Der Erdteil Antarktis umfaßt etwa vierzehn Millionen Quadratkilometer nahezu geschlossener Eismasse auf einem in fürchterlicher Kälte erstarrten Muttergestein. Unterm Strich ist er eine nutzlose Gegend. Als es auf der Welt noch Nationen gab, gelang es nicht einmal den unternehmungstüchtigsten von ihnen, Öl und Gas, Kupfer, Eisen oder Kohle des Kontinents auf irgendwie wirtschaftliche Weise abzubauen. In der Antarktis beträgt die Temperatur an einem warmen Tag zwanzig Grad minus. An der Station Wostok maß die Sowjetunion einmal eine Minustemperatur von 88,3 Grad Celsius.
Um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts verstieg sich die Friedensliebe der irdischen Nationen zu solcher Inbrunst, daß sie einen Vertrag mit der Erklärung unterschrieben, um diesen bedrückend ungastlichen Haufen Nichts keinen Krieg führen zu mögen. Fünfzehn unabhängige Staaten kamen dahin überein, ihre einander feindseligen territorialen Ansprüche zurückzustellen. Man brauchte keinen Reisepaß, um den Eisklotz aufzusuchen.
Gegen Ausklang desselben Jahrhunderts, fast vier Jahrzehnte nach dem Antarktisvertrag von 1959, machte sich ein Konvoi von sechs Eisbär-Raupenfahrzeugen auf eine Fahrt von der Station McMurdo längs der Ross-Schelfeisplatte zum Nimrod-Gletscher. Auf George Paxton, der im Heck des vordersten Wagens saß, wirkten die Fahrzeuge wie von Unitariern konstruierte Sherman-Panzer: Fußrasten, Metallflächen, Sehschlitzen ähnliche Fenster, keine Kanone. Die plumpen, langsamen Vehikel fuhren übers Schelfeis wie riesige Gürteltiere, die eine weiße Wüste durchwatschelten.
Den Blick auf das Transantarktische Gebirge geheftet, fühlte George, wie sich seine neugeborenen Spermatiden in den Hodenkanälchen umherwarfen. »Ein Wunder«, hatte Dr. Brust nach seiner Untersuchung Georges ausgerufen. »Bin ich wieder zeugungsfähig?« hatte George wissen wollen. »Zeugungsfähig?« hatte der Bordarzt wiederholt. »Noch lange nicht. Derartig schwache Spermatiden haben keine Zukunft. Mann, Paxton, haben Sie denn wirklich noch nichts von der Ausrottung der Menschheit gehört? Die Welt hat keinen Bedarf mehr an menschlichen Chromosomen.«
Eine Hinweistafel holperte vorbei: SÜDPOL-GEHENNA 414 5 KM. »Wartet nur, meine kleinen Freunde«, raunte George in den Bart, hinunter zu seinen Spermatiden. »Irgendwie bring ich euch an den Endpunkt der Erdachse.« Er wandte sich vom Fenster ab. Verkniffenen Blicks bewachte ihn eine junge Frau mit einem Remington-Gewehr Kaliber 12. Auf ihrem Namensschild stand GILA GUIZOT, und ihre ARES-Montur – »So ein Kleidungsstück ist hervorragend geeignet, um sich vor Kälte zu schützen«, hatte Sverre einmal im U-Boot geäußert – trug das Blutende-Hand-Emblem des Antarktischen Gardekorps. Bei ihrer ersten Begegnung hatte Gila Guizot als erstes George in seine wiederbelebten Keimdrüsen getreten.
