»Ich hatte eine glückliche Kindheit«, sagte George am Anfang seiner ersten psychotherapeutischen Sitzung.
»Glückliche Kindheit wird überschätzt«, erwiderte die Therapeutin.
Als George ihr das erste Mal begegnete, hatte er gemeint, Morning Valcourt eine verschwommene Attraktivität anzumerken, doch jetzt sah er, daß das Mundtuch, das sie während ihrer Unterhaltung in der Strahlenschäden- Behandlungsabteilung trug, mit schorfähnlichen Flecken besäte Wangen verborgen hatte, eine Nase, die dauernd Gestank zu riechen schien, sowie einen Mund, der wirkte, als neigte er ständig zu einem Zähnefletschen. Aber Leonardo hatte sie mit herzhaftem Lächeln gemalt… Offenbar war er ein Künstler mit beachtlicher Phantasie gewesen.
»Ich will ehrlich zu Ihnen sein«, sagte Morning Valcourt. »Beim Überlebenstrauma droht dem Betroffenen ein plötzlicher seelischer Zusammenbruch. Um dagegen vorzubeugen, müssen wir dem Schattenreich des Ableugnens gewisse Tatsachen entreißen und sie ans Tageslicht des Bewußtseins bringen.«
Konnte dieses verblasene Weibsstück wirklich Aubreys künftige Mutter sein? Wann mochte er es zum erstenmal von Herzen lächeln sehen?
»Hatten Sie in letzter Zeit Schwierigkeiten beim Schlafen?« fragte Dr. Valcourt.
»’ne Zeitlang ist bei mir Schlafwandeln vorgekommen. Zwei Leutnants haben mich davon kuriert.«
»Welche Leutnants?«
»Max und Moritz. Sie haben gesagt, sie wären immer bei mir gewesen und hätten auf Einlaß gewartet.«
»Aber Sie schlafen nachts durch.«
»Ja.«
»Haben Sie an Gewicht verloren?«
»Nein.«
»Ist die Verdauung gut?«
»Bestens.« Sich in diese Frau zu verlieben, würde ehrgeizige Anstrengungen erfordern.
»Seit einiger Zeit verschreibe ich viel Beruhigungsmittel«, sagte Dr. Valcourt, »aber in Ihrem Fall möchte ich lieber davon absehen. Als man Sie gefunden hat, haben Sie eine goldgelbe ARES-Montur umklammert.«
»Ich habe sie von einem Erfinder. Professor Theophilus Carter. Ich mußte ihm einen Abgabevertrag unterzeichnen.«
»Ich weiß. Ein Geständnis der Komplizenschaft. Ich mißbillige derartige Sottisen. Erzählen Sie mir, was passiert ist, nachdem Sie Carters Laden verlassen hatten.«
George saugte durch die Zähne Luft ein, so daß ihm die Zahnwurzeln wehtaten. Er sprach über sengend-grelles Licht, eine Pilzwolke, über Brände, Verletzte, schwarzen Qualm und Schreie nach Wasser, über Menschen, die in Spezialkliniken gehört hätten, die nicht mehr existierten. Jeder Schilderung schloß sich eine Pause der Verzweiflung an, so daß die Stunde fast verstrichen war, als er schließlich auf das beschädigte Pferd für den extralangen Ritt kam. »Sie hatte das blöde Ding wahnsinnig gern«, sagte er. In seiner Kehle schien Narbengewebe zu wuchern.
»Es ist unerträglich, nicht wahr?«
Die Sanftheit in Dr. Valcourts Stimme verdutzte George. »Unerträglich«, wiederholte er.
»In Chicago war der Winter jedesmal gräßlich kalt«, sagte Morning leise, »aber ich hatte viele Bücher in meiner Wohnung, Regale vom Boden bis an die Decke, darum hatten ich und die Katzen es immer behaglich. Ich hatte sämtliche Autoren mit Herzenswärme auf der Windseite stehen, Emily Dickinson, Scott Fitzgerald. Henry James hat seine eigene Aura. Ich habe nur einen Block von meiner jüngeren Schwester entfernt gewohnt, sie war methodistische Pastorin und auf gewisse Weise eine tüchtigere Therapeutin als ich. Wir nannten Linda das Weiße Schaf der Familie. Ich wünschte mir nichts anderes, als daß ich sie anständig begraben könnte.« Leonardo hatte recht gehabt: Morning konnte lächeln. Allerdings hatte sie jetzt nicht das fröhliche Lächeln der Mutter auf dem Bild im Gesicht, sondern das gezwungene, tapfere Lächeln jemandes, der mit den Tränen rang. »Linda ist der beste Mensch gewesen, den ich kannte.«
»Das wäre ’ne schöne Grabinschrift. Ich frage mich häufig, wie ihnen wohl zumute ist.«
»Ihrer Frau und Ihrer Tochter?«
»Ja. Und den anderen.«
»Sie fragen sich, wie ihnen wobei zumute ist…?«
»Beim Totsein. Verrückt, nicht wahr?«
»Halten Sie es für verrückt?«
»Sie sind tot. Sie empfinden nichts mehr… Sverre hat erwähnt, es gäbe Zonen mit Überlebenden.«
»Sicherlich.«
»Sie glauben nicht, daß…?«
»Nein, nicht.«
»Ich dachte bloß…«
»Sie sind in den Bombentrichter hinabgestiegen, stimmt’s? Und dann hat Ihr Nachbar auf Sie geschossen?«
George kaute auf der Unterlippe. »Ich bin aus den Latschen gekippt. Als nächstes flog über mir ein Geier.«
»Ein was?«
»Ein Geier. Ein riesiger, schwarzer Geier. So groß wie einer von den Flugsauriern, Sie wissen schon, so ein Puterodingsda.«
»Falls Sie den Pterodaktylus meinen, der war kein Dinosaurier.« Valcourt schnitt eine Miene intellektueller Süffisanz. »Aber immerhin eine Echse. Ihr Geier ist nicht der erste, der in die Annalen der Psychotherapie eingeht. So ein Tier hat früher den großen Leonardo heimgesucht.«
»Leonardo da Vinci?« fragte George.
»Ja.«
»Ich habe von ihm ein Bild.«
»Sie sind der Ansicht, Sie besitzen einen Original-Leonardo?«
»Ich habe einen. Ich verwahre ihn in meiner Kabine.«
Morning Valcourt warf einen flüchtigen Blick nach links, als wollte sie sagen: Tja, du armer Irrer, leider kann man sich nicht aussuchen, was der Beruf einem bringt. Danach stand sie auf. Ihr steifes, abweisend graues Kostüm hatte etwas von einem Ganzkörper-Keuschheitsgürtel.
Sie trat an ein mit Literatur über Gehirnleiden vollgepacktes Bücherregal. Ihre Praxis versöhnte das Rationale mit dem Urtümlichen: George sah eine Anatomie-Wanddarstellung, ein Navahoindianer-Gehänge, ein Keramikgehirn, eine Hindu-Gottheit, ein Biofeedback-Gerät sowie ein Obsidian-Messer, dessen letzter Gebrauch wohl anläßlich eines Menschenopfers stattgefunden hatte. Sie zog ein dünnes Buch heraus, hielt George kurz den Umschlag mit dem Titel vors Gesicht – Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci – und schlug den Band auf. »Als Leonardo Säugling war«, sagte sie, »schwang sich ein Geier zu seiner Wiege herab und rieb den Schwanz an seinen Lippen. Oder wenigstens hat er das geglaubt. Hat Ihr Geier das gleiche getan?«
»Mein Geier?«
»Der Geier überm Zielgebiet.«
»Wollen Sie sagen, ich hätte bloß ’ne Halluzination gehabt?«
»Nehmen Sie an, es war eine Halluzination?«
»Ich weiß nicht.« Georges erhielt keinen allzu vorteilhaften Ersteindruck von der Psychotherapie. »Mein Geier hat sich nicht an meinen Lippen gerieben«, sagte er wahrheitsgemäß.
»Allem Anschein nach ist Leonardo ein uneheliches Kind gewesen. Er und seine Mutter hatten ein sehr inniges Verhältnis, viel Geknutsche und Gehätschel.« Morning tat, als drückte sie in den Armen einen Phantomsäugling. »Sie müssen berücksichtigen, daß sich zur Zeit des Altertums Mutterschaftskulte häufig um Geier bildeten. Die Ägypter glaubten, es gäbe keine Geiermännchen, sondern die Befruchtung geschähe durch die Winde. Anhand der Geierphantasie gestand Leonardo eine sexuell geprägte Beziehung zu seiner Mutter. So lautet jedenfalls Freuds Theorie. Der Schwanz öffnet die Lippen. Also Penetration.«
»Ich dachte«, sagte George, »wir wollten über meine Probleme reden.«
Morning stieß das Buch mit einer Plötzlichkeit zurück ins Regal, als ob eine Stahlfeder es hineinrammte. »Am Montag fangen wir an«, verhieß sie in gleichmäßigem Tonfall, »in die Gefilde des Todes hinabzusteigen.«
George holte die Brieftasche hervor und zog ein rechteckiges Papier aus einer verschlissenen Plastikhülle. »Tun Sie mir ’n Gefallen? Verstecken Sie das, wo ich’s nicht finden kann.« Er legte das Viereck auf den Tisch. »Sonst schau ich’s mir immerzu an.«
Die Therapeutin nahm Hollys Bild – ein offizielles Gruppenfoto der Kindertagesstätte Sonnenblume – und legte es in ihre oberste Schreibtischschublade.
