Morning las das letzte Kapitel von Tanja Kitchs Im Herzen brennt die Sehnsucht zu Ende, schloß das Buch und seufzte, ohne daß ihr Aufseufzen eine tiefere Bedeutung gehabt hätte.
Ehe das Ende der Welt ihre Karriere vorzeitig abbrach, hatte Tanja Kitch in wildentschlossener Schreibwut über dreihundert Titel zum Liebesroman-Genre beigesteuert. Im Herzen brennt die Sehnsucht las sich inhaltlich so falsch, wie es Olaf Sverres linkes Auge war, aber weil der Roman von der Liebe einer Frau zu einem Mann erzählte, hatte er Morning trotzdem gerührt. Die treuherzige Vielschreiberin hatte ihr aufgezeigt, daß ihre Gefühle für George – sein rauhes Äußeres und seine täuschend gimpelhafte Persönlichkeit – eindeutig als Verliebtheit eingeschätzt werden mußten.
»Du bist einer von denen, oder?« fragte er, kaum daß er ihr Behandlungszimmer betreten hatte.
»Denen?«
»Den Annullierten. Ich liebe einen Schatten.«
»Ich bin ein Mensch«, sagte Morning. »Ich bin ein Mensch, du liebst deine tote Frau, und ich bin nicht sie.«
George stieß ein heftiges, wüstes Aufstöhnen aus. Wozu wäre es gut, über Justine zu diskutieren? War es nicht vielmehr ihre Pflicht, sich auf die Zukunft zu konzentrieren? »Soll ich etwa glauben, es hätte in der Antarktis keine Annullierten-Therapeuten gegeben? Daß sie Unterstützung von außen holen mußten?«
»Die Verfasser der McMurdo-Konvention haben von der Problematik des Überlebenstraumas nichts geahnt. Als sie in Chicago Randstable kidnappten, habe ich ihnen meine Dienste angeboten. Ich hatte ein Vorstellungsgespräch bei Sverre. Er hat mich sozusagen angeheuert. Ohne Bezahlung, aber mit der Gegenleistung, daß ich mein Leben, so wie’s kommt, bis zum Schluß leben darf.«
Sie nahm das Opfermesser von der Wand und hielt die Schneide an ihr Handgelenk.
»Mein Blut ist so rot wie deins, George. So rot wie das Blut der Unschuldigen, denen man mit diesem Messer das Herz herausgeschnitten hat.«
George dachte an den Schmerz, den sie empfände, wich zurück. »Nicht. Ich hab in letzter Zeit genug Blut gesehen.«
Sie war ein Mensch.
Ein Mensch… Und eine Art von Prostituierter.
»Wie kannst du für diese… diese Abgetriebenen arbeiten?«
»Ich verdanke ihnen mein Überleben. Genau wie du.«
»Sie kotzen mich an.«
»Sie konsultieren mich. Sie sind, wie du dir vielleicht denken kannst, gequälte Wesen. Die hohe Zahl der Fälle ist für mich eine schier unverkraftbare Arbeitsbelastung. Ich versuche mein Bestes. Ich höre ihnen zu, aber ich kann ihnen nicht geben, was sie möchten.«
»Und das wäre…?«
»Erinnerungen. Echte, richtig starke, lebhafte Erinnerungen. Sie erzählen mir über ihre Geliebten, Freunde, Werdegänge, Neigungen, aber für sie ist alles so, als hätte jemand anderes es erlebt. Oberstabsbootsmann Sparks hätte gerne von mir vermittelt, wie Musik wirklich gewesen ist, gute Musik – Jazz, Barockmusik, nicht das zuckersüße Gegeige, das hier aus den Lautsprechern dudelt. Er hätte Flöte gespielt. Dann ist da Kapitänleutnant Grass. Er versucht, sich an seinen Bruder zu erinnern, an Angelfahrten, an Touch-Football. Es passiert selten, daß Verwandte sich tatsächlich finden. Die Zeit ist zu knapp, der Kontinent zu groß, und wenn es klappt, dann meistens im falschen Alter. Greisinnen begegnen ihren vorpubertären Ehemännern. Jungverheiratete treffen ihre in mittleren Jahren befindlichen Kinder.«
»Und sie sind immerzu bloß traurig?« fragte George.