Die Übergabe der Person Georges aus dem Gewahrsam der Kriegsmarine der Vereinigten Staaten an das Internationale Militär- und Ziviltribunal war in einer der zahlreichen Wellblechhütten der Station McMurdo erfolgt, einer morbiden, von Waltranlampen erhellten, durch Angehörige des Antarktischen Gardekorps bewachten Behausung. George saß auf einem Holzstuhl. Seine ihm kürzlich ausgehändigte ARES-Montur hatte viele Löcher, so daß ihm jedesmal, sobald jemand die Tür öffnete, sadistische Dolchstöße antarktischer Eiseskälte seine Haut stachen. Jede halbe Stunde kam ein Vertreter einer Annullierten-Fraktion in die Blechhütte und nahm hinter einem zu Schreibtischform zurechtgesägten Eisblock Platz. Sekretäre notierten Georges Aussagen. Name? Geburtsort? Religion? Mitgliedschaft in politischen Parteien und/oder Organisationen? Waren die Restaurants in New Orleans so gut, wie ich sie im Gedächtnis habe? Ist Kalifornien überwiegend warm und sonnig gewesen? König Lear war doch ein wirklich sehenswertes Theaterstück, oder nicht? Wenn meine Erinnerung nicht trügt, war Bach ein Genie, könnten Sie mir eine Melodie Bachs vorsummen, Mister Paxton? Ich glaube, Bach hätte mich zu Tränen gerührt.
Seine Verbündete während dieser Befragungen war Dennie Howe, eine zum Heulen gutaussehende, junge Schwarzblütige mit scharfen, türkisgrünen Augen und einem doppelstöckigen Lächeln. Als George die Blechhütte betreten hatte, stellte sie sich als Bonenfants Hauptmitarbeiterin vor und erklärte, sie werde ihre durch mehrere Diplome anerkannte Fachkundigkeit hinsichtlich des internationalen Rechts benutzen, um seine Befrager in Schach zu halten. Diese Frage braucht mein Mandant nicht zu beantworten. Mein Mandant ist nicht verpflichtet, den Auslieferungsantrag zwecks Bestätigung der Kenntnisnahme abzuzeichnen. Mein Mandant hat ein Anrecht auf…
Kaffee, dachte George, als der Konvoi Südpol-Gehenna 414 erreichte. Momentan gäbe ich alles für eine Tasse Kaffee. Die Eisbär-Raupenfahrzeuge rumpelten durch die Hauptstraße der Gemeinde. Auf den Gehwegen patrouillierten Polizeibeamte, sorgten dafür, daß die Demonstranten von der Fahrbahn fortblieben. Buh-Rufe und Gezischel tönten in den Wagen, verursachten George Beschwerden in der Schußwunde, hatten zur Folge, daß seine Spermatiden sich krümmten. Die Schilder und Transparente, die er vorbeihuschen sah, hatte man mit schwarzem Blut beschriftet: NIEDER MIT DEN KRIEGSVERBRECHERN – TILGT DIE VERTILGER DES MENSCHENGESCHLECHTS AUS -WENGERNOOK = HITLERS SOHN – RANDSTABLE AN DEN GALGEN – LASST UNS EIN. George bemerkte auch ein paar abweichende Meinungen: FREIHEIT FÜR DAS HARMAGEDDON-SEXTETT – KEIN FEMEGERICHT – AUCH SIE DÜRFEN SICH RECHTFERTIGEN – PAXTON WURDE REINGELEGT. Er verspürte einen peinlichen Nervenkitzel, als hätte die Wildgrover Abendpost von ihm einen Leserbrief abgedruckt, in dem er gegen die Umwandlung des Friedhofs Rosehaven in einen Golfplatz protestierte.
Sein Blick schweifte über die Gehwege hinaus. Viele Schwarzblütige erachteten ihre Zeit als zu kostbar, um sie mit Aktivismus zu vergeuden. Im Seitenhof von Wohnanlage F warfen eine Mutter und ihre Tochter sich abwechselnd einen aus Schnee gepreßten Korbball zu. Nebenan stand ein älterer Mann mit krausen, weißen Koteletten auf einem Berg Eis und tat so, als dirigierte er ein Orchester, während hinter Wohnanlage W ein Halbwüchsiger versuchte, einer Weddellrobbe beizubringen, durch einen Reifen zu springen.
