»Das Tribunal wird nun das Schlußplädoyer der Anklage anhören«, erklärte Shawna Queen Jefferson.
Aquinas verließ seinen Platz, schritt auf den Richtertisch zu und blieb stumm vor den Richtern stehen.
»Vor fünfzehn Milliarden Jahren«, fing er das Plädoyer an, »begann die Existenz des Kosmos. Kein Mensch weiß genau, wie oder warum, auch unsere besten Annullierten-Wissenschaftler oder -Geistlichen wissen es nicht.« Er verschlang die Arme auf dem Rücken und umrundete den Berg zersprungener Eisraketen. »Vor ungefähr dreieinhalb Milliarden Jahren ereignete sich ein zweites Wunder. Auf einem Planeten, der Erde, bildeten sich organische Moleküle. Ob das gleiche Wunder auf irgendeinem anderen Planeten geschehen ist, wissen wir nicht. Es spricht sehr vieles dagegen, daß so etwas sich überhaupt zuträgt, aber andererseits auch sehr vieles dafür.«
»Wenn er beim Urschleim anfängt«, meinte Wengernook, »kommt er frühestens in einer Woche auf uns zu sprechen.«
»Halten Sie den Mund«, sagte Overwhite.
»Organismen entwickelten sich«, sagte Aquinas. »Große Affen bevölkerten die Erde. Einige dieser Affen waren Fleischfresser, vielleicht sogar Kannibalen. Es ist wahrscheinlich, daß die menschliche Rasse von zweibeinigen, bewaffneten Primaten abstammt, die kleine Hirne hatten, gleichzeitig jedoch eine ausgeprägte Begabung zum Morden.«
George fiel auf, daß Pastor Sparren aussah, als stünde er unmittelbar vor einem Schlaganfall.
»Haust in uns eine angeborene Aggressivität?« fragte Aquinas. »War der Mißstand des atomaren Wettrüsten Symptom einer tiefersitzenden Erbsünde? Niemand weiß es. Aber selbst wenn es so gewesen ist – und ich vermute es –, dann liegt die Verantwortung für das, was wir Unmenschlichkeit zu nennen belieben, dennoch in unseren blutbesudelten Händen. Die Mörderaffen-Hypothese bestimmt kein Schicksal voraus, sie gibt einen Rückblick, den man wie eine Fabel verstehen muß. Seid auf der Hut, warnt sie uns. Vorsicht. Es droht Gefahr. Hier sind Massenvernichtungswaffen in den Händen von Geschöpfen, die sich im Frieden langweilen.«
»Ich glaube, ich muß kotzen«, sagte Henker.
»Aber die Fabel ist nicht beachtet worden, und die Waffen hat man nicht beseitigt. Und so kam dann zur kalten Weihnachtszeit der Tod über eine bewundernswerte Spezies, eine Spezies, die Sinfonien komponierte, aus der Leonardo da Vinci hervorging, die zu den Sternen geflogen wäre. Es hätte nicht so kommen müssen. Um es zu vermeiden, wären nur drei Tugenden vonnöten gewesen: Kreative Diplomatie, technische Innovatitivität und moralische Empörung. Ab davon am bedeutsamsten stufe ich die Fähigkeit zu moralischer Empörung ein.«
»So ein selbstgerechter Friedensengel wie er hätte das alles am dringendsten gebraucht«, polemisierte Henker.
»Und zwar nicht zu knapp«, stimmte Wengernook zu.
»Halten Sie den Mund«, sagte Overwhite.
»Im Laufe der vergangenen zwanzig Tage ist uns in den heiligen Hallen dieses Justizpalasts eine seltsame Welt beschrieben worden«, rief Aquinas. »Eine Welt, in der man Gefahr als Sicherheit verniedlicht, Vernichtungswillen als Strategie verharmlost, Angriffsabsichten als Verteidigung tarnt, die raffinierte Durchsetzung der Eigeninteressen als Friedensverhandlungen ausgibt und Apparate des Chaos und ökologischen Grauens mit der Bezeichnung ›Waffen‹ herunterspielt.«
»Und wo man korrupte Femegerichte Tribunale nennt«, sagte Henker.
