zu perfektionieren, obwohl Sie, wie Sie uns zu verstehen geben, genau wußten, daß sie nur psychologische Bedeutung haben sollten – daß es für die Welt besser gewesen wäre, sie hätten im Ernstfall nicht funktioniert?«
»Pessimismus war bei Sugar Brook verpönt.«
»Verraten Sie mir offen, haben Sie je vorgetäuscht, eine Rakete sei erfolgreich getestet worden, obwohl sie abgestürzt und verbrannt ist?«
»Nein.«
»Ich will darauf hinaus, daß der Abschreckungswert doch derselbe geblieben wäre, hätten die Russen lediglich geglaubt, sie wäre verwendungsfähig. Das gesamte Raketenarsenal hätte aus ungekochten Spaghetti gebastelt werden können, oder?«
»Diese Frage hat mein Mandant schon beantwortet«, rief Bonenfant und stand auf.
»Sie müssen auf die Frage verzichten, Mister Aquinas«, sagte Richterin Jefferson.
Als Georges Blick das Publikum streifte, sah er, daß mehrere Zuhörer sich mit Rasierklingen die Adern aufgeschlitzt hatten. Ihr schwarzes Blut dampfte und bildete in hohen, triefnassen Buchstaben den Satz INTELLIGENTE SPRENGKÖPFE SIND EINE SCHWACHSINNIGE IDEE.
»Sie müssen sich gefreut haben, als Sugar Brook Hauptlieferant für die Lachhabicht-Anti-Raketen-Raketen geworden ist«, mutmaßte Aquinas.
»Na klar. Ich meine, wir standen ja in mörderischem Konkurrenzkampf mit dem Winco-Konzern und dem Kombinat MARS Integral.«
»Und als die Lachhabicht-Rakete produktionsreif war, haben Sie mit Champagner gefeiert?«
»Ja sicher.«
»In Newsweek konnte man lesen, Sie hätten ›auf eine miese Nacht im Kreml‹ getrunken.«
»In Wirklichkeit ›auf eine schlaflose Nacht im Kreml‹.«
»Im Washingtoner Weißen Haus haben Sie keine schlaflosen Nächte vorausgesehen?«
»Ich kann Ihrer Logik nicht folgen.«
»Nun, jede stationierte Lachhabicht-Rakete hätte ja Rußlands Vergeltungsschlagskapazität weiter eingeschränkt, bis gar keinerlei gegenseitige Abschreckung mehr existiert hätte. Infolge der Befürchtung, daß Amerika einen Erstschlag plante, hätte Rußland den Erstschlag zuerst führen können.«
»Als Amerika das Atommonopol hatte, hat es doch auch keinen Erstschlag geführt.«
Aus den Akten der Verteidigung suchte Aquinas einen Schnellhefter und legte ihn in Randstables Schoß. »Ich möchte Sie auf Dokument Vierhundertsechsundsiebzig verweisen, die Studie ›Einschätzung der Auswirkungen der strategischen Luftoffensive auf die UdSSR‹ aus dem Jahre 1949. Wie Ihnen bekannt sein dürfte, geht diese Studie von siebzig Zielgebieten auf dem Territorium der damaligen Sowjetunion aus, also vom umfassenden atomaren Bombardement einer ganzen Nation, praktisch ihrer vollkommenen Auslöschung.«
»Das ist lange her.«
»Für mich ist alles lange her, Dr. Randstable. Keine weiteren Fragen.«
Der Ingenieur schlurfte zurück zur Anklagebank. »Na«, fragte er, »wie lautet Ihre Einschätzung?«
»Sie haben ihm richtig ordentlich Saures gegeben«, sagte Wengernook.
»Ich glaube«, sagte Henker, »wir stehen ganz hervorragend da.«
»Die Sache mit dem Embryo ist mir unklar geblieben«, gab George zu.