Eier flogen in hohem Bogen aus den Reihen der Demonstranten, bekleckerten die Außenseiten des Raupenfahrzeugs. Dickliches Geklumpe embryonischen Pinguins sickerten an Georges Fenster hinab. Aus der mit dem Handschuh einer ARES-Montur geschützten Faust einer zornigen jungen Asiatin knallte ein Stein gegen die Windschutzscheibe, hinterließ eine sternförmige Delle.
»Das reicht!« brüllte Dimitro Eliopulos, ein dicker Brillenträger launischen Temperaments und potentieller griechischer Herkunft. Er patschte den Handteller aufs Steuerrad. »Von nun an bleiben wir den Wohngebieten fern.«
Der Konvoi durchquerte Südpol-Gehenna 414, ohne daß weitere Zwischenfälle vorkamen.
»Hier haben wir neunzig Prozent des gesamten Eises der Welt beisammen«, sagte Dimitri im späteren Verlauf des Nachmittags. »Sehen Sie dort den Gletscher? Mulock. Mein Geburtsort.«
»Geburt?«
»Für mich war’s ’ne Geburt, Paxton. Staub zu sein, dann plötzlich einen Körper und Gedanken zu haben, durchs Eis ans Licht zu dringen… Na ja, warme Decken und ’ne Zitze für mich allein hatte ich da nicht, aber es war ’n verdammt tolles Erlebnis.«
Am Rand von Eis-Gehenna 415 tanzte in ihrer ARES-Montur eine bulgarische Ballerina. Trotz der Umhüllung vermittelten ihre Bewegungen den Eindruck ausgeprägter Anmut, und ihr Gesicht spiegelte die Art intellektueller Überheblichkeit wider, die George schon so oft bei Morning Valcourt beobachtet und bewundert hatte. Morning tut in diesem Moment irgend etwas, vergegenwärtigte er sich. Etwas Alltägliches? Schläft sie? Ißt sie? Wahrscheinlich ist, daß sie sich um etwas Ernstes kümmert. Sie beschäftigte sich mit ernsthaften Überlegungen zu Leonardos Geier-Wachtraum…
Zwischen Gehenna 416 und 417 sah man einen Norweger mit Fischernetz und Eisensäge sich abmühen, um in der Eisdecke ein Loch zu schaffen. Eine Schar Pinguine watschelte in Sicht. Antarktika hatte, erläuterte Dimitri, das einzige übriggebliebene Ökosystem des Planeten, ein Dystopia der Vögel und aquatischen Säuger, das seiner unausbleiblichen Stunde harrte. Die vertrauensvollen Mienen der Pinguine, ihre Plüschtier-Niedlichkeit, ihre völlige Ahnungslosigkeit bezüglich des Vogels, der gelegentlich einen Schreibtisch abgab, machten George unendlich traurig.
»He, Paxton, vielleicht können Sie eine Meinungsverschiedenheit klären«, sagte Dimitri. »Ich wäre Grieche geworden, ja? Das heißt, ich hätte alle anderen Griechen gehaßt, stimmt’s?«
»Ach du lieber Himmel!« Gila Guizot lachte. »Das ist genau verkehrt. Du hättest die Nichtgriechen gehaßt.«
»Das leuchtet mir nicht ein«, antwortete Dimitri.
»Sieh mal mich, ich wäre Französin geworden«, sagte Gila. »Also Katholikin.«
»Und Sie wären darauf stolz gewesen«, sagte George.
»Stolz auf die französischen Katholiken?« fragte Dimitri.
»Stolz darauf«, berichtigte George geduldig, »eine französische Katholikin zu sein.«
»Da, hörst du’s?« rief Gila. »Ich habe recht.«
»Was hätte sie tun müssen«, erkundigte sich Dimitri, »um französische Katholikin zu werden?«
»Ihre Eltern hätten französische Katholiken sein müssen«, gab George Auskunft.
»Mir ist, als könnte ich mich an irgend was über Protestanten erinnern«, sagte Dimitri. »Sie wäre auch stolz auf die Protestanten gewesen, oder?«
»Sie wäre darauf stolz gewesen«, entgegnete George, »eine Protestantin zu sein. Das heißt, wäre sie eine geworden.«
»Sie wäre nur Katholikin geworden? Nicht auch Protestantin?«
»Beides ist man nie gewesen.«
»Warum nicht?«
»Man war’s einfach nicht«, sagte George.