*
Während Hollys Kindertagesstätten-Gruppenfoto für George stets ein Quell der Trauer geblieben war – ›unerträglich‹, wie die Therapeutin sich ausgedrückt hatte, war genau das zutreffende Wort für den Zustand, den es ihm wiederholte Male bereitet hatte –, verhielt es sich mit dem Bild, auf dem man ihn, Aubrey und Morning sehen konnte, gänzlich entgegengesetzt. Er betrachtete es, wann er konnte, besah es sich bei verschiedenerlei Licht, merkte sich jeden Pinselstrich. Am Samstagnachmittag schaute er es sich so ausgiebig an, daß er das Zeitgefühl verlor und infolgedessen mehrere Minuten zu spät zur Vorstellung von Sergej Bondartschuks überlanger Filmversion von Krieg und Frieden eintraf.
»Wenn sich die verderbten und schlechten Menschen zusammentun und zu einer Macht werden«, sagte aus dem Off der Erzähler, »so müssen die ehrlichen Menschen das gleiche tun.« Pierre Besuchow und Fürst Andrej Bolkonski spazierten durch den Park.
Die Schlachten von Schöngrabern und Austerlitz genoß George. Weit, weit hin zogen sich die Reihen der Schützen, erstreckten sich bis über den Erfassungsbereich der Kameras hinaus.
Sobald das Licht zur ersten Pause anging, stellte George fest, daß in dem Mini-Kino nur er selbst, ein Matrose, Randstable und ein älterer Mann saßen, der sich jetzt in der Reihe vor George zu ihm umdrehte und dank seines struppigen Barts und faßartigen Wansts als Double die Stunts für den Weihnachtsmann hätte erledigen können.
»Hallo, mein Freund.« Als das Weihnachtsmann-Double lächelte, spreizte sein Bart sich wie das Rad eines Pfaus.
»Sind Sie auch ’n Erebus-Evakuierter?« erkundigte sich George.
»Brian Overwhite«, sagte der Weihnachtsmann und nickte. »Von der Rüstungsbegrenzungs- und Abrüstungsbehörde der Vereinigten Staaten.«
»Ich habe schon gehört, daß Sie an Bord sind.«
»Ich hatte gerade die Flugkarten nach Genf erhalten – wir wollten nämlich gerade die STIRB-Drei-Verhandlungen anleiern –, da kommt doch dieser Krieg… Unglaublich, nicht wahr? Der menschliche Geist kann so was gar nicht verkraften. Nuklearschläge. Mißlungene Abschreckung. STIRB Drei hätte für das Raketen-Startgewicht und die Verbreitung der Anti-Satelliten-Raketen klare Grenzen bestimmt… Wenigstens habe ich das gehofft.«
»Ich bin George Paxton.« George machte Anstalten, Overwhite die Hand zu schütteln, aber der rechte Arm des Abrüstungsunterhändlers hing eingegipst in einer Schlinge. »Haben Sie an einer Schlacht teilgenommen?«
»Nein, ich bin von zwei übergeschnappten Leutnants mißhandelt worden. Waren sogar Verwandte.«
»Ich weiß, wen Sie meinen.«
»Sie sagten zu mir: ›Ihr Lebtag haben Sie andere Leute in ihrer Freiheit eingeschränkt, nun schränken wir mal Sie in Ihrer Freiheit ein.‹ Und haben mir doch glatt den Arm gebrochen. Die Scheißelle ist hinüber. Ich habe den Vorfall Kapitänleutnant Grass gemeldet. Und denken Sie sich mal: Der Mann hat mich ausgelacht. Jawohl, er hat gelacht.«
»Man könnte meinen, es gäb irgendwie Vorurteile gegen uns«, sagte George. »Nehmen Sie zum Beispiel mal mich. Mich hat man in ’n Torpedorohr gestoßen.«
»Vorurteile? Ja, ich glaube, das ist das passende Wort.« Overwhite kratzte an seinem Gips, als ließe sich dadurch ein Jucken beheben. »Sagen Sie, George, was macht Ihnen mehr Sorgen, die Gamma- oder die Betastrahlen?«
»Was?«
»Die Gammastrahlen zwitschern einem stracks durch den Körper, zack-zack, aber die Betastrahlen setzen sich im Essen fest, das Sie verzehren, und in der Atemluft.« Overwhite langte unter seinen Bart und strich sich über die Kehle. »Sie sollten vor allem auf die Anreicherungen in der Schilddrüse achten. Die Schilddrüse speichert Betastrahlen, besonders bei Kindern. Es ist doch schrecklich, wenn man nicht mal in aller Ruhe so ein spotteinfaches Scheißrüstungsbegrenzungsabkommen aushandeln kann.«
George hätte gerne Krieg und Frieden weitergeguckt. »Guter Film, hä?«
»Ich habe Verständnis für Ihren Standpunkt. Acht Stunden unbegreiflicher Filmtechnik im Dienste sowjetischer Propaganda, die im Trüben fischt, und trotzdem gibt’s jede Menge zu bewundern – die wirksame Grandeur, das sorgfältig rekonstruierte tolstoische Ambiente.« Overwhite massierte seinen Ellbogen. »In den Ellen entsteht so gut wie nie Krebs.«
»Die Vorstellung ist schlecht besucht«, konstatierte George.
»Die Matrosen wollen doch nur Clint Eastwood und Titten sehen.« Overwhite klammerte die Finger zusammen. »In der Regel bildet Krebs sich auch nie in Fingern.« Er rieb sich den Brustkorb. »Um Brustkrebs brauchen wir Männer uns im allgemeinen nicht zu sorgen.«
Im späteren Verlauf des Nachmittags schlug Napoleon in der Schlacht von Borodino die Russen in die Flucht, starb Andrej an seinen Verwundungen, okkupierte die Große Armee Moskau, mußte Napoleon seinen verlustreichen Rückzug antreten und blieb Pierre bei der ebenso reiz- wie temperamentvollen Natascha Rostowa.
Wenn man sie erst einmal näher kennt, überlegte George, ist Morning Valcourt wahrscheinlich auch ziemlich reiz- und temperamentvoll.
*
In der Sicht des Durchschnittskonsumenten in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts galten Psychotherapeuten als überbezahlte Zeitgenossen. Für die Gunst, daß einem jemand zuhörte, erachtete man einhundert Dollar je Stunde als zu hohen Preis. Was den Menschen nicht klar ist, dachte Morning, ist meine Situation, die darin besteht, daß ich in Permanenz schufte, bei Tag und Nacht. Ich arbeite beim Essen. Ich träume von meinen Patienten.
Sie hockte mitten im Periskopraum und legte sich ihr Mittagessen zurecht: Eine Thermoskanne mit Magermilch und eine Stulle mit Gurkenscheiben. Bis zum Ende der Reise beabsichtigte sie fünf Pfund abzunehmen. Ihr Patient vom Verteidigungsministerium fiel ihr ein, Wengernook. Ihn plagten so viele Gefühle – er malte sich sogar aus, wie seine Frau an Strahlenerkrankung dahinsiechte –, für die er keinen Wortschatz hatte. Er schwafelte über Abwehr gegen Interkontinentalraketen. Und um Randstable kreisten ihre Gedanken: Er faselte pausenlos über Kreiselsteuerung und seine einstige ›Denkfabrik‹. Er verwechselte Systemanalysen mit Denken. Und den Rüstungsbegrenzungsunterhändler: Der bedauernswerte Overwhite zermürbte sich mit nichtvorhandenen Tumoren. Nichts als Verdrängung…
Und Paxton. Weshalb sieht er mich so an? Es geht nicht ums Sexuelle, zumindest nicht ausschließlich. Er will von mir noch etwas anderes.
*
Als Unitarier hatte George darüber Klarheit, daß es ihm an der Kompetenz fehlte, um sich mit metaphysischen Vorgängen abzugeben, und wenn bloß prophetischen Glasmalereien. Er hatte beschlossen, die Dinge auf der Grundlage der Theorie anzupacken, daß Leonardo keine unausbleibliche, sondern eine mögliche Zukunft vorausgesagt hatte, etwas Zukünftiges, das er, George Paxton, durch Beharrlichkeit und Findigkeit verwirklichen konnte. Ich lasse Leonardo und Hollys Halbschwester nicht im Stich, hatte er sich vorgenommen. Ich werde Morning Valcourt umwerben, alles unternehmen, um auf sie faszinierend zu wirken, mich in sie verlieben und sie davon überzeugen, daß sie mich heiraten muß.
»Sie und ich haben viel gemeinsam«, sagte er, als er den Periskopraum betrat. »Wußten Sie, daß das Verkaufen von Grabsteinen ganz ähnlich wie Psychotherapie ist? Ich habe immer mit den Hinterbliebenen über ihren Kummer gesprochen.«
»Wir sind Heiler, die durch Besprechen Erfolg haben«, antwortete Dr. Valcourt ausdruckslos.
