Hollys Pistole erwies sich als überflüssig. Weder standen vor Georges Kabine Matrosen auf Wache, noch in den benachbarten Korridoren. Während des gesamten Wegs zum Mittschiffsluk brauchte kein einziges Tröpfchen schwarzen Bluts vergossen zu werden.
Henker und George stießen das Luk auf, sprangen ins Freie. George erschreckte sich mehrmals, jedoch auf angenehme Weise – aus dem Summen der technischen Einrichtungen gelangte er schlagartig ins Rauschen von Brandung, aus dem kühlen U-Boot in eine laue Nacht, aus einer künstlich mit Sauerstoff angereicherten Klimatisierung in köstliche Frischluft. Ein Vollmond, schien, sein helles Weiß und schroffes Schwarz ergaben einen lichten Firmaments-Totenschädel.
Die beiden Flüchtigen rannten zwischen den Reihen der Abschußrohrklappen entlang – Stahlkabel garnierten den Laufsteg –, kletterten auf eine Seitenflosse des Rumpfs und ließen sich von dort ins seichte Wasser rutschen, das das U-Boot umschwappte. George hielt sich hinter Henkers vom Mondlicht beleuchteter Gestalt, während sie ans Ufer wateten.
Inseleinwärts des Strands lag ein Schwemmlandgebiet, ein Gelände übelriechenden Schlicks und todkranker Gräser. Die Flüchtigen staksten durch den Schlamm. Dank seines jahrelangen Granitstemmens konnte George kraftvoll ausschreiten. Widerwärtige Gase wallten aus dem versumpften Untergrund auf; Ausdünstungen der matschigen Spreu des Lebens, die seit dem Ausbleiben der Sonne überall moderte, verpesteten die Umgebung. Hoch oben, weit über dem schwülen Himmel, fügten die Sterne der südlichen Erdhalbkugel sich zu grotesken, ja anstößigen Konstellationen zusammen.
Der treibsandartige Morast wich weichem, dann so festem Boden, als wäre er in einem Brennofen hartgebacken worden. Große Steinplatten ragten, umschlungen von Nebelschwaden, aus der Ebene. Löcher zerkraterten das Gestein, Brocken von Schiefer und Marmor waren herausgebrochen und -gesprengt, als hätte ein auf Stein gieriger Geier sich hier gemästet. Mondschein geisterte auf den Felsen des von lichtgesprenkelten Schatten finsteren Flachlands.
Die Gegend wurde zerklüfteter, Hügel bauchten sich empor. Von der Sohle des Hohlwegs, dessen Verlauf George und Henker folgten, ragten Bäume wie riesige schwarze Hände in die Höhe. Sie trugen keine Früchte, sondern zeigten ausschließlich Anzeichen der Verwüstung: Dornen wie Eisennägel, Samenkapseln wie mittelalterliche Keulen. Der Mond nahm Totenblässe an, verwandelte sich in Georges Vorstellung in den Leichnam der Sonne, die einmal diesen Planeten beschienen hatte, einen vom Sonnentod-Syndrom zum Verscharren hinterlassenen Kadaver.
Rings um den Stamm jedes Baums wuchsen Kränze von Pilzen. Für eine Pflanzenart der postatomaren Umwelt waren ihre Menge und Vielfalt erstaunlich. George und Henker eilten an Pilzen vorüber, deren Formen an Elfenhüte oder Füllhörner erinnerten. Es gab Trompetenpilze, Regenschirmpilze, Kerzenständerpilze, Phalluspilze, Schweinsnasenpilze, Pilzhocker, Pilzknautschsessel, Pilztische und Pilzhängematten.
Der ausgedehnte Pilzbewuchs der Insel wucherte wie mit Greifarmen aus dem Wald ins Umland hinein, breitete sich über verwelkte Wiesen und verdorrtes Feld – wie ein Heer von Maden – bis dicht vor die Tore der Stadt aus.