»Sie kennen auch ihre schönen Momente, gewisse Gelegenheiten, bei denen du und ich von Befriedigung, sogar Freude sprächen. Aber überwiegend ist das Leben für sie, als läsen sie es in einem Buch. Gestern sagte Hauptgefreiter Raskin zu mir: ›Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem grauen, stillen, leeren Zimmer, machen einen endlosen Fragebogentest mit, beantworten jede Frage korrekt, und Sie wissen, Sie werden niemals etwas anderes erleben.‹« Mit dem Opferdolch ritzte sie ihrem Schreibtisch eine Kerbe ein. »Du darfst die Annullierten-Existenz nicht mit wirklichem Leben verwechseln, George.«
»Ich kann sie trotzdem nicht riechen. Jeder hätte den blöden Abgabevertrag unterschrieben.«
»Laß mich raten. Du fühlst dich… hereingelegt? Hintergangen? An der Nase herumgeführt?«
»Genau das alles.«
»An der Nase herumgeführt durch deine Therapeutin? Die Schwarzblütigen?«
»Beide. Du hast dir nie was aus mir gemacht.«
»Sag nichts, von dem weißt, daß es unwahr ist.«
»Du willst mich nur soweit wieder auf die Haxen stellen, daß ich vor Gericht abgeurteilt werden kann.«
Morning fing mit dem Opferdolch in Im Herzen brennt die Sehnsucht zu blättern an. »Gib mir deinen Leonardo.«
»Wieso meinst du, ich hab ihn dabei?«
»Gib her.«
George klaubte das Bildchen aus dem Hemd. Morning nahm es mit der gebotenen Achtung entgegen, hielt es an den Seitenrändern.
»Ich weiß nicht, wie ich dazu stehen soll.« Sie berührte das Haar ihrer noch unempfangenen Tochter. »Aber mir gefällt, was es zeigt. Alles daran gefällt mir. Deine Hand ruht fast auf meiner Brust.«
Allmählich schnallt sie die Sache, dachte George. Liebe. Ehe. Bumsen. Kinder. Wiederbegründung der Menschheit. »Ich muß eine Stadt mit Marmormauern finden. Dort kann man Zeugungsunfähigkeit beheben.«
»Natürlich könnte sie nur ein Phantasieprodukt sein«, sagte Morning. »Nadine Covingtons persönliche Rache.«
»Ich glaube dem Bild. Und du glaubst ihm auch.« Liebe. Ehe. Bumsen. Allerdings nicht zwangsläufig in dieser Reihenfolge. »Heute abend trinken wir zusammen was im Silberdollar-Kasino.«
»Nein.«
»Wenn wir heiraten und eine Familie werden wollen, sollten wir uns ’n bißchen näher kennenlernen.«
»Ich kann nichts mit dir trinken gehen.« Morning gab ihm den Leonardo zurück. »Wir sind hier unter lauter Schwarzblütigen, George. Sie beherrschen den antarktischen Kontinent. Bist du dir eigentlich über deine Situation im klaren? Falls die Richter dich schuldig sprechen, wird nichts von allem, was wir uns wünschen – eine Hochzeit, Aubrey, ihre Geschwister –, jemals Realität.« Sie beugte sich vor, sprach in hastigem Flüsterton. »Von nun an darf niemand uns zusammen sehen. Wir dürfen nicht zulassen, daß irgendwer den Vorwurf erhebt, mir mangelte es an Objektivität. Niemand soll sagen können: ›Dr. Valcourt? Ach, das ist seine frühere Therapeutin.‹ Ich bin auch beim Tribunal anwesend, mein Freund. Als Zeugin der Verteidigung. Ich weiß etwas, das dir in deinem Verfahren von Nutzen sein kann.«
»Ich habe nicht vor, mich einfach so von dir fernzuhalten. Ich denke gar nicht dran.«
Morning verminderte die Lautstärke ihrer Stimme auf ein noch verschwörerischeres Minimum. »Du mußt aber. Bis zu der Stunde meiner Zeugenaussage bleibe ich aus deinem Leben gestrichen. Hast du verstanden? Verschwunden. Es ist sinnlos, mich zu suchen. Niemand an Bord kennt sämtliche entlegenen Gänge, all die Sackgassen.«
»Was weißt du Nützliches zu meiner Verteidigung?«
»Ich weiß, daß du mir sehr viel bedeutest.«
Sie verabschiedeten sich nicht, indem sie sich küßten, auch nicht, indem sie sich umarmten, sondern nur durch ein zartes Berühren ihrer Fingerspitzen. Für George war diese kurze Berührung eines der fleischlichsten und leidenschaftlichsten Erlebnisse seines Daseins. Noch lange spürte er davon ein Nachgefühl in den Händen. Die Freudigkeit blieb in seinem Gedächtnis haften, wenn ihm danach zumute war, konnte er sich jederzeit daran erinnern.