»Zum Beispiel hatten wir Gewissensberuhigungs-Grabsteine. Und Eigengroll-Grabsteine.«
»Ach.«
Wie er nun erkannte, hatte er ihre Miene falsch gedeutet. Der seltsame Zug um ihren Mund hatte nichts mit Zähnefletschen zu schaffen, sondern stammte vom Aussprechen so vieler Wahrheit, während das häufige, jähe Blähen ihrer Nasenflügel auf Einfühlsamkeit statt auf Versnobtheit beruhte. George drehte an seinem Ehering. Verzeih mir, Justine.
»Ich möchte, daß Sie einen Blick auf einen Brand tun«, sagte Morning Valcourt.
»Einen Brand? Ich habe im Umkreis von Wildgrove genug Brände erlebt.« Sie gab sich immer sachbetont, diese Frau.
»Wildgrove war gar nichts.« Valcourt führte ihn zu Periskop Nummer I. »Odessa hatte die Ehre, als letzte Stadt Opfer eines Atomsprengkopfs zu werden. Vor fünf Tagen hat das Atomraketen-U-Boot Atlanta es beschossen. Es brennt noch.«
»Odessa? Sie meinen… es sind doch russische Städte getroffen worden? Man hat nicht nur die Raketenstellungen angegriffen?«
»Das hängt mit der grundsätzlichen Atomkriegsstrategie zusammen. Wir hatten ihre Raketenbunker aufs Korn genommen, aber sie dachten, wir hätten es auf ihre Städte abgesehen, also haben sie unsere Städte vernichtet, und… Quid pro quo.«
George preßte die Augen an das weiche Gummi des Suchers. Unruhig waberte verwaschenes Orangerot im Sichtfeld. Er stellte die Schärfe ein. Odessa und das Umland erbebten unter dem Brausen der Feuersbrunst. Tintenschwarzer Rauch verfinsterte den Himmel. »Kunstfasern, Isolationsmaterial, Öltanks, Polymere – es ist reichlich von allem da, was die Flammen nährt«, sagte Morning. »Die Überlebenden müssen ein höllisches Gemisch von Dioxinen und Furanen einatmen.«
»Sie wissen soviel, Dr. Valcourt«, antwortete George in einem Ton, von dem er hoffte, daß er einen verführerischen Klang hatte. Er befand, daß der Periskopraum miese Voraussetzungen bot, um das Zustandekommen einer Romanze zu begünstigen. Er mußte eine Verabredung treffen. Ob sich am besten das Kino empfahl? Die Bowlingbahn? Oder das Spielkasino?
Morning Valcourt zog am Periskopgriff, richtete das Sichtgerät auf den Kontinent, auf dem noch kürzlich die Vereinigten Staaten von Amerika gelegen hatten. Brände. Zurück auf Rußland. Brände. Wieder auf Amerika. Städte brannten. Ölquellen loderten. Kohleflöze glosten. Weideland lohte. Torfmoor schwelte. Waldbrände. Eine Dunstwolke, so schwarz wie das Blut Nadine Covingtons und Leutnant Foxys, durchwehte die Luft. Ruß verhüllte die nördliche Erdhalbkugel.
In der Nacht darauf – einer Montagnacht – träumte George, er sei aus Qualm. Auf seinen Rauchbeinen konnte er sich nicht fortbewegen. In den Rauchhänden konnte er nichts halten.
Der Dienstag brach an. Wieder fand die Therapiesitzung im Periskopraum statt.
»Würden Sie mir bitte sagen, welcher Tag heute ist, George?« fragte Morning.
Bildete er es sich nur ein, oder stellte sie zunehmend sinnlose Fragen? »Der zehnte Januar. Ich bin seit drei Wochen an Bord.«
»Gut. Aber draußen ist’s jetzt Anfang Juli.«
»Wo?«
»In der Welt.«
»Was?«
»Die Zeit ist durcheinandergeraten, George, eine der vielen Folgen des Atomkriegs, die niemand so recht im voraus gewußt hat. Solche Massen fundamental notwendiger Partikel sind annihiliert worden, daß die Zeit quasi Knicke und Falten bekommt. Hier verstreicht eine Minute, aber draußen ist es eine Stunde, ein Tag oder eine Woche.«
»Falten?«
»Wie ein chinesischer Fächer. Das ist postatomare Physik, ein nicht einmal von Einstein vorhergeahntes Phänomen. An lokalen Abschnitten der quantendynamischen Struktur übernimmt Raum die Funktion der Zeit, und umgekehrt. Nach allen Hinweisen, die uns vorliegen, existieren nur noch zwei Örtlichkeiten, an denen der alte Zeitrahmen weiterbesteht. Die eine ist dies U-Boot. Die andere ist die Antarktis. Sind Sie jetzt bestürzt?«
George entsann sich des Buches, aus dem er Holly vorgelesen hatte, Carrie von Cap Cod, in dem es von Muscheln und Einsiedlerkrebsen gewimmelt hatte. Ich bin ein Einsiedlerkrebs, definierte er sich neu. Haltet einen Schweißbrenner an meine Schale, ich werde nichts fühlen. Kratzt mich, und ich leide keinen Schmerz. »Wenn die Zeit knittrig wird, knittert sie eben«, meinte er. »Wir Einsiedlerkrebse werden mit allem fertig.«
»Was für Krebse?«
»Einsiedlerkrebse.«
»Ah ja, Einsiedlerkrebse, gut«, sagte Morning. »Einsiedlerkrebse wohnen in Schneckenschalen, weil sie überleben wollen«, fügte sie versonnen hinzu. »Einsiedlerkrebse glauben an die Zukunft«, lautete die letztendliche Schlußfolgerung von Georges Therapeutin.
Allmählich macht sie sich um mich Gedanken, überlegte er. Soll ich ihr meinen Leonardo zeigen? (Sehen Sie da, Dr. Valcourt, Sie und ich stehen vor der Bestimmung, zu heiraten und Kinder zu haben.) Nein. Noch nicht. Sie hat keinen Durchblick. Möglicherweise käme das bei ihr wie ein Scherz an, oder sie stufte es als Symptom des Überlebenstraumas ein; oder als abwegigen Verführungsversuch.
»Jocotepec, Mexiko«, sagte sie.
George beugte sich ans Okular, drehte am Rändelrad der Schärfeneinstellung.
»Heute haben wir ’s mit Eis zu tun«, äußerte Morning Valcourt.
Auf einem zugefrorenen See stand eine Gruppe Bauern. Ruß wallte über den Himmel. Kalter Regen fiel. Den Überlebenden klapperten die Zähne, Wölkchen von Atemluft entfuhren ihren Mündern. Sie trugen nur Lumpen. Viele waren barfuß, hatten blaugefrorene Fußknöchel, schon fehlten Zehen. Ungläubig scharten sie sich ums schwächliche Flackern eines Feuers.
»Ich dachte, Sie sagten, es wäre Juli.«
»Es ist Juli. Mittags. Diese Menschen erfrieren. Schuld daran sind die Brände der Städte. In der Atmosphäre ist dermaßen viel Qualm, daß er das normale Sonnenlicht nicht durchläßt. Gegenwärtig beträgt die globale Temperatur im Durchschnitt minus fünfundzwanzig Grad Celsius. Die Rußschicht wandert mit dem Wetter. Im April hat sie den Äquator überquert und im Amazonasbecken Schneestürme verursacht. Die Photosynthese ist zum Erliegen gekommen, der Vegetationsmantel der Erde zerfällt. Viele Jahre lang hat man diese Folgeerscheinung eines atomaren Holocausts nicht vorausgesehen. Dann haben einige Wissenschaftler sie kurz vor dem Krieg doch noch erkannt. Man nennt sie das Sonnentod-Syndrom.«
Sie verschob den Periskopgriff. Erstarrte Leichen bedeckten den Planeten wie Murksarbeiten eines irrsinnigen Präparators. Viele Umherirrende verdursteten, weil es ihnen unmöglich war, die Eisdecken der zugefrorenen Flüsse und Weiher aufzustoßen. Unter einem wie von Prellungen bläulichen Himmel schabte ein hungriger französischer Landwirt mit blutigen Händen die eisenharte Scholle auf, versuchte eine Kartoffeln auszugraben, die er im Erdreich wußte. Endlich hatte er den kostbaren Fund ausgebuddelt, glotzte ihn dümmlich an. George freute sich für ihn über den bescheidenen Triumph. Und nun iß! Doch der Landwirt fiel in Ohnmacht und war binnen kurzem so steif und starr wie der Marmorengel, den George früher unter der Bezeichnung Modell Nr. 4335 verkauft hatte.
Mittwoch.
»Vierzehn Monate sind vergangen«, sagte Morning. »Es ist September. Die Atomraketen-U-Boote sind in Häfen eingelaufen. Der Ruß hat sich abgelagert. Es dringt wieder Sonnenschein durch. Das Sonnentod-Syndrom hat seine Wirkung getan.«
»Gott sei Dank.«
»Danken Sie niemandem. Das Licht ist schädlich.« Morning schloß die Lider. »Die in der höheren Atmosphäre gezündeten Sprengköpfe haben durch ihre Detonation Stickoxid erzeugt, von dem die irdische Ozonschicht zerstört worden ist. Ultraviolettes Licht strömt auf die Erde herab. Und das alles bedeutet was?« Ihr Aufseufzen klang durchdringend schrill. »Hungersnot«, sagte sie.