Die Stadt: Sie befand sich in dem von Henker geschilderten, unbeschädigten Zustand, keine Druckwelle hatte sie zertrümmert, keine Hitzewelle verkohlt. Die Marmormauern schimmerten wie Phosphor, in der glutheißen Nacht verschwitzten die Marmortürme Tränen. Dicke Ranken krochen an den Gemäuern hinauf und hinab. Graue, verwitterte Blätter, jedes so groß wie ein Totenhemd, zitterten an den Ranken, umschlossen die Zinnen wie Blütenblätter die Organe einer Blume, so daß die Stadt den Anschein einer aus vom Krieg verstrahlten, mutierten Sporen hervorgegangen Riesenpflanze erregte. An einer Stelle teile eine Lücke die Brustwehren; hindurch floß ein träger, geschwollener Fluß. Das Haupttor stand offen und war unbewacht, in den Wachtürmen tat niemand Dienst. Ungehindert betraten die Flüchtigen die Stadt.
Eine krumme und schiefe Stadt. Gewundene Gassen, geborstene Gehwege, geschrägte Innenhöfe; jeder Laternenpfahl hatte eine Krümmung wie das Rückgrat eines Buckligen. Hohe Marmorbauten beugten sich übers Kopfsteinpflaster der Durchgangsstraßen, lehnten sich da und dort aneinander, als verschmölzen sie eigens, um Fußgängertunnel und Überwege anzulegen. Der beinahe milchig dichte Nebel durchzog die Stadt wie ein aus dem Auge eines Titanen operierter Katarakt. Den Brunnenschächten und Abflußgittern entstiegen faulige Dämpfe. Dort, wo der Fluß ins Stadtinnere vordrang, wurde er zu ihrem an Steinbrücken geketteten, von Betondämmen eingemauerten, einem Labyrinth von Kanälen eingezwängten Gefangenen.
Durch die unebenen, verschlungenen Straßen bewegte sich ein schemenhafter Umzug.
»Da«, rief HOPPEL-Häschen. »Was habe ich Ihnen gesagt? Diese Ausrottungsmär ist völlig unverhältnismäßig aufgebauscht worden. Wir Menschen sind ’n zäher Haufen, Paxton. Wer weiß, vielleicht ist einer dieser Überlebenden der Fertilitätsexperte, den Sie suchen.«
George verharrte an einem schmiedeeisernen Gittertor und hielt den Atem an. Hatte der Krieg diese Insel gänzlich ausgespart? Oder war eine Gruppe Schwarzblütiger aus der Antarktis ausgewandert und hatte am südlichsten Zipfel Afrikas eine Kolonie gegründet? Doch eine aufmerksamere Beobachtung klärte, daß die Teilnehmer des Umzugs keine Annullierten sein konnten; wenigstens sah man ihnen keine Ähnlichkeiten mit Olaf Sverres zynischen, respektlosen Seeleuten an. Vielmehr glichen sie ihrer Stadt, waren auf ihre Weise so ausgeblichen, angeschlagen und verkommen wie sie. Irgend etwas Pathologisches hatte diese Menschen überfallen, wenn nicht der Krieg, dann ein vergleichbar verheerendes Unheil. Sie setzten ihre Schritte zum Takt eines von Zuckungen geschüttelten Trommlers. Sie keuchten wie gestrandete Fische. Ihre Bekleidung, ein Querschnitt aller Modestile und Epochen, war in schlimmerer Verfassung als die ARES-Monturen, die George unmittelbar nach dem Atomschlag gesehen hatte – gerissen, zerfetzt, durchlöchert, man sah darunter nacktes Fleisch, gelbliches, weißes und braunes, gesprungenes oder gallertartig verändertes, an Stellen bis auf die Knochen zerlaufenes Fleisch.