»Schade«, meinte Dimitri. »Dann hätte sie doppelt so stolz sein können.«
»Ich glaube, wäre sie beides geworden, wäre sie weniger stolz gewesen.«
»Verarschen Sie mich nicht, Paxton.«
»Was sind Sie?« fragte Gila.
»Unitarier«, sagte George.
»Das waren die Leute, die gegen die Juden gewesen sind, habe ich das richtig in Erinnerung?« fragte Gila.
»Nein«, widersprach George.
»Gegen die Moslems?«
»Nein.«
»Paxton ist auf alle stolz«, äußerte Dimitri, ein wahrer Schlauberger.
Die Nacht brach an, aber keine Dunkelheit, lediglich die gleichbleibende Düsternis des antarktischen Spätsommers. George träumte von Spermatiden, die in die Epididymis vordrangen und hübsche, kräftige Schweife entwickelten.
In der Morgenfrühe überquerte der Konvoi das Vorfeld des Nimrod-Gletschers. Eismassen krochen lautlos vom Inlandplateau aufs Schelf. Die gewundene, faltige Oberfläche der Gletscherzunge schob sich auf eine Vorgebirgserhebung namens Mount Christchurch zu; unterhalb davon stand ein aus dem ewig gefrorenen Material, das man in dieser Region humorig Antarktisstahl nannte, errichtetes Gebäude.
»Das ist der Justiz-Eispalast«, sagte Gila, zeigte auf den Bau. Bei dem Justizpalast handelte es sich um ein erhaben-protziges Bauwerk, dessen diverse Schnörkel – vorspringende Wehrgänge auf den Mauern, Türme voller Flachreliefs und pompös verzierte Tore – ganz so aussahen, als tarnten sie, ähnlich wie Zuckerguß an einem Hexenhaus, einen finsteren Zweck. »Ihr neues Zuhause.«
»Ich bin zuversichtlich der Hoffnung, demnächst den Südpol zu sehen«, sagte George.
»Hier ist es viel interessanter als am Südpol«, behauptete Dimitri.
»Ich muß hin.«
»Der eigentliche Südpol ist über achthundert Kilometer entfernt. Angesichts des Mangels an öffentlichen Verkehrsmitteln und der Tatsache, daß es unsere Absicht ist, Sie aufzuhängen, müssen Sie wohl mit dem Eispalast der Justiz zufrieden sein.«
Der Konvoi schlitterte in den Innenhof. Dimitri drehte den Zündschlüssel; der Motor spotzte und ging aus. Gila zerrte George ins eisige Freie, der Wind riß Nägel aus Eis von den Mauern des Eispalasts-Gerichtsgebäudes und blies sie herab, um damit Georges Montur zu spicken. Auch hier schwenkten Demonstranten ihre Schilder und schwangen gefrorene Eier. George und seine Mithäftlinge fanden sich zu einem einsamen Grüppchen Frierender zusammen. Wengernook trug eine düstere Miene zur Schau. Randstable drückte sein magnetisches Reiseschachspiel an die Brust. Overwhite untersuchte seinen Hals auf Kehlkopftumoren. Pastor Sparren sprach mit Gott. Nicht einmal der weite Stoff seiner ARES-Montur konnte verhindern, daß Henker krankhaft untergewichtig aussah.
Auch hier hielten Polizeibeamte Demonstranten zurück. Wütende Zurufe und Aufstampfen mit Fahnenstangen brachten den Untergrund ins Beben. KEINE GNADE FÜR DIE MÖRDER DES MENSCHENGESCHLECHTS. Dieses Transparent hatte George bisher nicht gesehen. ROTTET DIE AUSROTTER AUS. Das auch nicht. Er verspürte den Wunsch, endlich seine Aussage machen zu dürfen; er wünschte es sich dringlich, aber gleichzeitig fürchtete er sich davor. Jeder hätte den Abgabevertrag unterschrieben.