George war es zuwider, an diesem Zeitpunkt seiner Bemühungen um Morning vielleicht patzig zu wirken, aber er konnte nicht anders, er mußte die Frage stellen, die ihn beschäftigte. »Ist das echt die richtige Methode, um mich zu kurieren?«
»Ja«, antwortete Morning Valcourt, als wäre die Sache damit entschieden. »Letztes Jahr hat es eine katastrophale Mißernte gegeben. Der gefrorene Erdboden konnte keine Samen aufnehmen, und die wenigen Saaten, die man säen konnte, sprossen in einem Frühling des Smogs und sauren Regens aus der Erde. Dieses Jahr fällt die Ernte noch schlimmer aus. Die Wurzeln wachsen in erodierten Untergrund, das Ultraviolett versengt das Laub. Und es gibt einen weiteren Feind…«
Heuschrecken wälzten sich wie ein weitflächiger, unersättlicher Teppich über Iowas Weizenfelder, fraßen die Ernte bis auf ihr Faserskelett ab, verschlangen das botanische Aas.
»Für Insekten ist die postatomare Umwelt das reinste Utopia. Ihre Hauptgegner, die Vögel, sind der Strahlung erlegen. Die Pyrethroid- und Demeton-Lager sind vernichtet worden. Die überall auffindbaren Leichen bieten hervorragende Brutplätze. Was also sollen unsere hungernden Überlebenden anfangen? Vorräte anlegen? Nüsse und Beeren verschwinden zügig von der Erdoberfläche. Schalentiere sammeln? Radioaktive Niederschläge haben die Küstengewässer verseucht. Jagen? Schlecht möglich, wenn die Beutetiere aussterben…«
Sie drehte das Periskop. Auf einem Haufen Kaninchenknochen schlotterte ein Kaninchenfell. Das Fell tat einen Hüpfer und brach zusammen.
»Schwer möglich, nachdem die winzigen Geschöpfe, die die irdischen Nahrungsketten gewährleisten, als das Ultraviolett die Sümpfe und Meere traf, getötet worden sind…«
Konnte ein Walroß, der Inbegriff der Fett- und Beleibtheit, ausgemergelt aussehen? Dieses Walroß sah so aus. Es hatte eingesunkene Augen. Seine Rippen zeichneten sich unter straffem, bläßlichem Fleisch ab, das von sich selbst gezehrt hatte, fortan aber von nichts mehr zehren konnte.
»Kaum möglich, wenn Tausende von Gattungen gefährdet sind, weil infolge des Ultravioletts die Hornhäute ihrer Augen vernarbt sind…«
Ein blindes Reh stakste durch den organischen Abfall, auf den die mittelpennsylvanischen Wälder reduziert worden waren, durchstelzte unsinnige Schleifen der Verkümmerung und des Hungers. Armes Bambi, konnte George Holly sagen hören.
»Sie wissen, was als nächstes an der Reihe ist, oder nicht? Sie wissen, was Menschen essen, wenn sie keine Beeren mehr sammeln, kein Wild mehr jagen oder nicht mehr im Meer fischen können?«
Draußen in den Zeitfalten futterten italienische Angestellte Menschenleichen. Belgische Mathematikprofessoren ermordeten ihre Kollegen und fraßen ihre inneren Organe. Dave Valentine von der Ohne Grenzen GmbH, der Werbeagentur, die die Reklame für die ARES-Monturen produziert hatte, schlurfte mit kannibalischen Absichten durch die Ruinen von Glen Cove auf Long Island.
Am Ende der therapeutischen Sitzung zum Thema Hungersnot kauerte George in Zuckungen der Erschütterung auf dem Fußboden.
Donnerstag.
»Es sind wieder fünf Jahre herum«, sagte Morning. »Aber trotzdem hat die Zeit gewissermaßen kehrtgemacht. Die ehemals moderne Stadt Billings in Montana hat sich ins London des vierzehnten Jahrhunderts zurückentwickelt.«
Sie drehte am Schärfenregler.
»Es ist jetzt soweit«, kündigte sie an, »daß wir uns mit Seuchen befassen.«
Nein, nein, dachte George, es ist soweit, daß wir uns mein Laterna-Magica-Glasdia angucken. Es ist höchste Zeit, daß wir Hochzeitspläne machen.
Vor einem Bunkereingang hockte ein kräftiger Überlebender im Tarnanzug. Er trug eine überraschend intakte ARES-Montur und hatte im Gesicht ein zerfressenes Grinsen. Auf seinen vom Tarnmuster scheckigen Knien lag ein Heckler & Koch-Sturmgewehr. Im Hintergrund gaben ordentlich aufgestapelte Leichen, als wären sie Sandsäcke, ein Bollwerk gegen zudringliches Gesocks ab. George spürte, daß dieser Atomkrieg das Beste war, was dem Mann hatte passieren können.
»In seinem Unterschlupf steht ein vielseitig sortierter Vorrat an Dosensuppen«, erklärte Morning. »Er hofft, daß Fremde sie ihm zu stehlen versuchen, damit er sie erschießen kann. Schon vor dem Krieg ist in elf Bundesstaaten des Westens der Vereinigten Staaten bei Ratten die Beulenpest endemisch aufgetreten.«
Die Lymphknoten im Hals des Überlebenden hatten die Größe von unter die Haut gepflanzten Golfbällen. Morning drehte das Periskop. Montana erzitterte unter den Pfoten unüberschaubar gewaltiger Rattenvölker. Unbestattete Tote pflasterten die Straßen.
»Wären Sie eine Krankheit – virusbedingte Gastroenteritis, ansteckende Gelbsucht oder Amöbenruhr –, könnten Sie sich keine vorteilhafteren Verhältnisse als auf der Erde nach dem Atomkrieg wünschen. Die ultraviolette Strahlung hat das Immunsystem Ihrer Wirte neutralisiert. Die allgegenwärtigen Insekten verbreiten Sie praktisch überall. Keine pasteurisierte Milch, keine Kühleinrichtungen für Lebensmittel, keine Müllabfuhr, keine Impfaktionen… Das alles sind günstige Voraussetzungen für Ihre Existenz.«
In jeder Richtung der Kompaßrose gedieh ein neuer Mikroorganismus. Kein Todesfall blieb abstrakt. An der Cholera starb ein bestimmtes nigerianisches Kind, lag zu einer grausamen, scheußlichen Pietä ausgestreckt auf dem Schoß seiner Mutter. Ein konkreter rumänischer Maschinist verreckte an Meningokokken- Hirnhautentzündung, ein ganz bestimmter iranischer Lehrer an von Läusen übertragenem Typhus…
Freitag.
»Unfruchtbarkeit«, sagte Morning.
Das Wort klang neutral, klinisch, frei von Bedrohlichem. Dann blickte George in die Zeitfalten.
In Kambodscha saßen ein Mann und eine Frau auf einem Dorfplatz und weinten. »Die Strahlung«, erläuterte Morning. »Sie können nie Kinder haben.«
Sie müßten die Stadt mit den Marmormauern finden, dachte George. Nostradamus hat das Problem vorausgesehen.
Eine polnische Mutter erlitt eine Fehlgeburt. Das Gespenst der Fehlgeburt suchte eine Familie in Pakistan und eine in Bolivien heim. Schlimmer jedoch waren die Lebendgeburten. Eine Ära war angebrochen, in der es Tausender von Kindern bedurfte, um die Welt mit evolutionär-selektiven Vorteilen wie Armen, Beinen und Großhirnrinden auszustatten. »Man paare ein verstrahltes Chromosom mit einem zweiten verstrahlten Chromosom«, sagte Morning, »und es kommt dabei nichts Gutes heraus.«
»Eins müssen Sie mir mal verraten«, bat George, dem von Übelkeit schwindelte. »Wer behandelt Ihr Überlebenstrauma?«
Die Therapeutin strich eine Falte ihres grauen Rocks glatt. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie im kleinlautesten Tonfall, den er je von ihr gehört hatte.
*
Aus sittlichen Erwägungen lehnte der junge Pastor Kiefer Sparren es ab, Samstagabends an der Erebus-Pokerrunde teilzunehmen. Beim Glücksspiel, so wußte er, handelte es sich – nach Sexualität und Ökumenismus – um Satans drittliebstes Freizeitangebot. Die übrigen Evakuierten, die diese Überzeugungen nicht mit ihm teilten, versammelten sich an den Samstagabenden im Innern des Silberdollar-Kasinos, in dem die Spielgeräte unablässig flackerten und ratterten, um den grünen Filztisch.
Henker Tarmac sortierte die Joker aus, mischte die übrigen Karten und verteilte sie. Mittlerweile hatte er noch zweieinhalb Kilo abgespeckt. »Setzen Sie. Wir spielen mit sieben Karten.« Die Spielkarten glitten durch seine Hände. »Zwei sticht.«
»Heute hab ich durchs Periskop gesehen…«, fing George zu erzählen an.
»Sie haben gesehen, Sie haben gesehen«, maulte Henker hämisch. »Die Einsätze bitte. Bube.«
»Einen Dollar«, sagte Overwhite.
»Ich passe«, nuschelte Wengernook.
»Ich erhöhe«, sagte Randstable.
»Morning hat mir gezeigt…«, setzte George noch einmal an.