»Mann, die ziehen ja hier ’ne enorme Schau ab, hä?« meinte Henker. »Sicher ’n Volksfest.«
Doch wenn sie einen der Umzugsteilnehmer ansprachen, bestand die Reaktion im günstigsten Fall aus einem Blick der Begriffsstutzigkeit, häufiger allerdings einem von Mundgeruch begleiteten Aufröcheln der Verzweiflung.
»Sie verstehen kein Englisch«, schlußfolgerte daraus der Generalmajor.
Die zwei Flüchtigen durchquerten die schwülen, verstopften Straßen, bahnten sich wiederholte Male einen Weg durch den Umzug, ohne sich irgendwo einzureihen. Sie erreichten einen Platz. Unter dem Totenkopfmond glänzten Ziegel. In einem Gespinst aus Dunstschwaden stand ein wasserloser Springbrunnen. Wie eine große Petroleumlampe leuchtete in Marschrichtung des Umzugs das Licht eines Ladengeschäfts.
Die Auslage des rundlichen Schaufensters umfaßte nichts als Hüte. George schluckte. Wie hatte das Geschäft die Schlacht um Boston überstehen können? Wie kam er auf diese Insel? Sogar das Ladenschild war intakt: DANIEL-DÜSENTRIEB-BOUTIQUE WAHNSINNSSONDERANGEBOTE SENSATIONELLES FÜR DEN MENSCHLICHEN KÖRPER INHABER: PROFESSOR THEOPHILUS CARTER SCHNEIDER HUTMACHER KÜRSCHNER ERFINDER.
»Ich überlege mir, es wird wohl am klügsten sein, ein Kostüm zu kaufen und in diesem Mardi-Gras-Rummel unterzutauchen, bis die Flut Sverre und seine Piraten auf See zurückgespült hat«, sagte Henker. »Haben Sie immer noch vor, Ihre Eier kurieren zu lassen?«
»Ja.«
»Mein Eindruck ist, daß uns ein paar ganz schön phantastische Abenteuer bevorstehen. Ich könnte in meinem Team einen Mann wie Sie gebrauchen, einen Kerl, der Grips und Köpfchen hat… Dem eine gewisse Sturheit zu eigen ist.«
»Tut mir leid, Henker. Erst will ich geheilt werden, dann in die Antarktis, und danach – Ende gut, alles gut – ’ne Familie. Ich bin fertig mit der Welt.«
Die Türglocke läutete kläglich, als die Flüchtlinge den Laden betraten. Schweißüberströmt drängten sie sich durch die umfangreiche Sammlung angekleideter Schaufensterpuppen. Auch auf Carters Inventar hatte der Dritte Weltkrieg abträgliche Wirkungen gehabt.
Der zerfaserte Tweed edwardianischer Gentlemen entstaubte die zerspellten Rüstungen japanischer Samurai. Wämser des 18. rieben ihre zerknitterten Schultern an Abendkleidern des 19. Jahrhunderts.
»Suchen Sie Unterkunft?« rief eine Stimme mit britischem Akzent. »Oben sind gerade mehrere Totenfeiern in Gang. Möchten Sie ein Zimmer mit Aussicht?«
Der irre Erfinder war gealtert, nicht durch die außerhalb des Schwarzblütigenreichs weggefallenen Jahrzehnte, jedoch immerhin genug, um ihn auf ein Altersstufe jenseits der sechzig zu heben: Er hatte jetzt eingesunkene Augen, das rote Haar war zu einem Rosa ausgebleicht, Leberflecken tüpfelten seine Stirn. Sein Klapphut schien sich ein Ekzem zugezogen zu haben.
»Ich bedaure, daß Ihre Spezies ausgestorben ist«, sagte er. »Eigentlich wollte ich eine Beileidskarte schicken. Aber für verspätete Beileidsgrüße werden keine Karten hergestellt, was? ›Es bereitet mir tiefen Kummer, das Ringen Ihrer Frau Mutter mit dem Krebs versäumt zu haben.‹«
Zum erstenmal seit dem Festbankett fing Georges Schußverletzung wieder zu pochen an. »Durch Sie habe ich beträchtlichen Ärger am Hals, Professor.«
»Ärger?« äffte der irre Erfinder ihn nach.