»Es ist die Welt Generalmajor Tarmacs, genannt HOPPEL-Häschen, der glaubte – im Namen der Bomber, der Atomraketen-U-Boote und der landgestützten Interkontinentalraketen, Amen –, die Heilige Dreifaltigkeit der Triadischen Landesverteidigung bedeutete für Amerika das Heil. Es ist die Welt Brian Overwhites, des Lieblingsabrüstungsunterhändlers der Rüstungsindustrie, der während seiner ganzen Karriere Washington nie von irgendeinem gewünschten Waffensystem abgeraten hat. Es ist die Welt William Randstables, des Weltuntergangs-Eierkopfs, dessen ›intelligente‹ Sprengköpfe nur eine weitere Kugel in dem Revolver verkörperten, mit dem die Menschheit, wenn Sie den Ausdruck verzeihen, sich beim Russischen Roulette vergnügte. Es ist die Welt Kiefer Sparrens, des Dschingis Khans der Massenmedien, der Amerika dazu bringen wollte, seine moralische Überlegenheit über den Gegner dadurch nachzuweisen, daß es so wie er werden, die wirtschaftlichen Zustände und die Mentalität einer Militärdiktatur annehmen sollte. Es ist die Welt Robert Wengernooks, des Arithmetikers der hinnehmbaren Verluste, der vergessen hat, daß eine so wissensdurstige Lebensform wie der Homo sapiens keine Kriegspläne, nicht einmal Pläne für Ausrottungskriege, erarbeiten kann, ohne irgendwann den Drang zu verspüren, endlich festzustellen, wie gut sie funktionieren.
Und es ist die Welt George Paxtons, eines Normalbürgers, der von allen vielleicht die schwerste Schuld trägt. Jeden Abend ging er in dem Bewußtsein zu Bett, daß die Völker der Menschheit sich gegenseitig mit Atomwaffen bedrohten. Jeden Morgen stand er mit dem Wissen auf, daß die Waffen noch bereitstanden. Trotzdem hat er nie nur eine einzige Maßnahme ergriffen, um die Gefahr zu bannen.«
Haben Bonenfants Mitarbeiter einen Geierexperten aufgetrieben? erkundigten sich Georges Spermatiden. Ich weiß es nicht, antwortete er ihnen.
»Hohes Gericht, Ihnen obliegt es in diesem Prozeß, ein Urteil zu fällen. Ihr Beschluß wird das letzte Kapitel der Menschheitsgeschichte sein. Es wird dennoch höchste Bedeutung haben. In der Tat ist keineswegs die spekulative Annahme unsinnig, daß außerhalb des Sonnensystems eine andere intelligente Spezies dieses Gerichtsverfahren beobachtet, um abzuklären, welchen Zweck Atomwaffen eigentlich haben. Deshalb beschwöre ich Sie, Ihre Füllfederhalter mit Ihrem schwarzen Blut zu füllen und diesen kosmischen Lauschern mitzuteilen, daß Atomwaffen dreifache Ernte einbringen: Geistigen Verfall, Selbstbetrug und Tod. Vielleicht sollten wir Ihr Urteil in einer Kapsel im antarktischen Eis vergraben, damit in einem Jahr, in zehn Jahren oder einem Jahrhundert ein Milchstraßenreisender es findet und daraus ersieht, daß wir trotz all unserer Liebe zur Gewalt im letzten Moment doch noch dazu imstande waren, zu den Wasserstoffbomben nein und ja zum Leben zu sagen.«
»Ob er sich diesen ganzen Stuß selber ausgedacht hat?« fragte Henker.
»Die Werbetexter sind alle tot«, sagte Wengernook.
»Halten Sie doch endlich den Mund«, murrteGeorge.
»Während wir nicht mit Sicherheit wissen, an wen unser Urteil sich wendet«, sagte Aquinas, »wissen wir sehr wohl, für wen es spricht. Es spricht für die Tausenden, die hier im Gerichtssaal sitzen, für die vielen, die draußen auf dem Gletscher ausharren. Es spricht für die Weltgeschichte, alle jene, die darum gerungen haben, aus diesem Planeten einen Hort der Kunst und Gelehrtheit zu machen. Und es spricht für eine Bevölkerung, die wir aufgrund unseres Selbstmitleids bisweilen vergessen: Ich meine die fünf Milliarden Männer, Frauen und Kinder, die bei dem kürzlichen atomaren Holocaust verglüht und lebendig verbrannt, verstrahlt, zermalmt und erstickt, die anschließend verhungert und an Krankheiten gestorben sind. Ihr Blut schreit zum Himmel, aber ihre Stimme ist nicht zu hören. Leihen Sie ihnen eine Stimme, Hohes Gericht. Leihen Sie ihnen Ihre Stimme.«
*
AQUINAS HIELT ABGESANG AUF DAS MENSCHENGESCHLECHT, stand am Nachmittag auf dem Mount Christchurch zu lesen.
*
»Das Tribunal wird nunmehr das Schlußplädoyer der Verteidigung anhören«, sagte Richterin Jefferson.
George bemerkte, daß Bonenfants Tisch sich nahezu gänzlich geleert hatte; Dennie war fort, Parkman auch, und auf dem Tisch lag nur noch ein Schriftstück.
»Denken Sie dran, was er uns im U-Boot anvertraut hat«, flüsterte Henker. »Er hat ein, zwei Tricks in Reserve.«
»Zwei wären mir lieber«, sagte Wengernook.