»Am besten stimmen wir ab«, meinte Henker. »Wer von den Anwesenden möchte hören, was Paxton heute durchs Periskop gesehen hat?«
Niemand meldete sich. Henker teilte eine zweite Runde Karten aus. »As.«
»Wir haben’s selber gesehen«, sagte Wengernook, bibberte dabei wie ein überzüchtetes Hündchen. »Guter Gott…«
»Das Bundesforschungslabor Sugar Brook hat das Periskop konstruiert«, plauderte Randstable, dem es gelungen war, sechs Poker-Chips auf ihre Kante zu stellen. »Aber nicht meine Abteilung… Die Leutchen für Führungs- und Befehlsinfrastruktur.«
»Drei Dollar«, sagte Overwhite, langte unter die Schlinge und tastete seine Achselhöhle nach Tumoren ab.
»Ich habe ’ne Frage.« George nahm die Joker, wetzte sie aneinander wie Rasiermesser und Streichriemen. »Wenn Amerika und Rußland über das Sonnentod-Syndrom Bescheid wußten, weshalb haben Sie dann Pläne für verschiedene Angriffsarten und so was ausgearbeitet?«
»Na, Sie müssen sich verdeutlichen, daß die Sonnentod-Theorie auf einem unvollständigen Modell der Erdatmosphäre beruht«, sagte Henker und biß die Zähne zusammen, als hätte er starke Schmerzen. »Alles hängt von der Größe der Staubteilchen, der Höhe der Rauchsäulen, der Stärke der Regenfälle und ähnlichen Faktoren ab.«
»Man muß die Sonnentod-Theorie mit Vorsicht genießen«, sagte Wengernook, klaubte Zigaretten und ein Zündholzheftchen mit einer schlüpfrigen Abbildung aus seinem Hemd. »Das ist eine reichlich weithergeholte Idee.«
»Aber der Sonnentod-Effekt hat stattgefunden«, widersprach George. »Hier auf unserem Planeten.«
»Das ist ein reiner Sonderfall«, entgegnete Wengernook. Er entzündete ein Streichholz. »Bei anderem Kriegsverlauf wären weniger städtische und industrielle Ziele getroffen worden. Weniger Brände wären ausgebrochen, weniger Ruß wäre entstanden, folglich wäre das Sonnentod-Syndrom ausgeblieben, und, und, und…« Er versuchte die Streichholzflamme ans Vorderende seiner Zigarette zu halten, aber schaffte es nicht.
»As«, sagte Henker.
»Und zu guter Letzt hätten wir ein erheblich wünschenswerteres Ergebnis gehabt«, resümierte Wengernook.
»Ich hab’s«, rief Randstable. Er riß George einen Joker aus der Hand und legte ihn auf die sechs senkrecht aufgestellten Chips.
»Was haben Sie?« wollte George erfahren.
»Die Lösung«, sagte Randstable.
»Für den Krieg?« fragte George.
»Des Rätsels.« Der Joker wackelte auf seinen Plastikstützen.
»Welchen Rätsels?«
»Sverres Rätsels. Warum ein Rabe wie ein Schreibtisch ist.«
»Warum denn?«
»Ein Rabe ist wie ein Schreibtisch«, sagte das Ex-Wunderkind, während sein kleines Brückchen umstürzte, »weil Poe über den einen ebenso geschrieben hat wie über den anderen.«
*
Auf und ab, kreuz und quer wanderte die junge Schwarze an der Küste ihres tropischen Privatparadieses entlang. Der Strand gleißte von Gefunkel, als müßte der Sand sich in zierliche Kristallgefäße umformen. In den durch die Gezeiten zurückgelassenen Tümpeln leuchteten spitze Scherben des Sonnenlichts. Das Meer ringsum glich einem flüssigen, blauen Edelstein.
Die Frau war ungefähr dreißig. Sie war nackt. Ihre wunderbare Haut hatte die Farbe und Lebendigkeit heißer Schokolade. Als sie stehenblieb und einen tiefen, ergiebigen Atemzug nahm, schwebten ihre herrlichen Brüste geradezu wie mit Helium gefüllte, anläßlich eines großen sportlichen oder politischen Siegs gestartete Ballons aufwärts. George hielt sie für die begehrenswerteste Frau, die er je vor Augen bekommen hatte.
In der Nähe eines Banyanbaums lag halb bedeckt ein Stück Seil am Strand. Die Frau grub es aus. Sandkörner stoben umher und glitzerten im Sonnenschein wie Funkenflug. Die Frau drehte das Seil in den Händen, schuf daraus ein furchtbares Gebilde. Ihre Verzweiflung knüpfte mit geschickten Fingern eine Schlinge.
George versuchte, die Augen vom Periskop zu nehmen, aber konnte den Griff der eigenen Fäuste nicht lockern.
Die letzte Frau der Erde ging zu dem Baum, warf das Seil über einen Ast, während Wellen ans Ufer brandeten und in den Strandtümpeln die Sonne leuchtete, und erhängte sich; ihr Schatten, der auf dem Sand hin- und herhuschte, hatte die Umrisse eines Sterns.
George kauerte sich unter dem Periskop aufs Gesäß und keuchte vor sich hin. »Wir sind fertig?« fragte er; es war eine halbe Frage, halb eine Feststellung.
»An diesem nicht rückgängig zu machenden Zeitpunkt der Weltgeschichte lebt nirgendwo mehr ein Mensch – mit der geringfügigen und fragwürdigen Ausnahme dieses U-Boots.«
Der Einsiedlerkrebs hatte seine Schneckenschale verlassen. Er bestand nur noch aus einem zittrigen Klumpen weichen Protoplasmas. »Niemand kann mehr auf einem elektrischen Pferd reiten.«
»Stimmt.«
»Oder den Großen Wagen betrachten.«
»Richtig.«
»Oder Schauspielunterricht nehmen.«
Nun weinte er maßlos, ohne daß er hätte angeben können, ob er die vielen Tränen um Justine vergoß, um Holly, um den Franzosen, der die Kartoffel ausgebuddelt hatte, den iranischen Lehrer, den von Läusen übertragener Typhus dahingerafft hatte, oder um die letzte Frau der Erde…
Morning kniete sich neben ihn, während er seiner Trauer ihren Lauf ließ. Sie drückte ihn, tupfte ihm die Tränen ab.
Er erwiderte ihre Umarmung. Seine Schußwunde pochte in einem Takt, als wäre sie eine in seinem Bauch implantierte Kastagnette. Er faßte, als wollte er die Beschwerden durch Handauflegen lindern, unter sein Hemd; seine Finger berührten Glas, und langsam zog er seinen Leonardo hervor.
»Schauen Sie sich das an«, sagte er, leckte sich Tränen vom Mund. »Das bin ich. Und da sind Sie. Und das ist unser Kind.«
»Ich verstehe Sie nicht. Sind Sie auch Kunstmaler?«
»Ich habe das Bild schon mal erwähnt. Leonardo da Vinci war der Maler. Sie wissen ja, der Mann mit dem Geier-Komplex.«
»Eine Fälschung, habe ich recht?«
»Es ist ein Original-Leonardo. Der geniale Prophet Nostradamus hat ihn dazu inspiriert. Es zeigte die Zukunft. Sehen Sie selbst. Das Kind wird Hollys Halbschwester. Sie werden die Mutter sein.«
Morning nahm die Glasmalerei in die Hand. Die Scheibe spiegelte ihr Helligkeit in die blaugrünen Augen. »Diese Person sieht tatsächlich wie ich aus. Wie gespenstisch.«
»Das sind Sie.«
»Und das Kind…?«
»Wäre Justine zum zweitenmal schwanger geworden, hätten wir das Kind Aubrey genannt. Haben Sie schon mal ’n Kind gehabt?«
»Nein.«
»Kinder stellen echt allerhand erstaunliche Sachen an.«
»Ich bin nie verheiratet gewesen. Aubrey?«
»Aubrey Paxton.«
»Hübscher Name.«
»Und wir werden noch mehr Kinder haben. Aubreys Brüder und Schwestern. Holly hatte sich immer ein Schwesterchen gewünscht.«
»Wie kann denn jemand Kinder in…?«
»In diese Welt setzen? Kann sein, ich kapiere keinen Deut von Psychologie oder Sonnentod-Syndrom, Dr. Valcourt, aber eins hab ich in der Grabmalwerkstatt Crippen gelernt: Unsere Kinder leben in jeder Welt, die sie erben können.«
»Sie sind zeugungsunfähig.«
»Es besteht Grund zu der Hoffnung, daß das kein dauerhafter Zustand ist.«
»Als nächstes behaupten Sie wohl, es stünde in Ihrer Macht, zum Stifter einer Wiederbegründung der Menschheit zu werden.«
Justine Paxton hatte ihrem Mann öfters vorgeworfen, er hätte zuwenig Ehrgeiz. Sie sollte hören, dachte George, was ich nun zu sagen habe. »Vielleicht kriegen wir’s hin.« (Vielleicht schafften sie es wirklich!) »Ist ja möglich, wir haben’s mit einer der unerwarteten Atomkriegsfolgen zu tun, von denen Sie immer reden. Ihre Fruchtbarkeit ist…?«
»Ich wüßte von keinen Problemen.« Morning hob das Bild an, fuhr mit den Fingerkuppen über die flachen Höcker und Furchen der Farbe. »Woher haben Sie das Ding?«
»Von einer zivilen Passagierin. Nadine Covington. Sie hat schwarzes Blut.«
»Schwarzes?«
»Es ist schwarz wie Tinte.«
»Ich bezweifle, daß man sie als glaubwürdig einstufen kann.«
»Ich vertraue ihr.«
Beide standen sie auf, ohne ihre Arme zu entwirren. Nochmals umfingen sie sich. George nahm seinen Leonardo. Die Formulierung ›Wiederbegründung der Menschheit‹ klang ihm noch in den Ohren, als er sich verabschiedete. Erkennst du es jetzt, meine arme, hingemordete Justine? Du hast doch keinen Faulenzer geheiratet.