*
Während der Mittagspause – die Angeklagten konnten zwischen Mörderwalspieß und gekochter, aber kalter Raubmöwe wählen – zeigte Randstable ihm ein paar Schach-Eröffnungen und regte ihn danach zu einem Spiel an, ließ ihn den Anfang machen und schlug dafür einen Zug mit dem Turm vor. Seit der Mittelschule hatte George nicht mehr Schach gespielt, aber er dachte sich, es wäre vielleicht lustig, dabei jemandem zu unterliegen, der einen russischen Großmeister geschlagen hatte.
Als nächsten nahm man Pastor Sparren ins Kreuzverhör. Mit einer Stimme, deren Lautstärke in jeden Eisspalt und jede Eisritze drang, selbst solche, die noch nie ein Wort aus Menschenmund vernommen hatten, schilderte der Prediger dem Tribunal, wie er, während er früher als Halbwüchsiger ›in einem ekelhaften Pfuhl der Drogen und der Unzucht‹ gesteckt hätte, eines Abends in die Pornovideosammlung seiner Eltern gegriffen und versehentlich eine Bibel in die Hand bekommen hatte. Er fing darin zu lesen an. Und hatte sie nicht mehr weglegen können. Ein Jahr später besuchte er das Theologische Seminar Coral Gables. Ehe das Jahrzehnt herum war, hatten seine Kabelfernsehauftritte höhere Einschaltquoten als – mit Ausnahme der Spätsendereihe Erotik um elf – sämtliche anderen Sendungen, und er war jüngster Vorsitzender des angesehenen, rechtskonservativen Komitees zur Bekämpfung des Bösen geworden.
»Der Mann macht mich nervös«, sagte Wengernook.
»Nein, nein, es ist gut, daß wir ihn dabeihaben«, entgegnete Henker. »Wir brauchen eine religiöse Komponente.«
»Ihr Bestseller Christen trotzen dem Erstschlag enthüllt«, sagte Bonenfant, »daß sich zur Jahrtausendwende gewisse biblische Prophezeiungen bewahrheiten. Wie weit stimmen Ihre Auslegungen mit dem kürzlichen, russisch-amerikanischen Konflikt überein?«
»Die hebräischen Propheten hatten bis ins letzte recht.« Der Prediger zurrte den Reißverschluß seiner ARES-Montur auf und holte die kleine Bibel aus seiner Anzugweste. »Wie Sie wissen, hat der Krieg den Jerusalemer Tempel zerstört, und das ist das Vorspiel zu dem, was Christen die Endzeit nennen. Während der Endzeit wird die Kirche – werden die Menschen, die auf Jesus bauen – siebenfach gespalten und in die fernsten Winkel der Erde vertrieben. Das verdeutlicht, wieso ich hier bin. Falls Sie am Nordpol und in anderen entlegenen Gegenden nachsuchen, werden Sie dort schiffsweise Christen antreffen.«
»Und nach der Endzeit?«
»Noch mehr Bomben fallen, aber natürlich können sie der Kirche nicht schaden. Diese Bomben sind dermaßen verheerend, daß die Überlebenden sich einem Mann unterordnen, der Frieden verspricht. Aber wer ist er? Der Antichrist, der ist er.«
Zum erstenmal im Leben ersah George, um was für eine wahrhaft schlappe Religion es sich beim Unitarismus handelte.
»Irgendwie bin ich mir nicht im klaren«, sagte Richterin Jefferson, »worauf Ihre Ausführungen abzielen.«
Sparren reagierte, indem er noch lauter sprach. »Sieben Jahre lang provoziert der Antichrist eine Reihe großer nuklearer Konflikte, eingeschlossen die Hunderttausend-Megatonnen-Schlacht Harmageddon! Dann jedoch kehrt der Menschensohn rechtzeitig wieder, um den vollkommenen Untergang abzuwenden!«
»Das wäre es also zusammengefaßt?« fragte Richterin Jefferson.