»Am besten einen legalen und einen illegalen Trick«, sagte Randstable.
»Hohes Gericht«, leitete Bonenfant sein Plädoyer ein, »ich halte dafür, daß trotz aller schnörkelreichen Elegien meines geschätzten Kollegen die Frage, über die Sie entscheiden müssen, eine ganz einfache Sache ist. Hatten diese sechs Männer die Absicht, einen Krieg anzuzetteln, oder hatten sie vor, den Frieden zu bewahren? Ihr Ziel war, wie wir ersehen haben, der Friede. Während des gesamten, ausgedehnten Kreuzverhörs ist keine Tatsache deutlicher geworden. Wir können unmöglich außer acht lassen, daß meine Mandanten nicht darum gebeten haben, Nuklearwaffen zur Verfügung gestellt zu erhalten. Sie wollten gar nicht in einer Welt voller so furchtbarer Waffen leben. Aber sie mußten in dieser Welt, mußten mit der Bedrohung der Freiheit durch den russischen Kommunismus leben. Ich frage Sie, Hohes Gericht, hätte jemand von Ihnen sich in der Situation der Angeklagten anders als sie benommen? Wir alle wissen, daß es nicht gelungen ist, den Frieden zu bewahren. Im Verlauf des Prozesses ist der Mechanismus der Friedensbewahrung – die Politik der Abschreckung durch ein strategisches Gleichgewicht – als selbstzerstörerisch diffamiert worden. Beim Kreuzverhör meines Mandanten Robert Wengernook hat der Oberstaatsanwalt sich sogar dazu hinreißen lassen, die Anschuldigung zu äußern, meine Klienten hätten eine so übertriebene Abschreckungspolitik verfolgt, daß Rußland regelrecht zum selbstmörderischen Akt eines Erstschlags mit Zweitschlagswaffen genötigt worden sei. Erlauben Sie mir, das als ein höchst unwahrscheinliches Szenario abzutun. Es ist verrückt, reine Phantasterei, eine Hirnverbranntheit… Und es hat sich in Wirklichkeit auch nicht so ereignet. Das kann von mir bewiesen werden.«
Ein Keuchen hallte wie tausend eisige Böen durch den Gerichtssaal. Die Mount-Christchurch- Berichterstatter lehnten sich am Pressetisch über die Brüstung.
»An diesem Zeitpunkt des Verfahrens wäre es sehr ungewöhnlich, noch jemanden in den Zeugenstand zu schicken. Trotzdem ist es genau das, Hohes Gericht, was ich vorschlage. Denn es gibt in diesem Fall einen siebten Angeklagten, einen Angeklagten, der statt meiner Mandanten hätte vor Gericht gestellt werden müssen.«
Das Keuchen ging über in das vielstimmige Raunen eines Was? in fünfzig Sprachen.
»Gerichtsverhandlungen gegen Tiere blicken auf eine lange Geschichte zurück. Platons Gesetze enthalten die Weisung, daß im Falle ›ein Zugvieh oder sonst ein Tier jemanden tötet‹, ›die Anverwandten das Tier, das getötet hat, wegen Mordes verfolgen‹ sollen. Im Zweiten Buch Mose steht: ›Wenn ein Rind einen Mann oder eine Frau so stößt, daß sie sterben, dann soll das Rind gesteinigt werden!‹ Aber bis auf den heutigen Tag hat kein Staatsanwalt das Tier angeklagt, das meine Mitarbeiter dem Hohen Gericht nun präsentieren werden.«
Ein lautes, schrilles Skriii durchtönte den Gerichtssaal, das durchdringende Kreischen von Rädern, die sich um Achsen drehten. Dennie und Parkman boten ihre vollen, jugendlichen Annulliertenkräfte auf, um einen großen Holzkarren vorwärtszurollen.
Auf dem Karren stand ein Eisenkäfig.
In dem Käfig saß ein riesiger Geier.
»Am ersten Tag des Krieges habe ich eine Geierjagd unternommen«, erläuterte Bonenfant, »und diese Kreatur von Neuschottland nach Massachusetts verfolgt. Unweit des Heimatorts meines Mandanten George Paxton habe ich sie gefangen und mich danach mit ihr an Bord des U-Boots Donald Duck begeben, vormals New York City.«
Aquinas schäumte wie ein vergessener Topf Milch auf heißem Herd. »Hohes Gericht, wir befinden uns in einem Gerichtssaal und nicht im Zoo! Egal welche Relevanz Mister Bonenfants feistem Vogelvieh beizumessen sein soll – ich sehe keine –, es wird viel zu spät präsentiert, als daß es noch zur Verhandlung zugelassen werden dürfte!«
»Ich bitte das Hohe Gericht um Nachsicht«, sagte Bonenfant, nahm behutsam das einzige Schriftstück, das noch auf dem lisch der Verteidigung lag, und händigte es Dennie aus. »Vor zwei Tagen hat meine engste Mitarbeiterin sich auf eine mühevolle Wanderung den Gletscher hinauf gemacht. Sie hat jemanden gesucht. Heute morgen hat sie die gesuchte Person gefunden. Hohes Gericht, die Verteidigung hat die Ehre, Ihnen eine Aussage eines gewissen Dr. Laslo Prendergast vorzulegen, eines Bewohners der Südpol-Gehenna Neunhundertfünf, Annullierten-Ornithologen und hypothetischen Nobelpreisträgers, der Antarktikas hervorragendster Geierexperte ist.«
»Leider hatten wir nicht mehr die Zeit, um eine Abschrift anfertigen zu lassen«, merkte Dennie an, als sie das Dokument Richterin Jefferson übergab.