Ein kleiner, aber urgesteinhafter Mann mit einer Ausfertigung der McMurdo-Sund-Konvention in der Hand trat vor. Das Emblem auf seiner ARES-Montur wies ihn als Hauptmann des Antarktischen Gardekorps aus, und auf dem Namensschild stand JUAN RAMOS. Schweigen ergab sich, als ob in einem Konzertsaal die Lichter ausgingen.
Gesprächsfetzen erreichten Georges Gehör.
»…Menschen, die am Ende der Welt schuld sind«, sagte ein Mann.
»Böse Menschen?« fragte ein Bub.
»Müssen sie ja wohl sein«, antwortete der Mann.
»Vater…?«
»Ja, mein Sohn?«
»Wie lang dauert’s noch, bis wir sterben?«
»Zwei Monate.«
»Ist das lang?«
»O ja, Junge. Sehr lang. Sehr, sehr lang. Sei jetzt still.«
»In meiner Eigenschaft als Direktor der Antarktischen Nationalen Sonderstrafanstalt«, ergriff Juan Ramos das Wort, »habe ich als erstes die Pflicht, Ihnen Artikel sechzehn der Charta des Internationalen Militär- und Ziviltribunals bekanntzugeben.«
»Strafanstalt?« wiederholte Henker barsch. »Das Wort gefällt mir ganz und gar nicht«, schnauzte er. »Für die Behandlung Kriegsgefangener gibt’s auf der Welt Regeln.«
Jemand warf einen mit Robbenkot gefüllten ARES-Montur-Handschuh. Das Wurfgeschoß traf Henkers Helm und platzte.
»›Artikel sechzehn: Vorkehrungen zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Gerichtsverfahrens gegen die Beklagten.‹« Beiderseits der Oberlippe Juan Ramos’ standen die Zipfel seines Schnurrbarts ab wie die Hinterbeine einer Tarantel. »›Abschnitt A. Die Anklageschrift muß die gegen die Beklagten erhobenen Anschuldigungen im einzelnen aufführen, und jedem Beklagten ist ein Exemplar der Anklageschrift in einer ihm geläufigen Sprache auszuhändigen.‹« Anmutig zogen Möwen und Raubmöwen ihre Kreise um den Eispalast. »›Abschnitt B. Jeder Beklagte hat das Recht, dem Gericht während des Verfahrens selbst oder durch seinen Verteidiger Beweise und Beweismaterial zu seiner Verteidigung beizubringen.‹« Ramos stieg auf eine eins fünfzig hohe, verharschte Schneewehe. Der Wind zauste seinen Schnurrbart; es schien, als müßten die Haare fortwehen. »Zweitens ist es meine Pflicht, Sie darauf aufmerksam zu machen, daß für Sie als Gesamtkaution ein Betrag von dreihundertzweiundsechzig Milliarden Dollar festgesetzt worden ist, dessen Höhe mit dem letztjährigen sogenannten Verteidigungsetat der Vereinigten Staaten von Amerika übereinstimmt.« Er schwieg kurz, grinste. »Sollte jemand von Ihnen diese Summe zufällig dabei haben, nehme ich umgehend wegen Ihrer Freilassung mit Ihrem Anwalt Verbindung auf.«
Aus dem Innenhof führte eine Treppe ins weiße, kalte Innere des Gletschers. Gila Guizots Sturmgewehr lenkte George die Stufen hinab und danach einige hundert Meter weit durch auf und ab verlaufende, gewundene, durch etliche Biegungen gekurvte Gänge. An den Kerkerwänden knisterten Robbenöllampen. Wärter strebten hin und her; ihre Mienen spiegelten Haß wider, Zorn, Trauer und unterentwickelte Gemüter.
ZELLE 6 PAXTON stand an einer Eisentür. George ging hinein und sah betroffen die Zelle von gedämpftem Februar-Sonnenlicht aufgehellt. Er schaute nach oben. Ein durchsichtiger Eisblock bildete die Decke der Zelle. Greulich-graue Wolken verhingen den Himmel.