»Die heutige Welt verschwindet, das Jüngste Gericht findet statt, ein Neuer Himmel und eine Neue Erde erscheinen!«
»Folgt außerdem etwas?«
»Die Ewigkeit«, sagte Sparren feierlich.
»In der vergangenen Woche«, sagte Bonenfant, »hat Ex-Vizepräsidentin in spe Mutter Maria Chatherine Sie beschuldigt, Sie mäßen die Christlichkeit einer Nation am Umfang ihres Nuklearwaffenarsenal.«
»In keiner meiner Veröffentlichungen ist etwas Derartiges zu lesen.«
»Aber Sie sind ein Anhänger des Prinzips Friede durch Stärke.«
»Wenn man die Heilige Schrift aufgeschlossenen Gemüts liest« – Sparren tippte auf seine Bibel – »ersieht man daraus, daß sie die Vereinigten Staaten gegenüber Rußland zur nuklearen Überlegenheit drängt, einer Nation, die der Prophet Ezechiel Magog nennt.«
»Ich habe beim Lesen Ihrer Bücher sofort erkannt, daß sie den Nuklearkonflikt als Bedrohung einstufen, für deren Überwindung alle Christen aktiv sein sollten.«
»Ja, aber dabei können wir nur Erfolg haben, wenn wir die Bereitschaft aufbringen, Gottes Schwert zu erdulden. Die Bibel lehrt, daß in einer Welt gefallener Menschen militärische Streitkräfte wichtig sind, um die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten.«
»Also, der Schutz der öffentlichen Ordnung ist wohl kaum als Verbrechen zu bewerten. Ich habe keine Fragen mehr an den Zeugen.«
»Die Hypothese von der ›Welt gefallener Menschen‹ ist mir neu«, sagte Randstable, während er George auf dem Schachbrett ein Bauernopfer brachte. »Hochinteressant.«
»Den Mann hätten wir beim SLO haben müssen«, meinte Henker. »Unser Pressesprecher war eine Niete.«
Werden wir gefallene Menschen? erkundigten sich Georges Spermatiden. Ich weiß es auch nicht, antwortete er.
Aquinas näherte sich dem Zeugenstand ohne sichtbare Begeisterung. Als Advocatus diaboli oder als Oberstaatsanwalt Gottes aufzutreten war beides eine gleichermaßen undankbare Aufgabe. »Beim Durchblättern Ihrer Bücher sind mir die vielen grafischen Abbildungen zum Vergleich der amerikanischen und sowjetischen Militärmacht aufgefallen. Schweifen diese Statistiken nicht ziemlich weit von theologischen Inhalten ab?«
»Ich wollte den Christen klarmachen, daß der Feind uns in jeder Kategorie voraus war, bei der Nutzlast, bei den konventionellen Streitkräften, überall. Es galt Amerika zu retten, solange dazu die Zeit blieb.«
»War angesichts der Tatsache, daß die Propheten Amerikas Untergang schon vorhergesagt hatten, der Versuch, ihn zu verhindern, keine Lästerlichkeit?«
»Gott hat mit uns seine Pläne«, entgegnete der Prediger.