*
Korvettenkapitän Olaf Sverre
Kapitän des U-Boots
Donald Duck
(ehedem
SSBN 713 New York City
der Kriegsmarine der Vereinigten Staaten)
gibt sich die Ehre
Mr. GEORGE PAXTON
zu
einem
Festbankett
am 29. Januar um 20 Uhr
ins Offizierskasino einzuladen
*
Die Ausrottung der eigenen Rasse ist kein leicht begreiflicher Vorgang. Nur indem er immer wieder – für sich allein – Periskop Nummer I benutzte, gelang es George allmählich, Ausmaß und Tragweite des Geschehens zu überblicken. Stundenlang hintereinander hielt er auf seinem Heimatplaneten Umschau, steckte die Nase tief in die Zeugnisse des Untergangs. Er guckte sogar nach den Sternen. Nichts war von ihnen zu sehen. Außer verbranntem Land, vergiftetem Wasser, strenger Stille, da und dort einer Muschel, gelegentlich einer Schabe, hier und da einem Grasbüschel, den Trauben eingesalzter Leichen, die in den südatlantischen Zeitfalten schwammen wie Flöße aus Dörrfleisch, gab es nichts mehr.
Brian Overwhite hatte unrecht. Der menschliche Geist konnte sich an alles gewöhnen. An Kindesmißhandlung durch Eltern. An Auschwitz. Und ebenso an das Sonnentod-Syndrom. Es ist bloß Blut, sagte der Verstand. Es sind nur Schmerzen. Die Aufgabe ist lediglich, Menschen in Öfen zu schieben. Was wir erleben, ist einfach nur das Ende der Welt…
Vor langem war an einem letzten Junitag Georges Großvater verstorben, ein Ereignis, das die Familie in eine peinliche Klemme gebracht hatte. Sollte sie am 4. Juli, dem Nationalfeiertag, das gewohnte Picknick veranstalten? Georges Großvater hatte den 4. Juli stets liebend gern gefeiert. Für diesen Anlaß hatte er jedesmal Raketen gebastelt, als deren Sprengladungen Kirschen dienten, und sie gegen ein Balsaholz-Modell Fort McHenrys eingesetzt. Während der Schlacht, in deren Verlauf Spielzeugfregatten Murmeln auf die Zinnen verschossen und rings um eine kleine, zerfledderte Fahne der Vereinigten Staaten die Kirschbomben platzten, sang die Familie die Nationalhymne.
Den Ausweg aus dem Dilemma hatte Georges Tante Isabella gewiesen. »Vati wäre es recht, wenn wir feiern«, hatte sie beteuert. »Vati wäre mit uns unzufrieden«, hatte sie beharrlich versichert, »wenn wir uns keinen schönen Tag machen.«
Man veranstaltete das Picknick, und zwar mit allem Jubel und Trubel. Beim Hufeisenwerfen segelten die Hufeisen nur so umher, Bier floß in Strömen, Banjos klimperten, man nagte alle Brathähnchen ab, Blaubeerkuchen verschwanden im Eifer des Gefechts spurlos in Schlünden, und über Fort McHenry leuchteten rot die Raketen. Alle waren sich darin einig gewesen, daß Tante Isabella die vernünftigste Festlegung herbeigeführt hätte.
Und so kam es, daß George, wenn Obermaat Rush mit der Menükarte fürs Abendessen kam, nur noch die opulentesten und soßenreichsten Gerichte wählte. Immer häufiger besuchte er das Silberdollar-Spielkasino und ließ sich in vom Scotch hervorgerufenen Leichtsinn am Kartentisch auf die gewagtesten Spielrunden ein. Die Einladung zu Kapitän Sverres Festbankett verursachte ihm einen Nervenschauer der Freude nach dem anderen: Essen! Nachtisch! Kaffee!
Der Menschheit wäre es recht, wenn ich feierte, sagte er sich. Die Menschheit wäre mit mir unzufrieden, wenn ich mir keinen schönen Tag machte.
*
Das mit Samtvorhängen dekorierte, durch Kristall-Kerzenleuchter erhellte Offizierskasino der Donald Duck lieferte einen überzeugungskräftigen Beweis dafür, wie geschmack- und anspruchsvoll sich Gelder des Verteidigungshaushalts investieren ließen. Im Gegensatz dazu orientierte sich die Festlichkeit selbst stärker am lebensfrohen Vorbild des kaiserlichen Roms, kokettierte ein wenig mit der Babylonischen Hure und erlaubte sich Anleihen bei Gomorrah: Goldene Teller. Mit Juwelen verzierte Trinkkelche. Das Tischtuch war so dick, daß es einen ganzen Liter teuren Weins aufsaugte, ohne ein Fleckchen zu hinterlassen. Das Bedienungspersonal, ein Dutzend Matrosen und Unteroffiziere, patrouillierten im dienstlichen Blau um die Festtafel, schoben mit Schinkenplatten, Rollbraten, Reihen von Brotlaiben, Suppenterrinen und Kannen samtigschwarzen Kaffees vollgestellte Wägelchen.
Die Platzkarten staken in Keramikdelphinen. George hatte seinen Sitzplatz zwischen Overwhite und Pastor Sparren und geriet dadurch ins Kreuzfeuer einer Streitigkeit über das STIRB-III-Abkommen. (Offenbar hatte eine der Fernsehsendungen Sparrens den Ausschlag bei der Weigerung des Senats der Vereinigten gegeben, den Vertrag nicht zu ratifizieren.) Seine Bekannten wirkten auf ihn dermaßen in Kummer und Verwirrung gehüllt, als trügen sie graue ARES-Monturen. Das Aussterben der Menschheit trübte ihnen die Feststimmung. Wengernook nuckelte an einer unangezündeten Zigarette. Randstable baute aus dem Besteck sonderbare Perpetuum-mobile-Konstruktionen und warf sie zum Schluß eigenhändig um. Henkers Leibesfülle war auf knäppliche fünfundsechzig Kilo zusammengeschmolzen. Overwhites Bart sah aus, als hätte er die Räude. Sparrens breites Lächeln war geschrumpft. Sie alle müßten sich mal an Missis Covington wenden, sinnierte George. Sie sollten sich über ihre Zukunft informieren.
Am anderen Ende der Festtafel unterhielt Kapitän Sverre sich mit einem Zivilisten, einem mickrigen, ordinären Kerl, dem es gelang, gleichzeitig einen jugendlichen und großkotzigen Eindruck zu erwecken. Zwischen ihren einzelnen Äußerungen spachtelten sie gefräßig wie Scheunendrescher, als fände hier ein Wettessen der Prasser statt, Sverre bevorzugte Schinken, der junge Mann schlemmte Roastbeef. Vor Sverre stand als treuer Freund die Gin-Flasche. Der junge Mann hatte auf dem dunklen Anzug schon etliche Soßenspritzer.
»Ich persönlich bin der Ansicht, daß diese fixe Idee vom Untergang der Menschheit eine wüste Übertreibung ist«, sagte Henker. »Psychotherapeuten haben eine Marotte fürs Melodramatische.«
Wengernook nickte. »Die Erde ist viel widerstandsfähiger, als es uns diese Ausblicke durchs Periskop vortäuschen.«
Das Bedienungspersonal hatte allen guten Willen, aber offensichtlich keine Hotelfachschule besucht, es schwang und knallte die Speisen auf die Tafel, als schaufelte es Kohle in den Kessel eines Dampfers. Man überschüttete die Gäste nachgerade mit Fontänen aufgeschäumten Champagners. George trank genug, um in der Luft Musik und im Kopf ein angenehmes Ohrensausen zu hören.
Er mußte es sich eingestehen: Morning hatte den Gedanken an Aubrey Paxton nicht unbedingt mit Begeisterung aufgenommen. Du mußt beachten, sagte sich George, für eine Frau ist es ein großer Schritt, sich auf ein Kind und die Wiederbegründung der Menschheit einzustellen. Sie muß sich erst damit vertraut machen.
»Auf diesem U-Boot werden keine allzu guten Filme vorgeführt«, beklagte sich Pastor Sparren. »Krieg und Frieden ist doch wirklich langweiliger Schrott.«
»Was soll man denn zeigen, Ihre alten Fernsehsendungen?« höhnte Overwhite.
»Haben Sie schon einmal König der Könige gesehen?« fragte Sparren. »Es ist einfach wundervoll, wie Orson Welles das ›T‹ in ›Apostel‹ ausspricht.« Warm klammerte seine Hand sich an Georges Schulter. »Ich bete noch für Sie.«
»Nett von Ihnen«, sagte George.
Sobald man das Dessert servierte – die Evakuierten hatten die Wahl zwischen deutschem Marmorkuchen und Zitronenbaiser –, zog Sverre ein Fleischmesser aus einem Schinken und schlug es gegen sein Wasserglas. Alle Blicke fielen auf ihn. Eilig verließen die Bedienungen das Kasino.