»Dr. Prendergast hat das fragliche Exemplar untersucht und unseren Verdacht bestätigt«, sagte Bonenfant. »Im späten Pleistozän hat in Nordamerika eine Geierart mit Zugvogelgewohnheiten und den Anlagen zu sehr schnellem Fliegen gelebt – der Teratornis, dessen Abart Argentavis magnificens der größte jemals lebende Vogel gewesen ist. Die Wissenschaft des zwanzigsten Jahrhunderts vertrat die Ansicht, daß alle Teratornis, eingeschlossen der gewaltige Argentavis magnificens, ausgestorben seien. Doch die Forscher hatten sich getäuscht. Ein kleiner, vermehrungsfähiger Bestand von Argentavis magnificens hatte überlebt. In seiner Aussage verweist Dr. Prendergast auf einen ähnlichen Vorgang bezüglich eines Coelacanthus genannten Fischs, der in der Kreidezeit ausgestorben sein sollte. 1938 ist vor der Südostküste Afrikas ein lebender Coelacanthus gefangen worden. Sein angebliches Ausgestorbensein war nur eine durchaus irrige Lehrmeinung.«
Richter Woiziechowski lächelte. Der Teratornis beknabberte die Gitterstangen des Käfigs mit seinem Baggerlöffelschnabel, rüttelte daran mit seinen krummen, verdrehten, abgestoßenen Krallen.
Bonenfant schnippte mit den Fingern; Parkman suchte einige Unterlagen aus dem Aktenkoffer des Verteidigers und brachte sie den Richtern.
»Hohes Gericht, wir legen Ihnen eine neue Ausfertigung des vom Ankläger eingereichten Dokuments Dreihundertachtzehn vor, des Ausdrucks eines nördlichen Luftverteidigungs-Computers, auf dem Größe, Geschwindigkeit, Radarsignaturen und Flugbahnen der Objekte verzeichnet stehen, die den Nuklearkonflikt ausgelöst haben. Überflogen diese Objekte Kanada in Richtung Washington? Ja. Hatten sie die Umrisse russischer Kugelblitz-Marschflugkörper? Ja. Aber…«
Kurz schwieg Bonenfant, bewegte die Hände durch die Luft, als flögen auch sie. »Aber waren es russische Kugelblitz-Marschflugkörper? Nein! Es handelte sich um einen Schwarm – zugegeben! – zwar häßlicher, aber vollkommen harmloser Geier, die sich auf ihrem jährlichen Wanderflug von Neufundland zur Halbinsel Yucatan befanden. Sollten Sie meine Angabe bezweifeln, beachten Sie bitte die letzte Seite des Dokuments. Dort sehen Sie eines der zur Bestätigung der Luftabwehr-Beobachtungen aufgenommenen Satellitenfotos. Was man darauf erkennen kann, ist kein Marschflugkörper, Hohes Gericht. Es ist ein Geier. Man kann sogar Blutflecken an seinem Schnabel unterscheiden.«
Aquinas sprang von seinem Platz auf. »Hohes Gericht, wie lange sollen wir uns diese lächerliche Darbietung noch zumuten lassen?«
Richterin Jefferson schob ihre Brille auf dem Nasenrücken auf und ab, während sie Dokument 318 durchschaute. »Ihre Ermittlungsergebnisse sind außerordentlich interessant, Mister Bonenfant, und das Gericht erachtet sie als zur Verhandlung zulässig, aber wie lautet Ihre daraus abgeleitete Schlußfolgerung?«
»Schlicht und einfach so: Die militärische Abschreckung hat nicht versagt. Der Krieg ist durch eine Laune der Natur ausgebrochen. Hätte der Teratornis-Schwarm an dem bewußten Samstagmorgen eine etwas abweichende Flugroute genommen, wäre er – so wenig wie bei vielen vorangegangenen Malen – vom Luftverteidigungs-Frühwarnsystem nicht erfaßt worden, und das nukleare Gleichgewicht wäre intakt geblieben. Meine Mandanten haben keine Verbrechen am Frieden geplant und keine derartigen Verbrechen verübt. Die militärische Abschreckung hat sich bewährt, Hohes Gericht. Sie hat sich bewährt.«
»Sie hat sich bewährt«, wiederholte Henker.