Kapitän Sverre hat recht. Ein Jahr ist nichts. Bisher hatte George – in seinem Alter von fünfunddreißig Jahren – rund zwölftausend Tage körperlicher Empfindungen erlebt, von denen viele staunenswert wundervoll gewesen waren: Kaffetrinken, seiner Tochter etwas vorlesen, Fingerspitzenkontakt mit Morning Valcourt. Ein Jahr ist gar nichts. Kein Wunder, daß die Annullierten ihn aufknüpfen wollten.
*
Am nächsten Wochenende bekam die Erebus-Pokerrunde nur wenige aufregende Pokerspiele zustande. Henker vergaß ständig, was die Sequenz sein sollte.
War mit dem Austeilen Wengernook an der Reihe, geriet er mit der Reihenfolge durcheinander. Overwhite verwirrte die Chips, und obwohl er nur einen lumpigen Dollar gesetzt hatte, bestand er darauf, es seien fünf gewesen.
»Diese verdammten Zombies«, brummelte Henker. »Sie kommen mir irgendwie einfach unwirklich vor, verstehen Sie, was ich meine? Es würde mich nicht wundern, falls irgendwann auffliegt, daß diese ganze Farce in Moskau ausgeheckt worden ist.« Nicht die mindeste Kleinigkeit im Habitus des Generalmajors – Haltung, Miene, Tonfall – rechtfertigten die Schlußfolgerung, daß er den eigenen Worten Glauben schenkte. Die Annullierten existierten. Sie hatten den antarktischen Kontinent in Besitz genommen. Sie verkörperten eine so handfeste Wirklichkeit wie südafrikanischer Granit.
»Das Fortbestehen einer elektrischen Ladung und die Beachtung des Gleichgewichts zwischen Teilchen und Antiteilchen vorausgesetzt«, sagte Randstable, »spricht nichts dagegen, daß eine Anzahl Moleküle, auch organischer Moleküle, sich materialisiert und zu Lebensformen zusammenschließt… Ähm… Selbstverständlich bloß, wenn man davon ausgeht, daß die Diskrepanz nicht auffällig ist.«
»Und wenn die Diskrepanz auffällt?« fragte Wengernook.
»Dann verschwinden die Moleküle natürlich«, antwortete Randstable.
»Aber wir haben sie bemerkt«, sagte Henker. »Und die Zombies sind noch da.«
»Das hat mich auch verblüfft«, bekannte Randstable.