»Sicher geht’s um die Antarktis«, flüsterte Randstable. »Bestimmt erzählt er uns was über die Antarktis.«
»Das heutige Festbankett ist nicht ohne Anlaß veranstaltet worden«, leitete der Kapitän seine Tischrede ein. »Dr. Valcourt hat mir zur Kenntnis gegeben, daß sechs geistig und körperlich gesunde Überlebende von Bord gehen, wenn wir bei der Station McMurdo anlegen. Wir sind hier zusammengekommen, um Ihre Genesung zu feiern. Sie haben der Ausrottung in die Fratze geblickt und doch überlebt. Operation Erebus wird Erfolg haben.«
Er legte das Fleischmesser auf eine Leinenserviette, goß Gin in einen goldenen Kelch, trank einen Zug.
»Ausrottung. Ein häßliches Wort, das uns abstößt und anödet. Aber was bedeutet es überhaupt? Wenn man eine Rasse ausrottet, liebe Gäste, ermordet man nicht nur ihre gegenwärtigen Mitglieder, sondern tötet auch die Generation, die in ihrem Erbgut schlummert, und folglich auch die Generation, die aus dem Erbgut dieser hypothetischen Nachfahren hervorgegangen wäre, und genauso die nächste und übernächste Generation. Ausrottung ist ein Verbrechen ohne Ende, man schlachtet lautlos alles Leben ab, das hätte werden können. Der einzige Weg ins menschliche Dasein ist der menschliche Geburtskanal, meine Herren. Es gibt keinen anderen Einlaß.«
»Was ist der Mann eigentlich«, tuschelte Wengernook, »etwa einer von den intellektuellen Militärakademie-Klugscheißern?«
»Der Lawrence von Arabien der Marine«, raunte Henker.
Sverre streifte seinen Frack ab, warf ihn auf den Fußboden und krempelte den Hemdsärmel hoch.
»Von einem bestimmten Zeitpunkt des umfangreichen atomaren Wettrüstens an ist allgemein bekannt geworden, daß bei einem Atomkrieg die Gefahr einer Ausrottung der Menschheit bestand. Diese Nachricht hat das Universum erbeben lassen. Ihre Spezies hat sehr wohl gezählt, meine Herren, viel mehr, als Ihnen bewußt gewesen ist. Die Planeten taumelten, die Bäume weinten, der Stein schrie auf. Aber wo gab es die größte Empörung? An dem Ort, an dem meinesgleichen wohnt. Wir sind immer bei Ihnen gewesen und haben auf Einlaß gewartet… Und jetzt ist uns die Tür zugeschlagen worden.«
»Wo wer wohnt?« fragte Henker.
»Seinesgleichen«, antwortete Overwhite.
»O Gott«, sagte Randstable.
»Zugeschlagen?« wiederholte Sverre.
Georges Schußwunde fing zu pochen an. Auf Einlaß gewartet…
»Unsere Empörung war so groß, daß es uns kurz vor Kriegsausbruch gelang, eine schwache Wurzel ins Leben vorzuschieben«, sagte Sverre. »Es ist uns sogar möglich gewesen, uns in Ihre Angelegenheiten einzumischen.«
»Weiß irgendwer von Ihnen«, fragte Henker, »wovon er spricht?«
»O je, ich glaube ja«, sagte Randstable. »O Gott.«
Sverre ergriff das lange Fleischmesser, das von Fett glänzte. Was danach geschah, sollte George viele Nächte lang immer wieder noch einmal im Traum erleben. Langsam und unter sichtlichen Schmerzen zerschnitt Sverre seinen Arm. Die Klinge zersägte Arterien, trennte Muskeln. Aus der Verletzung sprudelte eine glänzend-schwarze Flüssigkeit, als hätte jemand in seinem Fleisch nach Öl gebohrt und wäre auf welches gestoßen. Schwefelgeruch breitete sich aus. Das aufs Tischtuch gespritzte Blut gerann nicht, sondern ballte sich zu einem zähen Klumpen. Der Klumpen nahm die Gestalt eines kleinen menschlichen Kopfs an, der herumkeifte und dessen Gesicht eine beunruhigende Ähnlichkeit mit Sverres Gesichtszügen aufwies.
»Wir sind die Erben, für die es nichts mehr zu erben gibt«, sagte der blutbesudelte Korvettenkapitän. »Wir sind die schwarzblütigen Massen, deren Ahnen man ausgerottet hat, ehe sie uns zeugen konnten«, erklärte der Kapitän der Donald Duck.
Er setzte sich, preßte eine Serviette auf die Wunde und betäubte sie und sich mit Gin. Der Blutkopf zerfloß zu einem Blutfleck.
»Wir sind die annullierten Generationen«, sagte Korvettenkapitän Olaf Sverre von der Kriegsmarine der Vereinigten Staaten.
Dem Atomkrieg folgten vielerlei unvermutete Überraschungen. Soviel hatte George von seiner Therapeutin gelernt. Annullierte Generationen…
Overwhites Lippen formten Wörter, die er nicht aussprechen konnte. Henker war so weiß, als wäre er mit Mehl bestäubt worden. Wengernook nahm eine unangezündete Zigarette aus dem Mund und drückte sie aus. Eine Aura gerechten Zorns umgab dagegen Pastor Sparren. »Abscheulicher Hexer!« schnauzte er. »Den ›Zauberern, den Götzendienern und allen Lügnern wird ihr Anteil sein im See, der von Feuer und Schwefel brennt‹!« zitierte er die Bibel.
»Erbarmen«, rief Randstable. »Pause!« Er zog einen Taschenrechner aus dem Jackett.
»Sie meinen«, fragte George, »das ist nur ’n Trick?«
»Trick? Nein, eine Quantenabweichung.« Randstables Fingerspitzen hüpften über die winzige Tastatur. »Normalerweise passiert so was ausschließlich auf subatomarer Ebene, wo die Pionen, Antineutrinos und so weiter als Vakuumfluktuationen aus dem Nichts gesaust kommen.« Auf dem Taschenrechner-Display erschien eine Reihe Nullen. »Im Makrokosmos, das heißt, wo wir Menschen und so weiter sind, ist die kalkulierbare Wahrscheinlichkeit für das Eintreten eines solchen Vorfalls sehr, sehr gering, ja tatsächlich sogar fast null.«
Der Kapitän erzählte von den ausgesperrten Generationen. Er schilderte die ersten Materialisationen, bat seine Zuhörer, sich die Gestationsmenschen – Männer, Frauen und Kinder – der antarktischen Gletscher zu vergegenwärtigen, der potentiellen Menschen, deren jeder auf dem Höhepunkt seines Eventuallebens, der Zeit der größten Erfüllung und Verheißung, aus dem südpolaren Kontinent hatte geboren werden müssen.
»Malen Sie sich aus, wie wir durchs Eis emporsteigen, in die kalte Morgenfrühe durchbrechen, uns den Schnee aus den Augen reiben, unsere hypothetischen Gliedmaßen recken. Meine Eltern sind in der Schlacht von Washington umgekommen, zwei Wochen bevor sie mich gezeugt hätten. Ich wäre nach Annapolis gegangen. Ich hätte meinem Vaterland zu seinem Ruhm ehrenvoll gedient. Ich hätte…«
Sverre ließ jetzt den Trinkkelch stehen und trank direkt aus der Flasche.
»Wissen Sie, was unsere Empörung uns eingebracht hat? Ein Jahr. Ein Jahr ist nichts, meine Herren. Mein Leben ist schon zur Hälfte vorbei. Ich kann Ihnen verraten, wie viele Stunden mir noch bleiben. Wieviel Minuten.«
Sprunghaft wechselten vor Georges Augen Gesichter. Nadine Covington. Theophilus Carter. Leutnant Moritz. Alles Schwarzblütige.
Morning Valcourt.
Gehörte sie ebenfalls zu ihnen? War Aubreys Mutter eine Frau aus der Zukunft?
»Als Annullierter muß man seinen zeitweiligen Ausnahmeaufenthalt im Leben gut nutzen«, sagte Sverre. »Ein Jahr ist gar nichts.«
Am allerwichtigsten war gewesen: Sich Wärme zu verschaffen. Also hatte man sich als Piraten betätigt, ARES-Monturen-Frachter während ihrer Ozeanüberquerungen gekapert.
»So ein Kleidungsstück ist hervorragend geeignet«, erklärte der Kapitän, »um sich vor Kälte zu schützen.«
Ein Jahr. Nichts. In einem Jahr konnte man keine Familie gründen. Im Lauf eines Jahrs ließ sich keine große Republik ausrufen. Aber man kann mit etwas Glück, nachdem man die erforderlichen politischen Maßnahmen durchgeführt hat, eine Anzahl an Schlüsselpositionen aktiver Individuen aufspüren und sie zur Rechenschaft ziehen. Also baut man ein Gerichtsgebäude. Einen Richtertisch. Einen Zeugenstand. Eine Anklagebank. Auf dem Grunde des McMurdo-Sunds liegt ein U-Boot mit MultiAttack-Fernraketen. Annullierten-Marine-Froschmänner holen es herauf. Man läuft aus. Man rettet sechs Männer aus dem Rachen des Weltuntergangs. Eigentlich sollen es mehr sein – auch Präsident Orlaff, Senator Krogh, der Marine-Staatssekretär und der Sicherheitsberater sind ebenfalls gefragt –, aber sie sind schon tot.