»Sie hat sich bewährt«, sagte Wengernook.
»Sie hat sich bewährt«, lallte Overwhite.
»Sie hat sich bewährt«, sagte Randstable.
»Amen«, rief Pastor Sparren.
»Mehr habe ich nicht vorzutragen«, beendete Bonenfant sein Plädoyer.
Versonnenen Blicks musterte Richterin Jefferson den übelriechenden Vogel – George hatte den Eindruck, daß ihr Blick Bände der Weisheit und des Mitgefühls spräche – und verkündete, das Gericht zöge sich nun zur Beratung und Urteilsfindung zurück.
*
Und so verwandelte der eisige südpolare Kontinent sich gewissermaßen in eine Arztpraxis, in dessen Wartezimmer der letzte Überrest der Menschheit ruhelos des Bescheids über den Befund harrte, ob sein kollektiver Fall tödlich sei, oder nicht.
Bösartige Sadistenzellen in Georges Gehirn wiederholten immer wieder seine Aussage, quälten die für Schuldgefühle zuständigen Hirnzonen mit Bruchstücken der Äußerungen, die er hätte von sich geben können. Hätte ich von Justine erzählen, erwähnen sollen, daß sie sofort intuitiv durchschaut hat, wie wenig die ARES-Monturen taugten? Hätte ich mehr über Holly reden müssen? Das elektrische Pferd schildern sollen, das Gespräch über den Großen Wagen, die Mary-Merlin-Puppe daheim im Schrank? Auf alle Fälle wäre es anständig gewesen, die guten Seiten meiner Mitangeklagten stärker in den Vordergrund zu stellen…
Er stapfte in seiner Zelle auf und ab, schrammte eine Rinne ins Eis des Fußbodens.
Weshalb kommt deine zukünftige Ehefrau dich nicht besuchen? fragten ihn seine Spermatiden.
Erführen die Richter es, erklärte er ihnen, wüßten sie, daß ich ihr etwas bedeute.
Natürlich, sagten die Spermatiden. Ja freilich. Aber warum kommt sie nicht trotzdem zu Besuch?
Keine Ahnung, gab George zu.
Im Zeugenstand hat sie geredet, als ob sie dich nicht liebt.
Das war nur, um unsere Verteidigung zu begünstigen.
*
BERATUNG DES GERICHTS NOCH IN GANG, teilten die Steilhänge des Mount Christchurch den versammelten Annulliertenlegionen mit.
*
»Das Spiel wird mit sieben Karten gespielt«, sagte Overwhite.
»Wahrscheinlich berufen sie sich auf Paxtons Aussage«, meinte Henker. »Bestimmt hat das viele Geschwafel über untaugliches Gedankengut ihnen Flausen in den Kopf gesetzt.«
»Und uns die Schlinge um den Hals gelegt«, schmollte Wengernook.
»Ich habe mich nur an die Wahrheit gehalten«, sagte George.
»Lassen Sie ihn in Ruhe«, forderte Overwhite von den anderen. Er drückte Georges Hand. »Es tut mir leid, daß Sie das alles über Ihre Kleine mitanhören mußten.«
»Ist schon gut«, gab George zur Antwort. »Nein«, nahm er dann es zurück, »ist es nicht.«
»Auch Krieg hat immer seine menschlichen Seiten«, sagte Henker.
»Glauben Sie, daß die Vorführung des Geiers auf Jefferson und das übrige Gericht seine Wirkung gehabt hat?« fragte Overwhite.
»Eindeutig«, versicherte Wengernook.
»Das war ein exzellenter Schachzug Bonenfants«, sagte Randstable. »Absoluter Volltreffer.«
»Er hat bewiesen, daß man nicht in einen Krieg hineinschlittert, bloß weil man militärisch stärker als vielleicht nötig ist«, erklärte Henker.
»As«, rief Randstable.
»Ein Pinguinei«, sagte Wengernook.
»Zwei«, erhöhte Overwhite.
»Wir sollten froh sein«, äußerte Henker. »Es ist ein gutes Zeichen, wenn ein Gericht so lange Zeit für seine Beratung braucht.«
»So ist es nur im Film«, entgegnete Wengernook.
»Das ist gar kein ordentliches Gericht«, sagte Overwhite.
»Im Film sind wir hier aber auch nicht«, stellte George fest.
»Erhöhen Sie«, verlangte Henker.
*
GERICHT VERKÜNDET HEUTE URTEIL, hieß es am Mount Christchurch.