»Der Titel Ihres letzten Buchs, Geschäfte mit dem Satan: Ein Christ betrachtet die STIRB-Abkommen, spricht für sich. Offenbar halten Sie nichts von Abrüstung.«
»Ich halte sehr wohl etwas von Abrüstung. Nur von Beschwichtigungspolitik halte ich nichts.« Sparrens Lächeln fiel so süßlich aus, daß seinen Zähnen Karies drohte. »Immerhin ist die Sowjetunion ja ein Polizeistaat gewesen, oder nicht, Mister Aquinas? Man konnte nie wissen, welche Verträge sie gerade brach oder was für Bomben sie baute.«
»Wenn es unmöglich war, genau zu ermitteln, wie viele Waffen die Sowjetunion hatte, weshalb haben Sie dann Grafiken veröffentlicht, die zeigen sollten, wieviel Waffen die Sowjetunion hätte?«
»Diese Statistiken waren durch das Komitee zur Bekämpfung des Bösen aufgestellt worden.«
Aquinas ging zu einem Aktenstapel, kramte zwei Bücher mit Pappeinbänden heraus und klappte das auf, dessen Umschlag ein Titelbild mit einem Atompilz über Golgatha schmückte. »Auf Seite hundertdreiundvierzig von Gottes Megatonnen schreiben Sie: ›Das Nahen Harmageddons sollte kein Vorwand zur Furcht, sondern Grund zur Freude sein. Denn Harmageddon ist die Weise, wie Gott die Erde vom Bösen reinigt.‹ Ich frage mich, wieviel Christen diese Zeilen gelesen und unwillkürlich einen Atomkrieg herbeigewünscht haben.« Er schlug im zweiten Buch nach. »Und in Christen trotzen dem Erstschlag zitieren Sie Sophonias mit Kapitel eins, Vers fünfzehn und sechzehn: ›Ein Tag des Zornes ist jener Tag, ein Tag der Angst und Bedrängnis, ein Tag des Unwetters und der Verwüstung, ein Tag der Düsternis und Finsternis, ein Tag der Wolken und des Dunkels, ein Tag des Kriegshorns und des Kampfgeschreis gegen die befestigten Städte und hochragenden Zinnen.‹ Und Sie schreiben dazu: ›Klingt das nicht wie die Vernichtung der russischen Anti-Raketen-Raketensysteme durch einen amerikanischen Zweitschlag?‹«
»Ich hatte die Absicht, der Christenheit zu verdeutlichen, daß der Menschensohn, falls Amerika so klug wäre, der Abrüstungsfalle auszuweichen, unser Waffenarsenal nutzen könnte, um in Magog alle gewaltsam zu richten, die das kostenlose Geschenk des Heils von sich stoßen.«
»Das sollte durch Jesus geschehen?«
»Bei seiner ersten Menschwerdung kam er als Lamm, bei der Wiederkunft wird er ein Löwe sein.«
»Aha«, machte Aquinas, verdrehte in seinem wuchtigen Schädel die Augen. »Keine Fragen mehr.«
»Er kennt die Bibel, was?« meinte Wengernook.
»Mir hat immer die Bergpredigt gut gefallen«, sagte George. »Hiob hatte auch manche bemerkenswerte Sachen zu sagen.«
»Ich dachte«, sagte Henker, »Sie wären Unitarier.«
»Jesus war seiner Zeit voraus«, meinte Randstable.
*
Am folgenden Morgen rief Bonenfant um neun Uhr Wengernook ins Kreuzverhör.
»So, Kollegen, nun bin ich dran«, stellte der Staatssekretär des Verteidigungsministeriums fest und salutierte nervös vor seinen Mitangeklagten.
»Denken Sie daran, daß die Geschichte auf unserer Seite steht«, riet ihm Henker. »Unsere militärische Stärke hat die Russen vorsichtiger gemacht.«
»Geben Sie auf Aquinas’ linke Tricks acht«, warnte ihn Randstable.
Sobald er im Zeugenstand saß, holte Wengernook Zigaretten und Streichhölzer aus seiner ARES-Montur. Richterin Jefferson erteilte ihm die Erlaubnis zum Rauchen.