»Wissen Sie, was ich glaube, William?« meinte Wengernook. »Ich glaube, Sie wissen selber nicht, was für einen Scheiß Sie da quatschen.«
»Ich wüßte gerne«, sagte George, »ob uns eine faire Verhandlung erwartet.«
»Und ich wüßte gerne, ob das Christkind schon Kuchen backt«, entgegnete Henker. Er versuchte die Karten zu mischen, aber sie fielen kreuz und quer auf den Tisch. »Eines dürfen Sie mir abnehmen, Freunde, die ganze Angelegenheit ist ein kompletter Schwindel, etwas ähnliches wie Stalins Schauprozesse. Die besten Chancen böte uns ein Ausbruch.«
»Mein Vater ist Anwalt gewesen«, sagte Wengernook. »Die gesamten Anklagepunkte, die gegen uns erhoben werden sollen, ergeben insgesamt nichts als eine sogenannte rückwirkende Anklage. Wir haben gegen keine Gesetze verstoßen, deshalb mußten sie ex post facto welche erfinden. Falls Bonenfant seine Aufgabe versteht, kann er durchsetzen, daß der Prozeß wegen mangelnder Präjudiz platzt.«
»Vielleicht sollten wir lieber einfach aussagen«, schlug Overwhite vor. Er tastete sein Kinn nach Kiefertumoren ab. »Mehr oder weniger habe ich für den Standpunkt dieser Leute Verständnis.«
»Zum Teufel, Brian, das ist nur ein Haufen Lynchrichter«, erwiderte Henker. »Das ist ’n Femegericht. Ist Ihnen das nicht klar?«
»Ich denke mir, wir sind ihnen was schuldig«, sagte Overwhite.
»Wir sind ihnen überhaupt nichts schuldig«, widersprach Henker.
»Wir schulden ihnen eine Erklärung«, entgegnete Overwhite standhaft.
»Wir sind unschuldig«, sagte Wengernook.
»Sie sind unschuldiger als wir«, antwortete Overwhite.
»An ihrer Stelle«, sagte George, »würden mich auch ’ne ganze Menge Fragen beschäftigen.«
*
Morning Valcourt befand sich nicht in ihrem Behandlungszimmer. Im Rollschuhstadion war sie nicht anzutreffen. Auf der Bowlingbahn ließ sie sich nicht blicken. Im Kino saß niemand.
Er blieb zur Filmvorstellung dort, sah sich Panik im Jahre Null an. In diesem billigen Melodram der Filmfirma American International überlebte Ray Milland einen atomaren Holocaust, indem er mit einem Auto voller Lebensmittel aufs Land fuhr.
George ging in die Bordbibliothek. Morning traf er dort nicht an. Er suchte sich ein Mittelstufen-Biologiebuch heraus und blätterte es durch. Die Passage über die männlichen Fortpflanzungsorgane war überraschend detailliert und freimütig gestaltet. Eine Keimdrüse war im Querschnitt abgebildet. Unmißverständliche Zeichnungen gaben die Hodenkanälchen, die Spermatiden, die Spermatogonien sowie die Spermatozyten wieder. »Ihre sekundären Spermatozyten wandeln sich nicht in Spermatiden um«, hatte Dr. Brust ihm mitgeteilt. Er knallte das Lehrbuch zu und lächelte voller Genugtuung. Wenn ich in der Marmorstadt bin, dachte er, kann ich genau angeben, was gemacht werden muß…
Er beschloß, einmal Kapitänleutnant Grass’ hydroponische Apfelsinenpflanzung zu besichtigen. Vielleicht mochte Morning gern Apfelsinen.
Fruchtig-frischer Obstduft durchzog den Raketenbunker. George tat einen Blick in Abschußrohr 16. Das Apfelsinenbäumchen machte einen kräftigen, fruchtbaren Eindruck. Er streckte sich nach einer Apfelsine und pflückte sie vom Zweig. Saftig. Ein rundum tadelloses Stück Obst. Aber waren Apfelsinen nicht inzwischen ausgestorben? Hatte man hier Annullierten-Apfelsinen ein flüchtiges Wachstum auf Erden zugestanden?
Er stieg aus Abschußrohr 16, kauerte sich aufs kühle Stahldeck und fügte sich ins Warten, als wollte er Wache halten. In seiner Phantasie multiplizierte seine Familie in spe sich zu einem regelrechten Museum. Im Geiste schlenderte er durch einen hellen Korridor, auf dessen einer Seite Sonnenschein durch Fenster flutete, an dessen anderer Wand Gemälde hingen. Er blieb vor einem Bild stehen, das Morning im Hochzeitskleid zeigte; jedenfalls war es wahrscheinlich, daß es sich um Morning handelte, obwohl die Frau auch leichte Ähnlichkeit mit Justine hatte. Die Signatur stammte von Leonardo. Als nächstes betrachtete er ein mentales Gemälde seiner selbst und Mornings beim Liebesakt, beim Zeugen der Folgegeneration. Ach, wie er das Bumsen vermißte, es ihm zuwider war, sich aufs Masturbieren zu beschränken. (Von nun an darf niemand uns zusammen sehen……bleibe ich aus deinem Leben gestrichen.)