Gegen Selbstmord war in der Zelle gründlich vorgebeugt worden. An der Eisdecke ließ sich keine Schlinge befestigen, die Kanten und Ecken des Mobiliars – Bett, Stühle, Schreibtisch, Kommode – hatte man durch Abschleifen abgerundet. Aber aus irgendeinem Grund durfte er seinen Leonardo behalten, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, ihn zu zerbrechen und sich mit einer Scherbe das Handgelenk aufzuschneiden. Weshalb gönnte man ihm dieses Privileg? Eines Tages ersah er, während er die Decke anstarrte, als wären die Wörter hineingeritzt, einen Hinweis auf eine denkbare Erklärung. Es handelte sich um ein Zitat Fjodor Dostojewskijs: »Am Ende der Welt werden unvorstellbare Werke der Barmherzigkeit stehen.«
*
Und so fügte George sich ins Gefängnisdasein. Er rechnete mit einer Fortsetzung seiner kürzlichen Einzelhaft an Bord des U-Boots, mit endloser Langeweile. Während der anfänglichen zweiundsiebzig Stunden entsprach die Haft seiner Erwartung vollständig. Nichts geschah, nicht einmal die Sonne ging auf oder sank, weil der Kontinent im Zwielicht seines sechsmonatigen Tages lag. George ruhte auf seinem Eisbett, schlief, schlief nicht, grübelte, las die Anklageschrift, besuchte sein Phantasiemuseum: Morning im Hochzeitskleid, Morning beim Stillen Aubreys.
Dann nahmen die Martern ihren Lauf. Im Gegensatz zu Henkers Befürchtungen verstieß die Art von Schikanen, die man in der Antarktischen Nationalen Sonderstrafanstalt praktizierte, durchaus nicht gegen das in der Genfer Konvention definierte zivilisierte Verhalten gegenüber Kriegsgefangenen.
Die Folterung der Gefangenen bestand darin, daß man ihnen gewährte, was sie wünschten. Sie brauchten nur irgendeine Vergünstigung zu nennen und bekamen sie. Delikatessen? Jeden Abend um 18 Uhr servierten Ramos’ Untergebene eine Mahlzeit, als gälte hier jede einzelne menschliche Geschmacksknospe als erogene Zone; die Geheimnisse, wie man Adeliepinguin en brochette und flambierten Seelöwen zubereitete, hätten Kochbücher zu Bestsellern gemacht. Getränke? – Gegoren entfaltete die Milch der Weddellrobbe eine Wirkung, die nichts mehr mit Milch zu tun hatte. Sexualität? – Was den örtlichen Prostituierten an Erfahrung mangelte, glichen sie durch Einsatzeifer aus. Intellektuelle Anregung? – Antarktikas Bevölkerung konnte sich mit einem beträchtlichen Anteil hypothetischer Pulitzer-Preisträger brüsten.
Allerdings versammelten sich über jeder Zelle, wenn die Häftlinge ihre Genüsse auszukosten versuchten, kleinere Zuschauermengen Schwarzblütiger, die durch die transparenten Eis-Deckenplatten hereinglotzten und an allem lebhaftes Interesse zeigten. Wie schwache Sterne erfüllten Augen das Firmament. Die Gaffer klatschten Beifall, pfiffen, stampften mit den Füßen. »Laßt uns ein!« skandierten sie. Immer größere Annulliertenkreise fanden daran Spaß. Die Teilnehmer brachten sich Freßpakete mit.
Den ersten Becher Kaffee, den George unter diesen Bedingungen erhielt, trank er noch mit Gleichmut. Das zweite Mal stellte er sich mit dem Becher in eine Ecke und starrte die Wand an, schlürfte kleine, verstohlene Schlückchen. Beim drittenmal ließ er den Kaffee erkalten.