»Die Staatsanwaltschaft hat mehrere Dokumente mit von Ihnen verfaßten Texten vorgelegt«, sagte Bonenfant, »unter anderem eine Rede mit dem Titel ›Der sowjetische Plan für den nuklearen Sieg‹, die Sie in Massachusetts dem Ärzteverband vorgetragen haben. Hatte die Sowjetunion wirklich für den Sieg geplant?«
»Dafür gab es überwältigend deutliche Anzeichen«, gab Wengernook zur Antwort. Er entzündete ein Streichholz, bewegte es jedoch um etliche Zentimeter an der Zigarette vorbei. »Ihr Waffenarsenal eignete sich für einen längeren nuklearen Konflikt, und sie hatte ein umfangreiches Zivilschutzprogramm. Als ich meine Tätigkeit für die gegenwärtige Regierung aufnahm, hatten die Russen sich längst an die verabscheuungswürdige Vorstellung gewöhnt, über uns Sieger werden zu können.«
»Folglich mußte Amerika seine Abschreckungspolitik abändern?«
»Die Imperative Reziproke Radikal-Eliminierung war nicht nur eine unmoralische, sondern zudem eine veraltete Konzeption. Was wir brauchten, war eine Politik der Schadensbegrenzung und Streitkräftemodernisierung sowie ein Menü realistischer strategischer Optionen. Kurzum, den Übergang von IRRE zu HOPPEL.«
»Manchen Leuten hat es Sorge verursacht, daß durch HOPPEL eine wesentliche Erhöhung des Bestands an Sprengköpfen erforderlich wurde.«
»Während der Gültigkeit des IRRE-Konzepts genügte es… Ach, ich weiß nicht… Ein paar hundert Bomben hätten gereicht.« Endlich gelang es Wengernook, das entflammte Streichholz an die Zigarette zu halten. Er zündete den Filter an. »Aber wenn man sich Schadensbegrenzung zum Ziel setzt, ist ein viel größeres Raketenarsenal nötig.«
»Ihre Angaben zur ›Schadensbegrenzung‹ sind für mich nicht so recht nachvollziehbar«, sagte Richter Woiziechowski.
Damit sind wir schon zwei, dachte George. Damit sind wir vierhundert Millionen, sagten seine Spermatiden.
Um die verschiedenerlei Bedeutungen der erwähnten Schadensbegrenzung zu erläutern, beanspruchte Wengernook einen Großteil des Vormittags. »Sie ersehen also, Hohes Gericht«, erklärte er zum Schluß, »daß es in dem schrecklichen Fall eines Scheiterns der Abschreckung wichtig ist, feindliche Ziele selektiv auszuschalten. Die Raketen müssen dem Gegner das Angebrachte mitteilen.«
»Und was wäre die richtige Mitteilung?« fragte Richter Yoshinobu.
»›Wir wollen euch nicht vernichten, wir wollen uns schützen. Darum bombardieren wir eure Raketensilos, eure Bomberflugplätze, U-Boot-Bunker und Sprengkopffabriken.‹« Wengernook tat einen langen Zug an seiner endlich entzündeten Zigarette. »Dadurch motiviert man den Gegner zum Verzicht auf einen Großangriff.«
»Also ermöglicht so ein Konflikt in der Anfangsphase eine bessere Verständigung zwischen den Atommächten?« fragte Richterin Gioberti.
»Falls je ein Krieg ausbricht – Gott behüte! –, sähen die Russen unverzüglich, daß sie durch ein Überschreiten der Schwelle chirurgischer Schläge nichts gewinnen könnten«, antwortete Wengernook.
»Sie würden von einer Eskalation abgeschreckt?«
»Genau. Ihre einzige Alternative wäre ein Friedensschluß.«
Bonenfant ließ das Wort Friedensschluß einige Sekunden lang nachhallen und einwirken, dann konstatierte er, daß er keine weiteren Fragen zu stellen gedachte. Richterin Jefferson ordnete die Mittagspause an.
»Ich bin froh«, sagte Henker, »daß er das Unmoralische angesprochen hat.«
»Der Hinweis auf den Frieden als einzige Alternative war bestimmt auch gut«, sagte George.