Internationales Militär- und Ziviltribunal? Pah! Internationale Annulliertenfeme. Klar, Henker hatte seine Tücken, wenn ihm eine Laus über die Leber lief, war er zu schnell mit seinem tragbaren Atomgeschoß zur Hand, und er hatte nicht gerafft, daß eine Nation, die nicht mehr existierte, auch keine Verteidigung mehr brauchte, aber Vorwurf der ›Verbrechen an der Zukunft‹ jedoch schlug dem Faß den Boden aus. Overwhite? Ein Windbeutel, gewiß, aber kein gefährlicher Mensch. Randstable? Er konnte kaum durchs Zimmer gehen, ohne irgendwo anzustoßen. Wengernook? Er pfuschte beim Pokern, aber das war auch schon alles. Pastor Sparren? Ach was. Nein, keiner von Georges neuen Bekannten hatte es verdient, in so einer Bredouille zu stecken.
Ein ekelhafter Geruch schreckte George aus seinen Überlegungen. Er richtete sich auf und spähte um die Rundung des Abschußrohrs 16. Ein junger Zivilist, der ihn an Martin Bonenfant erinnerte, aber blondes Haar und eine Gesichtshaut wie ein Säuglingspopo hatte, hockte in der Mitte des Raketenbunkers, öffnete gerade eine Bodenluke. Er trug einen Straßenanzug. Der Gestank drang offenbar aus dem Kleidersack, den er auf der Schulter schleppte.
Der Mann entschwand durch die Luke nach unten. George huschte hinüber und folgte ihm abwärts.
Unter dem Raketenbunker lag ein düsterer, miefiger Gang. Er hätte von einem Riesenregenwurm gegraben worden sein können. (Gab es jetzt Annullierten-Regenwürmer auf der Welt?) Der junge Mann betrat eine von bläßlichem Licht unklarer Herkunft erhellte Nische. Vom Boden bis zur Decke reichten rostige Eisenstangen, machten aus der Nische einen Käfig. Hinter dem Gitter kollerte und zappelte als Gefangener ein Vogel in der Größe eines Pterodaktylus.
Im ersten Augenblick dachte George, er sähe wieder Mrs. Covingtons Laterna-Magica-Vorführung. Aber nein, dieser Geier – sein Geier, wie Morning sich ausgedrückt hatte – lebte und war so putzmunter, wie es ein Leichen- und Kadaverfresser nur sein konnte. Er sah genauso wie über dem Wildgrover Zielgebiet aus, hatte ausgefranste Flügel, gelbe Glitzeraugen, den Löffelbaggerschnabel und die gleiche Krummhalsigkeit. Und Morning hatte unterstellt, er sei lediglich eine Halluzination gewesen. Ha…!
Der junge Betreuer des Geiers zerrte einen mausetoten Pinguin aus dem Kleidersack. Er sah total bescheuert aus, wie er da in seinem Straßenanzug stand und einen toten Pinguin in der Hand hielt. Er schob den Pinguin durchs Gitter. Der Geier drückte das Aas mit seinen Krallenfüßen auf den Boden und zerriß es, fraß es geräuschvoll. Der Betreuer zog sich zurück, würgte sichtlich, konnte seinen Widerwillen nicht meistern.
Während er durch den Gang zur Luke schlich, packte ein Tremor George. Meine Familie ist tot, mein Heimatplanet ist tot, meine Keimdrüsen sind tot, ich bin Häftling der massakrierten Zukunft, man will mich für ein Verbrechen aufhängen, das ich nicht verübt habe, und an Bord dieses U-Boots sitzt ein Geier, ein echter Geier, eine richtige, große Wildsau von Geier…
Er kletterte aufs Raketenbunker-Deck. Geier seien eine Tierart ohne Männchen, hatten Morning Valcourt zufolge die alten Ägypter angenommen. Und daß der Wind sie befruchtete.