Eine Prostituierte namens Trudy kam zu Besuch. Sie war in der Blüte ihrer Jahre auf den Kontinent gelangt. »Es tut mir echt leid, daß wir’s nicht ’n bißchen privater haben«, sagte sie, befummelte Georges Glied. »Tu einfach so, als wären wir allein.«
George schielte aufwärts. Ein junger Mann mit einem Aufnäher der Universität Göttingen auf der ARES-Montur erwiderte seinen Blick. »Es ist mir lieber, du gehst«, meinte George.
»Wenn ich gehe?« fragte Trudy.
»Du bist ein wirklich hübsches Mädchen«, versicherte George. »Bitte geh jetzt.«
»Na fein… Aber ich möchte von dir ’ne Frage beantwortet haben.«
»Ja?«
»Ich wette, du kannst dir denken, welche Frage.«
»Nein, kann ich nicht.«
»Denk doch mal nach.«
»Mir fällt nichts ein.«
»Meine Frage ist: Warum habt ihr die Welt kaputtgemacht?«
*
Obwohl der große, zentral zwischen den Zellen gelegene Gemeinschaftsraum der Sonderstrafanstalt eigentlich der Körperertüchtigung dienen sollte, zogen die Häftlinge es vor, dort Poker zu spielen, ein Zeitvertreib, für den man ihnen jeden Abend neunzig Minuten genehmigte. Sie spielten um Essen. Nach jeder Runde beschlagnahmte Juan Ramos den Großteil der Gewinne und verzehrte sie vom Fleck weg. »Wir sind nicht gut«, sagte er. »Bloß Unschuldslämmer.«
Am Vorabend des Prozeßbeginns traf George nach dem Pokern bei der Rückkehr in seine Zelle eine Vertreterin und einen Vertreter der Verteidigung an. Die Anwältin war die wunderschöne Dennie Howe, an die er sich aus Station McMurdo entsann. (Ach, wieviel Herzen hätte sie gebrochen…!) Ihr Begleiter, der sich als Parkman Cleave vorstellte, wirkte noch unreifer als die restlichen Mitarbeiter der Verteidigung. George bot den Gästen Stühle aus Eis an. Kinder, dachte er, man schickt uns nur Kinder. Ich werde von einem Scheißkindergarten verteidigt.
»Wir kommen gerade aus dem Dokumentenarchiv«, sagte Dennie. »Dort ist es wie in einem Kloster, alles ist voller Papiere aus sämtlichen Winkeln der Vereinigten Staaten und Westeuropas, Schreiber kopieren bei Kerzenschein Seite um Seite mit der Hand.«
»Die Unterlagen sind per Schiff gebracht worden«, ergänzte Parkman sie. Sein Lächeln strahlte wie die Verschlüsse seines Aktenkoffers. »Einem Schiff mit dem Namen Geist des Gesetzes.«
»Als erstes die gute Nachricht«, kündete Dennie an. »Unter zwanzig Tonnen Fracht haben wir nur ein einziges Indiz gegen Sie gefunden, nämlich den Abgabevertrag über die ARES-Montur.«
»Ich weiß«, sagte George.
»Haben Sie was zu trinken da?« fragte Parkman.
»Kakao und Kaffee.«
Gleichzeitig lächelte das Paar und bat um Kakao. George stellte Wasser zum Erhitzen auf einen Waltran-Kocher.
»Und nun die schlechte Neuigkeit«, sagte Dennie.
»Der Oberstaatsanwalt ist Alexander Aquinas«, fügte Parkman hinzu.
»Nie gehört«, bekannte George.
»Nicht?« fragte Parkman. »Ach ja, natürlich nicht.« Sein Lächeln schob ihm die Backen, die so glatt und rosa aussahen wie polierter Oklahomaer Granit, auf die Seiten des Gesichts. »Wenn man Alexander Aquinas gegen sich hat, muß man sich aufs Schlimmste gefaßt machen.«
»Seine Bücher hätten der Berufung auf Unzurechnungsfähigkeit den Todesstoß versetzt«, erklärte Dennies mit einer Bewunderung, die George lieber weniger offen gezeigt gesehen hätte. »Alexander Aquinas hätte Richter dazu bewogen, ihre Mütter an den Galgen zu liefern.«
George füllte mit dem Löffel braunes Kakaopulver in zwei Becher, goß heißes Wasser zu und setzte den beiden die Brühe vor, der süßlicher Duft entquoll.