Seine Schußwunde pochte heftig, während er sich der Aussagen Viktor Seevogels zu entsinnen versuchte. War es ein kompliziertes Atomwaffentestverbot, das der Alte ausgehandelt hätte? Und er hatte irgend etwas über waffenfähiges Material geredet…
»Staatssekretär Wengernook«, nahm nach der Mittagspause Aquinas das Kreuzverhör auf, »ist es zutreffend ausgedrückt, wenn ich sage, daß der amerikanischen Atomrüstung die Verteidigung Westeuropas am Herzen lag?«
»Wegen der Überlegenheit der konventionellen Streitkräfte des damaligen Warschauer Pakts war die Stationierung taktischer Nuklearwaffen entscheidend für die Sicherheit der NATO.«
»Manche Beobachter waren der Ansicht, daß die neuen Mittelstreckenraketen in Europa die Sowjetunion zur Festlegung auf das Alarmstartprinzip gezwungen haben.«
»Dabei müssen Sie den Stabilisierungseffekt des Alarmstartprinzips berücksichtigen.« Wengernook schnippte seine Kippe fort, als wollte er einen Alarmstart demonstrieren. »Wenn eine Nation ihre Raketen in Alarmstartbereitschaft hält, fühlt ihre militärische Führung sich weniger bedroht.«
»Weil sie weiß, sie kann ihre Raketenwaffen nicht durch einen gegnerischen Präventivschlag verlieren?«
»Ja.«
»Demnach verringert sich die Wahrscheinlichkeit, daß sie irgendwelchen Unsinn anstellt?«
»Richtig.«
»Wie einen Alarmstart?«
»Ganz genau.«
»Bitte erklären Sie dem Tribunal den Verzicht auf den Ersteinsatz von Atomwaffen.«
»Das war eine vorgeschlagene Doktrin, der zufolge die NATO nie als erste Seite Atomwaffen einsetzen sollte, nicht einmal, wenn sie durch die Panzerdivisionen des Warschauer Pakts eine vollständigen Niederlage zu erleiden drohte.«
Aquinas entnahm dem Aktenstapel mehrere Schriftstücke. »Bei Durchsicht Ihrer Veröffentlichungen habe ich ersehen, daß Sie einem Erstschlagsverzicht ablehnend gegenüberstanden.«
»Er hätte die Abschreckungspolitik in schwerwiegendem Maß unterminiert. Ich ziehe eindeutig eine Politik vor, die sagt: ›Die NATO wird nie Atomwaffen einsetzen, außer sie wird angegriffen.‹«
»Mit konventionellen Waffen.«
»Darüber hinaus bestand ja ein Glaubwürdigkeitsproblem. So ein Verzicht wäre ja sein Papier schon zu Anfang des sowjetischen Blitzkriegs nicht mehr wert gewesen.«
»Falls ich Sie recht verstehe, war beim Erstschlagsverzicht die Problematik, daß er gerade unglaubhaft genug gewesen wäre, um den Gegner zum Großangriff zu verleiten, aber zu unglaubhaft, um einen Großangriff zu verhüten?«
»Man soll dem Gegner die eigenen Absichten nie vorher bekanntgeben.«
»Ist das die Überlegung, aufgrund der Sie in dieser Ausgabe der Vierteljahresschrift für Strategisches Denken, Dokument Siebenhundertvierundneunzig, Präsident Truman für die Einführung eines sogenannten Hiroshima-Faktors gelobt haben?«
»Na ja, Hiroshima hatte uns auf alle Fälle im Bereich der Vernebelungspolitik über die Sowjets einen Vorteil verliehen«, sagte Wengernook, während er in dem erwähnten Dokument blätterte. »Sie wußten nie genau, was wir als nächstes tun.«
»Durch Ablehnung des Erstschlagsverzicht konnte Amerika also den Vorteil in der Vernebelungspolitik wahren?«
»Ich versuche hier ein ernstzunehmendes Gespräch zu führen.«