*
Die letzte Woche an der Schule, der letzte Sommertag am Meer, die letzte Stunde einer langen Zugfahrt – all dieser Erlebnisse konnte George sich entsinnen. Bei jedem hatte die bewußte Örtlichkeit sich einer Veränderung unterzogen, sich von ihm abgesetzt, noch während er sich anschickte, sich von ihr abzusetzen. Nahezu einen Monat lang war das Eispalast-Gerichtsgebäude sein Zuhause gewesen, doch nun nahm er wieder die Erhabenheit und Fremdheit an, die er für ihn am ersten Tag gehabt hatte.
Die Richterinnen und Richter defilierten bedächtig herein, ihre schwarzen Talare schienen die ölige Düsternis aufzusaugen, jedes Mitglied des Gerichts schnitt eine Miene, mit der es sich durch tausend Pokerrunden hätte bluffen können. Shawna Queen Jefferson, die ein beträchtlich dickes Bündel Papier und eine Biografie Abraham Lincolns unterm Arm trug, murmelte vor sich hin. Theresa Gioberti wirkte unzufrieden, Jan Woiziechowski tiefsinnig, Kamo Yoshinobu traurig.
Sie nahmen hinter dem Richtertisch Platz.
Eine kalte, gedämpfte Stille wie in einem Planetarium herrschte im Gerichtssaal. Georges Blick schweifte durchs Publikum, er betrachtete die Gesichter, die Schilder. Ja, da zwischen LASST UNS EIN und LEIHT IHNEN EURE STIMME saß sie, Aubreys Mutter. Georges Spermatiden sehnten sich nach dem Südpol und der Kraft, die sie, wie sie wußten, dort finden konnten.
Am Tisch der Verteidigung hielten Bonenfant, Dennie und Parkman sich an den Händen.
Richterin Jefferson holte die Walbeinbrille aus der ARES-Montur und setzte sie auf die Nase. Sie breitete die Unterlagen vor sich aus und suchte ein Papier hervor.
»Ich will mit der Feststellung anfangen, daß nach Meinung des Tribunals die Doktrin der militärischen Abschreckung ihre Wirksamkeit, Glaubwürdigkeit und Gültigkeit behält.«
Ein überlautes, spontanes »NEIN!« donnerte aus dem Publikum. Die Richterin drosch ihren Hammer auf den Richtertisch, daß die Eissplitter nur so umherstoben.
»Obwohl man unter der letzten Regierung der Vereinigten Staaten an ihr mehrere kritikwürdige Abwandlungen vornahm, ließ sich der Doktrin der militärischen Abschreckung soviel Beweglichkeit zusprechen, daß sie sowohl Argumente für eine Aufstockung des amerikanischen Atomwaffenbestands wie auch für eine Reduzierung lieferte.«
Auf Dennies unglaublich schönem Gesicht erschien plötzlich ein Lächeln.
»Ist ja toll!« entfuhr es Wengernook.
»Kameraden, wir haben es durchgestanden«, sagte Henker.
»Alles was sie wollten«, sagte Overwhite, »war eine Erklärung.«
»Wir stimmen Mister Bonenfants Auffassung zu, daß die militärische Abschreckung hätte beibehalten werden können, bis die Atommächte es überdrüssig geworden wären, ihre sinnlosen Arsenale zu warten und sie schließlich verschrottet hätten«, sagte Shawna Queen Jefferson. »Und wir sind der gleichen Meinung wie der Angeklagte Randstable, daß nämlich die Sprengköpfe möglicherweise durch eine Art von technischer Evolution abgeschafft worden sein könnten.«
Erst nachdem das Aufstöhnen und die Pfiffe des Publikums verstummt waren, sprach die Richterin weiter.
»In seinem Schlußplädoyer hat der Verteidiger uns mit einer entscheidenden Frage konfrontiert: Was hätten wir an der Stelle seiner Mandanten getan? Eine berechtigte Frage. Eine quälende Frage… Es ist sonderbar, aber Mister Aquinas hat einen Fehler begangen, als er die Modelle der Waffensysteme als Beweismaterial der Anklage präsentierte. Denn wir mußten an uns beobachten, daß von einer derartigen Technik, ob sie nun aus Eis geformt ist oder aus Metall besteht, eine furchtbare Faszination ausgeht. Wie wir uns eingestehen mußten, hätten wir gesagt: ›Ja, gebt uns diese sinnlich-beschwingten Raketen, diese stählernen Schiffe, diese wunderbaren Flugzeuge und so intelligenten Sprengköpfe. Gebt sie uns, und wir haben die Gewißheit, daß niemand es wagt, uns anzugreifen.‹ Also hätten auch wir in vollem Umfang und voller Stärke die Triade der Landesverteidigung gehabt.«
Randstable und Wengernook hoben einander den emporgestreckten Daumen entgegen. Overwhite und Sparren überwanden ihre Meinungsverschiedenheit über STIRB II und schlossen sich in die Arme. Henker hielt George seine knochige Rechte hin; George drückte die Hand.