»Trinken Sie nichts?« fragte Parkmann. Kakaodampf wallte durch die Zelle.
»Nein.«
»Wir möchten Ihnen klarmachen«, sagte Dennie, »welche Stellungnahme Sie vor Gericht abgeben sollen.«
»Daß ich unschuldig bin«, antwortete George.
»Das ist beinahe richtig«, entgegnete Parkman.
»Sie müssen sagen: ›Im Sinne der Anklage nicht schuldig‹«, erläuterte Dennie.
»Warum?«
»Weil Sie unschuldig sind«, lautete Parkmans Antwort.
»Im Sinne der Anklage«, sagte Dennie. »So haben sich die Nazi-Kriegsverbrecher geäußert«, fügte sie fröhlich hinzu.
»Außerdem möchten wir Sie auf gewisse Taktiken hinweisen«, sagte Parkman. »Sie müssen bei den Richtern einen vorteilhaften Eindruck hinterlassen.«
»Halten Sie Ihre Montur sauber«, empfahl Dennie.
»Wenn der Friseur aufkreuzt, nehmen Sie seine Dienste in Anspruch«, riet Parkman. »Einigen wir uns auf kürzeres Haar und einen sauberer gestutzten Bart, ja?«
»Wenn Sie nervös sind, während Sie Ihre Aussage machen, ist das keineswegs ungünstig«, stellte Dennie klar.
»Sie sollten sich sogar Mühe geben, nervös zu wirken«, sagte Parkman. »Wir wollen vermeiden, daß Sie vor Gericht wie ein kaltblütiger Atomkriegsstratege agieren.«
»Was für ein nettes Kind«, meinte Dennie, indem sie den Leonardo vom Nachttischchen nahm. »Ihre Tochter?«
»Bonenfant ist der Ansicht, er kann uns raushauen«, konstatierte George, indem er ihr das kostbare Bild aus der Hand grapschte. »Er sagte, er hätte ein, zwei Tricks auf Lager.«
»Alles hängt davon ab«, verdeutlichte ihm Parkman, »ob wir einen Geierexperten finden.«
»Einen was?« fragte George.
»Einen Geierexperten«, sagte Dennie.
»Haben Sie schon mal vom Teratornis gehört?« fragte Parkman.
»Nein«, gestand George.
»Das ist eine Geierart«, klärte Dennie ihn auf.
»Sie selbst sind offenbar kein Geierexperte«, schlußfolgerte Parkman.
Geier.
Bestürzt erkannte George den Mann. Er hatte Parkman Cleave schon einmal gesehen: Im U-Boot. Einen Straßenanzug hatte er getragen… und auf der Schulter einen Sack mit einem Pinguinkadaver. »Ich weiß, wer Sie sind. Sie sind es, der meinen Geier pflegt.«
»Ihren Geier?«
»Dr. Valcourt nennt ihn meinen Geier. Eigentlich ist es nicht meiner. Das erste Mal hab ich ihn überm Wildgrover Zielgebiet gesehen, dann noch einmal im U-Boot, als Sie ihn gerade gefüttert haben.« George legte das Familienbild zurück aufs Nachttischchen. »Dr. Valcourt hat mir erzählt, Geier hätten sich ohne Männchen vermehren können sollen, durch den Wind befruchtet werden… Das hätten die Leute früher geglaubt. Halten Sie ihn als Maskottchen? Vielleicht bringt er Ihrem Volk Glück. Groß genug ist er ja.«
»Uns kann nichts und niemand Glück bringen«, widersprach Parkman.
»Kein Tier kann vom Wind befruchtet werden«, erwiderte Dennie.
»Nicht mal Teratornis«, sagte Parkman.
»Aber wenn man Personen verteidigen soll, die beschuldigt werden, den Weltuntergang herbeigeführt zu haben«, erklärte Dennie, »versucht man es mit buchstäblich allem, was einem in den Sinn kommt.«