»In Ihrer Rede auf der 1992er Abschlußfeier der Luftwaffenakademie, Dokument Sechshundertdreizehn, fiel die berühmt gewordene Bemerkung, ich zitiere: ›In einem nuklearen Konflikt müssen unsere Streitkräfte dem Feind standhalten und eine frühzeitige Einstellung der Kampfhandlungen zu für die Vereinigten Staaten vorteilhaften Bedingungen erzwingen‹, Zitatende. Was bedeutet ein ›Standhalten‹ im Atomkrieg, Staatssekretär Wengernook?«
»Es heißt, man verkraftet den Erstschlag und führt einen entscheidenden Vergeltungsschlag.«
»Wie würden Sie ein Land beschreiben, das einen atomaren Erstschlag ›verkraftet‹ hat?«
»Die industrielle Basis ist im großen und ganzen intakt, die Befehlsstruktur funktioniert, und die Abschreckung ist noch wirksam.«
»Und was ist mit der Zivilbevölkerung?«
»Ein erheblicher Prozentsatz hat überlebt.«
»Und ein erheblicher Prozentanteil ist tot. Ist es das, was Ihresgleichen als ›hinnehmbare Verluste‹ bezeichnet?«
»Gelegentlich haben wir diesen Fachausdruck benutzt.«
»Fünf Millionen Tote gelten dann als hinnehmbar?«
»Nun – je, wir hatten dabei zum Vergleich die Zahl zwanzig Millionen im Auge.«
»Welche zwanzig Millionen?«
»Die Menschenverluste, die die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg hatte.«
»Eine erschreckend hohe Zahl. Sie waren drauf und dran, den Hinnehmbare-Verluste- Wettbewerb zu verlieren.«
»Mister Wengernook«, fragte Richter Woiziechowski, »darf ich unterstellen, daß für Sie persönlich keine Verluste als hinnehmbar gegolten haben?«
»Das versteht sich von selbst.« Der Zeuge klaubte aus der ARES-Montur eine Spiegelbrille und setzte sie auf die Nase. »›Hinnehmbare Verluste‹ ist ein sehr abstrakter Begriff. Er kommt ausschließlich in Strategiediskussionen vor.«
»Ich bin ungern ein Spielverderber«, sagte Aquinas, »aber die Vereinigten Staaten haben den Atomkrieg nicht ›verkraftet‹, nicht wahr? Irgendwann hatten Sie keine Optionen mehr, die Russen haben keine vorteilhaften Bedingungen für Friedensverhandlungen vorgeschlagen, der totale Atomkrieg hat stattgefunden, und die Menschheit ist ausgerottet worden. Glauben Sie nach diesen Ereignissen noch heute, Ihre Pläne seien moralischer als die IRRE-Planung gewesen?«
»Zwischen offensiven Kriegsstrategien und präventiv-defensiven Verteidigungsplänen besteht ein himmelhoher Unterschied.«
»Ist es deshalb eine verabscheuungswürdige Vorstellung gewesen, als die Russen auf den Sieg hofften, aber eine realistische Option, als Sie daran dachten?«
»Wir mußten in der Welt leben, so wie sie war, Herr Oberstaatsanwalt, statt uns daran zu orientieren, wie wir sie gerne gehabt hätten.«
Aquinas trat so dicht vor Wengernook, daß sein Atem die Sonnenbrille des Staatssekretärs beschlug. »Aber Sie haben die Welt so eingerichtet, wie sie war! Ihr Menü strategischer Optionen hat Rußland von allen Seiten bedroht! Ihre überseeischen Streitkräfte haben es eingekreist! Ihre MultiAttack-Raketen haben es angreifbar gemacht! Ihre Omega-Raketen…!«
»›Willst du Frieden, halt dich kriegsbereit‹«, zitierte Wengernook weihevoll. »Appius Claudius der Blinde.«
»Und wenn man Krieg will, hält man sich auch kriegsbereit!«
George kannte die Szene aus Filmen: Der Staatsanwalt versuchte den Angeklagten zur Schnecke zu machen.