Dann nahm Shawna Queen Jefferson, nachdem sie einen Schluck Kakao getrunken hatte, die Brille ab und legte sie mit einem hörbaren Klack auf den Richtertisch. »Aber nicht wir vier Richterinnen und Richter sind es, über die hier ein Urteil zu fällen ist«, sagte sie rasch und in markigem Ton. »Vielmehr sind es die sechs Angeklagten«, konstatierte sie und fügte halblaut hinzu: »Gott sei Dank.«
Sie schlug die Lincoln-Biografie auf, befeuchtete mit der rosa Zunge ihren schwarzen Daumen, blätterte mehrere Seiten um. »Abraham Lincoln hat am ersten Dezember 1862 in einer Mitteilung an den Kongreß der Vereinigten Staaten geschrieben: ›Die Dogmen der beschaulichen Vergangenheit sind unbrauchbar in der stürmischen Gegenwart. Bei den heutigen Ereignissen türmen sich die Schwierigkeiten hoch empor, und wir müssen an den Umständen wachsen, um die Schwierigkeiten zu meistern. Weil unsere Sache neu ist, müssen wir auf neue Art denken und auf neue Weise handeln. Wir müssen uns vom Alten lösen…‹« Sie knallte das Buch zu. »Meine Herren Angeklagten, Sie wissen so gut wie ich, daß die große Menge der dem Gericht beigebrachten Aufzeichnungen nur eine Interpretation erlaubt. Es ist wahr, daß Ihre Verbrechen den äußerlichen Schein der Legalität haben. Es stimmt, daß Sie sie unter Umständen verübt haben, die es Ihnen erschwerten, dabei die Einsicht zu gewinnen, unrecht zu tun. Auch ist es wahr, daß Sie bemüht gewesen sind, die schlimmsten Ausuferungen der Folgen des Wettrüstens zu vermeiden. Aber Sie sind an der Herausforderung nicht gewachsen. Sie haben sich keine neuen Gedanken gemacht. Sie haben sich nicht vom Alten gelöst… Und Sie haben nicht mit dem Geier gerechnet. Meine Herren, es gibt immer einen Geier. Die Weltgeschichte ist voller Geier. Wenn Sie einen ganzen Planeten in ein Minenfeld verwandeln, können Sie nicht ›Non mea culpa‹ rufen, sobald ein fehlerhafter Computerchip, ein falsch gespeichertes Kriegsszenario, ein Atomterrorist, ein Möchtegern-Napoleon, eine nicht mehr managebare Krise oder irgendein unbegreiflicher Zufall gewissermaßen gegen den Stolperdraht rennt. Sie können sich nicht damit herausreden, Sie hätten sich einfach nur an die Verfassung gehalten oder Ihren Führern gehorcht. Um Hannah Arendt zu zitieren: >Denn wenn Sie sich auf Gehorsam berufen, so möchten wir Ihnen vorhalten, daß die Politik ja nicht in der Kinderstube vor sich geht und daß im politischen Bereich der Erwachsenen das Wort Gehorsam nur ein anderes Wort ist für Zustimmung und Unterstützung.<«
Bonenfant zitterte, als ob seine ARES-Montur ihn nicht mehr wärmte. Zorn und Enttäuschung machten Dennies reizend-nettes Gesicht häßlich.
»Zustimmung«, wiederholte Richterin Jefferson. »Sie ist es, aus der Ihre Schuld besteht. Alles in allem läuft sie auf folgendes hinaus: Jeder von Ihnen hat auf seine Weise Ihre Regierung dazu ermutigt, Technologie und Technik des Massenmords zu kultivieren, und in der Konsequenz hat jeder von Ihnen eine Politik des Massenmords unterstützt.«
George schaute Morning an und wurde sich dessen bewußt, daß er noch nie irgend jemanden von weitem hatte weinen sehen. Er spürte seine Spermatiden vor Muffensausen schlottern.
»Mir persönlich«, setzte Richterin Jefferson ihre Erklärung fort, »wäre nichts lieber, als sagen zu dürfen: ›Meine Herren, es hat genug Gemetzel stattgefunden, darum haben wir den Beschluß gefaßt, Ihren Schandtaten mit Liebe zu begegnen.‹ Gerne würde ich sagen: ›Sie sind frei und dürfen Ihr Leben beschließen, so gut Sie es hier in der Antarktis können.‹« Für einen Moment senkte sie den Kopf. Als sie aufblickte, glitzerten in ihren Wimpern Tränen. »Aber ich kann es nicht sagen, weil das Tribunal heute die Pflicht hat, aller Schöpfung zu verdeutlichen, daß wir verabscheuen, was Sie getan haben, und um dies zu erreichen, wissen wir nur ein Mittel.«
Parkman verließ den Tisch der Verteidigung, warf in einer Geste der Verachtung die Hände in die Höhe und stapfte aus dem Gerichtssaal.