*
George fiel ein, daß er nichts über Mornings religiösen Glauben wußte. Also besuchte er am Sonntag – in der Hoffnung, sie könnte dort aufkreuzen – den Gottesdienst.
Die Bordkapelle der Donald Duck war eine ökumenische Allzweckeinrichtung und dementsprechend dermaßen umfangreich ausgerüstet mit Meßbüchern, Bildwerken und sonstigen Kultgegenständen, daß nahezu alle rituellen Bedürfnisse gedeckt werden konnten, die ein Seemann der Kriegsmarine der Vereinigten Staaten haben mochte. George saß mit dem Presbyterianer Henker, dem Lutheraner Wengernook und drei Unteroffizieren ungewisser Konfession in der hintersten Bank. Der Bordkaplan war ein Oberleutnant zur See namens Owen Seifenstein. Unter Seifensteins Fittichen fühlte George sich gleich daheim, denn wäre der Kaplan per Geburt zur Welt gekommen, hätte er nach dem Dienst bei der Marine eine langjährige Laufbahn als Unitarier-Geistlicher vor sich gehabt. Der Kaplan erstieg die Kanzel und öffnete eine Annullierten-Bibel. Die Versammlung bewahrte respektvolles Schweigen.
»Am Ende vernichtete die Menschheit den Himmel und die Erde«, lautete Seifensteins erstes Wort.
»Ach du Schande«, schimpfte Henker.
»Völlig einseitige Darstellung«, kritisierte Wengernook.
»Und die Menschheit sprach: ›Es werde Sicherheit‹, und es ward Sicherheit. Die Menschheit testete die Sicherheit, auf daß es krachen sollte. Und die Menschheit trennte das Uran zweihundertfünfunddreißig vom Uran zweihundertachtunddreißig. Es ward Abend, und es ward Morgen: Das war der Erstschlag.« Seifenstein hob den Blick aus dem Buch. »Manche Kommentatoren sind der Ansicht, der Verfasser hätte an dieser Stelle einsetzen sollen: ›Und die Menschheit sah, daß die Sicherheit schlecht war.‹ Andere halten dem entgegen, daß über diese Einschätzung kein allgemeiner Konsens bestanden hat.«
»Ich bin nicht hier, um mir solchen Unfug anzuhören«, sagte Wengernook und stand von seinem Platz auf.
Ein Beben durchzitterte die Kapelle. Die Schotten knarrten. Während Wengernook hinausstapfte, kippte eine mit Lilien gefüllte Vase um und zerschellte.
»Und die Menschheit sprach: ›Es entstehe ein Völkermorden auf dem Trockenen.‹ Und die Menschheit vergiftete die Quellwasser, die unter dem Trockenen flossen, und sengte das Ozon fort, das über dem Trockenen schwebte. Es ward Abend, und es ward Morgen: Das war der Zweitschlag.« Als sei sie ein Lesezeichen aus Fleisch, beließ Seifenstein die Hand im Buch, als er die Bibel zuklappte. »Viele Kommentatoren lehnen die Verwendung des Begriffs ›Menschheit‹ durch den Verfasser als bombastisch und sentimental ab und führen an, die Schuldzuweisung müßte selektiver vorgenommen werden. Andere Kommentatoren…«
Inzwischen war die gesamte Kapelle in Bewegung geraten, sie schwankte und schlingerte. Altarkerzen flogen durch die Luft wie Zweiglein im Sturm. Von der Decke lösten sich Nieten und hagelten auf die Sitzreihen und in die Zwischengänge herab. In ihrer Panik warfen sich die Gottesdienstteilnehmer an ihren Plätzen herum und umschlangen die Rücklehnen der Sitzbänke, klammerten sich daran fest wie Menschen, die ein Leben zu verlieren hatten.