»Ich behaupte, daß Ihre Strategie den Russen panische Furcht eingejagt hat!« bedrängte Aquinas den Staatsekretär. »Ich behaupte, sie haben ihre einzige Hoffnung in einer blitzartigen, unerwarteten Enthauptung der amerikanischen Befehlshierarchie gesehen!«
Doch was hier lief, war kein Film. Dies war die postatomare Umwelt, in der ein Atomkrieg die Menschheit ausgerottet hatte und Staatssekretäre des Verteidigungsministeriums hart wie Vermonter Granit blieben.
»Nein, da täuschen Sie sich«, widersprach Wengernook in mattem Tonfall. »Die russische Attacke mit den Kugelblitz-Marschflugkörpern ist ohne jeden Grund geschehen.«
Inzwischen war Aquinas zum Richtertisch gegangen und deutete nun auf die davor aufgereihten, kleinen Raketenmodelle aus Eis. »Wann sollte das Wettrüsten enden, Staatssekretär?« Er gab dem Gefrierarsenal einen Tritt. »Wann?«
»Es war ein unbegründeter, naiver, sinnloser, rücksichtsloser und selbstmörderischer Überfall«, sagte Wengernook. »Jeder weiß, daß Kugelblitz-Marschflugkörper sich nicht für den Erstschlag eignen.«
»Wann?« schrie Mutter Maria Catherine aus dem Publikum.
»Wie oft kann man all diese Kriegspläne durchdenken, ohne den Drang zu verspüren, die ganze Angelegenheit endlich einfach hinter sich zu bringen?« wollte Aquinas wissen, trampelte unterdessen Tiefkühlraketen zusammen. »Wie viele Male kann man durch die Tür mit der Aufschrift ›Abschreckung‹ gehen, bis man schließlich in einem Betonbunker steht und Abschußtasten drückt?«
Wengernook riß sich die Sonnenbrille herunter. »Ich begreife die gegnerischen Überlegungen bis heute nicht. Die Kugelblitz-Marschflugkörper sind Zweitschlagswaffen. Keine Erstschlagswaffen, Zweitschlagswaffen. Ist das endlich klar?«
Während der folgenden zehn Minuten trat Aquinas Eisraketen nieder und rief rhetorische Fragen. Geduldig setzte Wengernook ihm auseinander, weshalb Kugelblitz-Marschflugkörper bei einem Erstschlag nutzlos seien, Mutter Maria Catherine ließ Luftballons steigen, auf deren Seiten sie WANN? gepinselt hatte, und Richterin Jefferson unternahm halbherzige Anstrengungen zur Wiederherstellung der Ruhe. Zuletzt verkündete der Oberstaatsanwalt mit verhärmter Miene, daß er keine weiteren Fragen an den Zeugen zu richten hatte.
Zur Anklagebank zurückgekehrt, empfingen Wengernook seitens Henkers, Randstables, Overwhites und Sparrens herzliche Glückwünsche; man schüttelte ihm nachdrücklich die Hand. Wengernook kam zu George und klopfte ihm jovial auf die Schulter. »Diese Art von Zeugenaussage muß für Sie ja furchtbar nach Fachchinesisch klingen, hm?« fragte der Staatssekretär.
»Ich habe Sie nicht beantworten hören, wie oft Sie durch die Tür mit der Aufschrift ›Abschreckung‹ gehen können«, antwortete George. Seine Bemerkung fiel im Ton schärfer aus, als er es beabsichtigte, aber während er auf seine Stimme lauschte, schwanden seine Bedenken. »Das Publikum war zu laut.«
»Landesverteidigung ist wahrlich eine schwierigere Aufgabe, als ein paar Worte auf ’n Grabstein zu meißeln, verdammt noch mal«, erwiderte Wengernook durch zusammengebissene Zähne. Ein mit WANN? beschriebener Luftballon prallte vom Panzerglasschutz der Anklagebank ab. »Sie machen morgen Ihre Aussage, oder? Denken Sie daran, wir stehen hundertprozentig hinter Ihnen.«