»Angeklagter Overwhite, bitte stehen Sie auf«, sagte Richter Woiziechowski. »Mister Brian Overwhite, das Gericht hat Sie in allen vier Anklagepunkten als schuldig befunden und verhängt gegen Sie das Urteil, morgen bei Sonnenaufgang den Tod durch den Strang zu sterben.«
»Ich dachte, Sie wollten nur ’ne Erklärung«, stammelte Overwhite.
»Angeklagter Randstable, bitte stehen Sie auf«, sagte Richter Yoshinobu. »Dr. William Randstable, das Gericht hat Sie in allen vier Anklagepunkten als schuldig befunden und verhängt über Sie das Urteil, morgen bei Sonnenaufgang den Tod durch den Strang zu sterben.«
»Wenn Sie die Bemerkung gestatten, Euer Ehren«, entgegnete das Ex-Wunderkind, »das ist der krasseste Justizirrtum, von dem ich je gehört habe.«
»Angeklagter Sparren, bitte stehen Sie auf«, sagte Richterin Gioberti. »Pastor Kiefer Sparren, das Gericht hat Sie in allen vier Anklagepunkten als schuldig befunden und verhängt über Sie das Urteil, morgen bei Sonnenaufgang den Tod durch den Strang zu sterben.«
Der Prediger zog die kleine Bibel aus seinem dreiteiligen Anzug und küßte sie. »›Seht‹«, zitierte er mit großer Würde, »›ich bin mit euch alle Tage bis an der Welt Ende.‹«
»Angeklagter Tarmac, bitte stehen Sie auf«, sagte Richter Woiziechowski.
»Hier zeichnet sich eine Tendenz ab«, murmelte HOPPEL-Häschen.
»Generalmajor Tarmac, das Gericht hat Sie in allen vier Anklagepunkten als schuldig befunden und verhängt über Sie das Urteil, morgen bei Sonnenaufgang den Tod durch den Strang zu sterben.«
Durch pantomimische Gebärden gab Henker seine Ansicht zu verstehen, Richter Woiziechowski sollte gegen seinen Willen einer unerfreulichen sexuellen Handlung unterworfen werden.
»Angeklagter Wengernook, bitte stehen Sie auf«, sagte Richter Yoshinobu.
Der Staatssekretär des Verteidigungsministerium stand nicht auf. Seine Augen wirkten, als wären sie mit Wachs umhüllt. Seine Hände zitterten wie frierende Taranteln. Gila Guizot betrat die Glaskabine und zerrte ihn auf die Beine.
»Mister Robert Wengernook, das Gericht hat sie in allen vier Anklagepunkten als schuldig befunden und verhängt über Sie das Urteil, morgen bei Sonnenuntergang den Tod durch den Strang zu sterben.«
Gila stieß den Angeklagten zurück auf seinen Sitz.
Henker hat recht, dachte George. Eine deutliche Tendenz ist erkennbar. Aber mich betrifft sie nicht. Ich habe zuviel Glück. Krebs? hatte der Hausarzt gefragt. Ach was, das ist nur Narbengewebe. Und Justine: Ja, ich heirate dich, hatte sie geantwortet. Klar, Sie können die Stelle haben, hatte Arthur Crippen gesagt.
»Angeklagter Paxton, bitte stehen Sie auf«, ertönte Richterin Jeffersons Stimme.
Ich bin ein Überleber, dachte George. Atomkrieg, Strahlenverseuchung, Ausrottung der Menschheit, alles geht an mir vorüber.
George merkte, wie er aufstand; daß er stand, Morning ihn aus feuchten Augen anschaute.
Positiv, George! Der Schwangerschaftstest war positiv!
»Mister George Paxton, das Gericht hat Sie…«
Kein Grund zur Sorge, liebe Leutchen, jeder Säugling hat mal ’ne Ohrentzündung.
»… als unschuldig befunden…«
Unschuldig!
»…in Anklagepunkt Eins, Verbrechen gegen den Frieden, in Anklagepunkt Zwei, Kriegsverbrechen, in Anklagepunkt Drei, Verbrechen gegen die Menschheit…«
Aubrey, Morning, wir haben es geschafft!
»In Anklagepunkt Vier, Verbrechen an der Zukunft, hat das Gericht Sie als schuldig befunden und verhängt über Sie das Urteil, morgen bei Sonnenaufgang den Tod durch den Strang zu sterben.« Sichtlich zog Richterin Jefferson die Schultern ein. »Es tut mir leid, Mister Paxton. Sie sind uns nicht unsympathisch gewesen.« Ihr Hammer traf den Richtertisch ein letztes Mal. »Damit ist das Internationale Militär- und Ziviltribunal beendet.«