George gelangte zu der Auffassung, keine weitere unvermutete Folgeerscheinung des Atomkriegs mehr verkraften zu können.
Fortwährend rund- und rundherum trudelte der Raum, kreiste dabei stetig aufwärts, als ob das U-Boot das Gewinde eines gigantischen Korkenziehers hinaufführe. Es hatte den Anschein, als entfesselte diese Kreiselfahrt bei Seifenstein latenten christlichen Fundamentalismus. Er umfing seine Kanzel mit beiden Armen, suchte so entschieden daran Halt wie ein freiwillig ans Steuerrad gebundener Steuermann. Die Predigt des Kaplans steigerte sich zu einer Pech-und-Schwefel-Tirade, bei der er die Augen verdrehte und die Zunge verrenkte, jedes Wort drang als Schrei aus seinem Mund.
»Die Menschheit sprach: ›Es soll das ultraviolette Licht die Nahrungskette zerstören, die hervorbringt, was an Kreaturen kreucht und fleucht.‹ Es ward Abend, und es ward Morgen…«
Ein Kerzenleuchter kappte Seifensteins Nase, so daß schwarzes Blut herausschoß. Seine Bibel sauste empor, als jonglierte ein Poltergeist mit ihr, dann durchschlug sie auf einmal in hohem Bogen ein Buntglasfenster. Die Gottesdienstbesucher torkelten in den Mittel- und die Seitengänge, George stotterte irgend etwas vor sich hin, Henker knirschte reichlich Flüche hervor. Unbeugsam an die Kanzel gekrallt, setzte Seifenstein die Predigt aus dem Stegreif fort.
»Und die Menschheit sprach: ›Es sollen aus dem Himmel Strahlen auf die Überlebenden fallen.‹ Und die Menschheit schuf zwei starke Strahlen, die stärkere Gammastrahlung, um den Menschen die allesdurchdringende Ganzkörperdosis zu schenken, und die schwächere Betastrahlung, um die Pflanzen und die Eingeweide der Tiere zu verbrennen. Die Menschheit machte jedes lebende Geschöpf steril und sprach: ›Seid unfruchtbar und zeugungsunfähig, und mehret euch nicht…‹«
George flog in die ausgestreckten Arme des Heiligen Sebastian. Als er – Schädelknochen gegen Marmor – mit der Statue kollidierte, erlebte er Empfindungen, die ihn an das Niedergeballertwerden durch John Frostig erinnerten, doch als er nach oben schielte, sah er seinen Geier nicht. Freilich nicht, dachte er, er steckt ja unter dem Raketenbunker. In einen Käfig ist er eingesperrt. Diesmal kann er nicht zu mir kommen…
*
George erwachte in seiner Koje; als erstes fiel sein Blick auf tote Seepferdchen. Jennifer, Susi, Jeremias, Alfred und Margret trieben jetzt nur noch als schwammige Klümpchen fast unter der Wasseroberfläche des Aquariums. Er hatte sie gefüttert, so gut es möglich gewesen war, eine neue Generation aufgezogen, die Elterngeneration weiter versorgt, mit ihnen gesprochen hatte er, aber seine Bemühungen hatten sich nicht als ihrem Todeswunsch gewachsen erwiesen. Ausschnitte der Predigt Seifensteins gingen ihm durch den Kopf. Und die Menschheit sprach: Seid unfruchtbar und zeugungsunfähig…
»Wir sind in schweren Seegang geraten«, sagte eine Stimme aus dem Nichts.
George blinzelte. HOPPEL-Häschens abgezehrte Gestalt stand neben seiner Koje, bot ihm einen mit Kaffee gefüllten Styropor-Becher an. Sein Gesicht war durch eine Fülle von Spuren des kürzlichen Chaos gezeichnet: Prellungen, Verbände, verschorfte Schnittwunden.