»Gericht?« Henker wollte soeben eine Gabelvoll deutschen Marmorkuchen essen, aber ihm mißlang dies Vorhaben. »Haben Sie ›Gericht‹ gesagt?«
»Ja, Gericht«, bestätigte Randstable ihm leise.
»Wir wünschen Einlaß«, sagte Sverre. »Statt dessen müssen wir uns mit Wissen zufriedengeben. Sie werden uns erklären, warum dieser Krieg sein mußte. Bedenken Sie, was für ein Glück Sie gehabt haben. Wir hätten Sie dem Weltbrand überlassen können, wie wir es im Falle der anderen beschlossen haben. Der Gegenseite. Ihre unsoliden Parteien, der bankrotte Marxismus, ihre ungeheuerlichen Anmaßungen, alles ist gnädig ausgemerzt. Sie hingegen sind ambivalente Personen. Man kann Sie nicht klar einordnen. Ihre Undurchschaubarkeit war es, die Sie gerettet hat, sonst nichts.«
George hatte sich noch nie für eine ambivalente Person gehalten.
»Sicherlich möchten Sie die Schuld an dieser Tragödie doch wohl nicht uns zuschieben«, brummte Overwhite. »Alles was in unserer Macht stand, haben wir getan, um…«
»Äh, einen Moment mal, Brian«, unterbrach ihn Randstable. »Ganz offensichtlich haben sie vor, die Schuld uns anzulasten. Ich meine, wenn Sie an die Alternative denken… Sie wissen schon, die die Ausrottungsschleife.«
»Sie haben über uns keine Jurisdiktion«, sagte Wengernook. »Keinerlei. Null. Nada.«
Eine neue Stimme griff in den Wortwechsel ein. »Das ist leider nicht wahr.«
Sverres Tischnachbar war aufgestanden. »Die McMurdo-Sund-Konvention läßt die Einsetzung eines Internationalen Militär- und Ziviltribunals zu«, stellte der junge Mann klar, indem er einen Brocken Zitronenbaiser hinabschlang. »Anhang Eins umfaßt die gegen Sie erhobenen Anschuldigungen. Aber keine Sorge, sobald das Verfahren anfängt, fechten wir die Zuständigkeit des Gerichts an.«
Georges Appetit auf Nachtisch, der kurz zuvor noch die Stärke eines urtümlichen Gelüsts hatte, war ihm jetzt völlig verdorben worden. Ein Gerichtsverfahren gegen uns? Ich vor einem Tribunal? Alles bloß wegen eines lächerlichen Abgabevertrags?
»Zum Donnerwetter«, raunzte Henker, »wer sind Sie?«
»Ihr Verteidiger. Martin Bonenfant, Annullierten-Anwalt. Meine Mitarbeiter und ich sind damit beauftragt worden, Ihren Fall vor Gericht zu vertreten. Ich empfehle Ihnen dringend, uns Ihre Verteidigung übernehmen zu lassen.«
»Wir brauchen keinen Scheißverteidiger«, behauptete Wengernook.
Bonenfant strich sich mit den Fingern durchs glatte, schwarze Haar. »Doch, Sie brauchen einen, obwohl Ihre Aussichten besser stehen, als Sie vielleicht vermuten. Wir haben Untersuchungen über die Moral Ihrer Kriegsgegner sowie die vielen einfallsreichen Vorkehrungen vorgenommen, die von Ihnen veranlaßt worden sind, um eine gegenseitige Vernichtung auszuschließen. Ist Ihnen bekannt, daß die Russen den Geist und gelegentlich auch den Buchstaben beider STIRB-Abkommen verletzt haben?« Er stopfte noch mehr Zitronenbaiser in sich hinein. »Und wenn alles nichts mehr hilft, habe ich noch ein, zwei Finessen in der Hinterhand. Ich bin der Meinung, wir sollten Anklagepunkt um Anklagepunkt auf Freispruch plädieren.«
Er ist noch so jung, dachte George. Sie haben zu unserer Verteidigung ein Kind geholt.
»Ja, ein Plädoyer auf Freispruch ist bestimmt die aussichtsreichste Strategie«, brabbelte Randstable halblaut. Er wandte sich an seine zukünftigen Mitangeklagten und vollführte weitschweifige, unbeholfene Gebärden, als hoffte er, damit könnte er sie beschwichtigen. »Ich will’s mal so ausdrücken. Ein nichtexistentes Photon kann Energie von der Unschärfe-Relation ausborgen, um ein echtes Positron-Elektron-Paar zu bilden, das die Entstehung des Photons storniert, von dem es vorher geschaffen worden ist.«
»Klingt wie Hexerei«, bemerkte dazu Sparren.
»Nein«, erwiderte Randstable. »Das ist Physik.«
Mit bedächtiger Erpichtheit leckte Bonenfant sich restliche Matsche des Zitronenbaisers von den Lippen. Offenkundig verbanden die Annullierten mit jeder Annehmlichkeit eine gewisse Furcht vor dem Zukurzkommen. Er erklärte, daß er, wäre er auf normalem Weg ins irdische Dasein geboren worden, in Philadelphia wohnhaft und als Rechtsanwalt tätig gewesen wäre. Er hätte Kindesmörder und Neonazis verteidigt.
George stand auf. »Ich möchte gerne hier und jetzt feststellen, daß ich…«
Das Ereignis, das ihn daran hinderte, mit Nachdruck das Wort ›unschuldig‹ auszusprechen, und sich so unversehens ergab, wie ein Pfeil einen Vogel im Flug trifft, war das plötzliche Eindringen der Offiziere und Mannschaften der Donald Duck, Kapitänleutnant Grass’, Leutnant zur See Max’, Leutnant zur See Moritz’, Oberleutnant zur See Brusts, Obermaat Rushs sowie zweihundert weiterer Besatzungsmitglieder. Sie kamen die Wendeltreppe herabgetrampelt, stürmten als aufgebrachter Mob rücksichtslos das Kasino.
Die Offiziere, die allen voran hereingedrängt hatten, schnappten sich von der Festtafel Steakmesser und fügten sich damit Schnitte zu, reichten dann die Messer den Matrosen, die nur darauf warteten. Der Lichtschein der Kerzenleuchter glomm in den Rinnsalen ihres schwarzen Bluts. Ein Gestank erfüllte das Kasino, als hätte man Schwefel angezündet. Annulliertenblut spritzte in Weinkelche, glasierte den Nachtisch; es besprenkelte Wengernooks Stirn, verklebte Sparrens Haar, sickerte über Randstables Wangen, verfilzte Overwhites Bart, besudelte Henkers Hände und rann in Georges Schoß.
»Wir wollen leben«, riefen die Annullierten. »Laßt uns ein!«
In der Mitte der Festtafel sammelte sich ein Bluttümpel. Er strudelte und brodelte, sprühte wie ein Vulkan. Indem Max und Moritz in die Richtung des Blutmahlstroms gestikulierten, erlangte darin etwas Gestalt – aus der unheimlichen Substanz erhob sich lotterig eine Art von ebenholzschwarzer Skulptur.
Ein kleines Schafott mit Galgen. Eine Miniaturschlinge. Ein kleiner, etwa einen halben Meter langer Leichnam, der darin baumelte wie eine Puppe, das Gesicht verquollen, die Zunge zuckte auf schwarzen Lippen. Wie beim Rückwärtslauf des Films einer im Schmelzen begriffenen Statuette bildeten sich nach und nach, unter viel Triefen, Gesichtszüge heraus, Augen, Nase, Mund.
George grabbelte in seiner Tasche und zog seinen Leonardo hervor. Das ist meine Familie, sagte er sich. Keine annullierten Generationen können sie mir nehmen.
»Erster Anklagepunkt: Verbrechen gegen den Frieden!« schrie Leutnant Max.
»Zweiter Anklagepunkt: Kriegsverbrechen!« brüllte Leutnant Moritz.
»Dritter Anklagepunkt: Verbrechen gegen die Menschheit!«
»Vierter Anklagepunkt: Verbrechen an der Zukunft!«
Der dargestellte Leichnam hatte Wengernooks Gesicht bekommen. Es weinte tintenschwarze Tränen.
Die beiden miteinander verwandten Leutnants pusteten auf das Schafott. Das schwarze Triefgesicht unterzog sich einer Veränderung. Nun wurde Randstable wegen Kriegsverbrechen hingerichtet. Dann Sparren. Danach Overwhite. Und Henker Tarmac.
»Sie versuchen uns nur einzuschüchtern«, sagte der Generalmajor.
»Und mit Erfolg«, antwortete Randstable.
»Alles was sie wollen«, meinte Overwhite, »ist eine Erklärung.«
George senkte die Lippen auf die Glasmalerei, küßte Hollys Halbschwester. Er blickte die Leichenpuppe an und sah das, was – wie er schon wußte – daß es bevorstand: eine unerbittliche Umformung von Henkers in George Paxtons Gesicht. Er hatte sich stets gewünscht, seine Nase wäre schmaler. Es wird eine Geburt geben, schwor er sich. Es wird uns eine Aubrey Paxton geboren. Nostradamus hat was drauf gehabt. Ich bin unschuldig. Aubrey wird Einlaß auf die gute, alte, widerstandsfähige Erde erhalten.