»Sogar in Schlimmeres als schweren Seegang«, fügte Henker hinzu. »Einen Strudel.«
Georges Kopf fühlte sich an, als wäre er gerade erst bei einem gewalttätigen Mannschaftssport als Ball verwendet worden. Er betastete seine Kopfhaut. Flachere Schwellungen umgaben die größte Beule wie ein Vorgebirge. Er schlürfte Kaffee. »Strudel?«
»Einen wirklich riesigen Strudel.« Mit unverhohlener Schadenfreude beschrieb Henker den Meereswirbel, in dem man anscheinend einer wahren Charybdis der Gegenwart begegnet sein mußte, die in jeder Sekunde Hundert Tonnen von Wasser einsaugte, sich durch den Ozean fraß, ganze Archipel verschlang, sie mit weiten Gebieten des Südatlantiks die Gurgel hinabspülte. »So, und nun kommt das Schöne an der Geschichte: Der Strudel hat uns aus dem Wasser gehoben. Ob Sie’s glauben, oder nicht, wir liegen auf Gottes trockenem Land.«
Lahm raffte George sich vom Bett hoch, und nachdem er aus der Toilette das erforderliche Material geholt hatte, machte er sich daran, die winzigen, pferdchenhaften Kadaver in Blätter des Klopapiers zu wickeln. »Land? Die Antarktis, meinen Sie?«
»Die Antarktis ist anderthalbtausend Kilometer entfernt. Wir liegen auf einer Insel vor dem Kap der guten Hoffnung fest. Ich hab’s durchs Periskop gesehen. Momentan ist Ebbe. Morgen kommt wieder Flut und hebt uns vom Trockenen.« Irre Freude weitete Henkers Augen. »Ich habe eine Frage an Sie, Paxton, und sollte die Antwort ja lauten, dann gibt es wirklich einen Gott im Himmel. Sie haben doch eine ARES-Montur an Bord gebracht, stimmt’s?«
Bei sich formulierte George eine Grabinschrift für Seepferdchen Jeremias – ER WAR EIN GUTER VATER – und nickte.
»Kann ich sie mal sehen?« fragte Henker.
George öffnete den Schrank und nahm Hollys unverschenktes Weihnachtsgeschenk von der Stange. Henker stürzte sich regelrecht auf die Montur, riß den 45er Colt aus dem Koppel und schob ihn ins Halfter seines tragbaren Atomraketchens.
»Zufällig ist das meine Pistole, Henker. Beziehungsweise die meiner Tochter, um genau zu sein.«
»Sie dürfen sich mir gern anschließen.«
»Wohin wollen Sie denn?«
»Mittschiffs ab durchs Luk.«
»Sie meinen… um zu fliehen?«
»Falls die Einheimischen uns feindlich gesonnen sind, bauen wir ’n Floß und setzen zum Festland über. Dort finden wir mit Sicherheit Überlebenszonen der Zivilisation, denen wir dabei behilflich sein können, die ganze Scheiße zu beheben. Wir bauen alles wieder auf. Die Welt ist unsere Auster, Paxton.«
»Eine tote Auster.« George wickelte Susi in Klopapier, dachte sich ihre Grabinschrift aus: SIE WAR EINE SPORTLICHE TAUCHERIN.
»Was ist mit Ihnen los, vertrauen Sie unserem Überlebenstrieb nicht?« fragte der Generalmajor. »Sind Sie bei den Pfadfindern unehrenhaft rausgeschmissen worden, oder was?«
»Ich habe den Eindruck, Ihre Idee ist nicht so gut, Henker.«
»Es muß an Land jede Menge verschont gebliebener Ortschaften geben.«
»Draußen sieht’s wie auf ’m Mond aus.«
»Das glauben Sie. Ich versuche Ihnen doch schon die ganze Zeit klarzumachen, daß das Geschwafel von Ausrottung nur dummes Zeug ist. Auf dieser Insel steht eine Stadt, eine völlig unbeschädigte Stadt, sie hat überhaupt nichts abgekriegt.«
»Eine Stadt?«
»Ich habe sie mit eigenen Augen gesehen.«
»Welche Stadt?«
»Es ist… Ich weiß nicht. Eben ’ne Stadt.«
»Hat sie weiße Mauern?«
»Ja. Weiße Mauern. Könnte Marmor sein. Woher wußten Sie das?«