»Ich soll wegen des Weltuntergangs vor Gericht gestellt werden.«
»Bedenken Sie, daß es mieser um Sie stehen könnte. Sie könnten nicht wegen des Weltuntergangs vor Gericht gestellt werden und statt dessen das corpus delicti sein. Den Abgabevertrag zu unterschreiben, war das Schlauste, das Sie je getan haben.«
»Wie, Sie kennen diesen Vogel?« erkundigte Henker sich bei George.
Theophilus lüftete den Hut. »Vogel? Der Rabe ist ein Vogel, auch der Geier, aber ich bin keiner. Sie sind auch kein Vogel, Generalmajor Tarmac, obwohl es uns allen besser ginge, wenn Sie einer wären. Sagen Sie, George, haben Sie je herausgefunden, inwiefern ein Rabe wie ein Schreibtisch sein kann?«
»Im Moment bin ich am meisten daran interessiert, mich über Fragen der Zeugungsfähigkeit zu informieren. Meine sekundären Spermatozyten werden nicht zu Spermatiden.«
Der irre Erfinder gab ein langgedehntes, klangvolles Aufstöhnen von sich. »Auf der Welt findet gegenwärtig nicht mehr sonderlich viel Fortpflanzung statt, nicht wahr? Infolge der Ausrottung und dieser Mätzchen. Die postatomare Umwelt ermuntert wenig zur Vermehrung.«
»Ausrottung?« raunzte Henker. »Was für ein Mumpitz, auf den Straßen tummeln sich doch Ihre Kunden in Massen. Sie müssen zur Karnevalszeit ja einen beachtlichen Umsatz erzielen.«
So spontan, daß niemand wußte, wer voranging und wer sich anschloß, traten die drei Männer zum Fenster. Der Umzug wälzte sich über den Platz wie ein gewaltiger, nach allen Seiten mit Fühlern und Flagellen gespickter Organismus.
»Willkommen in der Stadt der liquidierten Vergangenheit«, sagte der irre Erfinder, »oder, wenn’s Ihnen so lieber ist, der Nekropole der Geschichte. Oder eben, wenn Sie’s gern anders haben, der Stadt der liquidierten Vergangenheit. Genau Ihre Art von Stadt, George. Ihre auch, General.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf die Scheibe. »Sehen Sie, dort ist ein Palastwächter vom Hofe Harun al-Raschids im Bagdad des achten Jahrhunderts. Und da ist ein römischer Bürger und Baumeister, der im Jahre einhundertdreiundvierzig vor Christus eine Wassermühle konstruiert hat. Hier ein Händler, dem das Verdienst zukommt, im Jahre eintausendvierundsiebzig verbesserte Pflüge nach Flandern importiert zu haben. Ein Bischof, der am Konzil von Trient teilgenommen hat. Ein Arbeiter von Henry Fords erstem Fließband… Denken Sie einmal darüber nach! Diese Menschen haben wirklich gelebt.« Theophilus hielt sich den Hut in Herzhöhe vor die Brust. »Jeden Morgen sind sie aufgestanden. Sie haben geatmet, debattiert, gebumst, sich Einläufe gemacht. Sie haben die Sonne gesehen. Sie hatten ihre Meinungen über Katzen. Da, hören Sie das? Hören Sie ihren Kummer? Ihr Schluchzen und Heulen? Sie sind tieftraurig, weil ihr Dasein entwertet worden ist. Wenn man das Menschengeschlecht in Müll verwandelt, wird auch die Geschichte zu Müll. ›Wozu haben wir uns der Mühe unterzogen, Schrift zu entwickeln?‹ fragen sie sich. ›Oder Spinnräder? Weshalb haben wir uns mit dem Bau von Kirchen geschunden?‹«
Der Erfinder winkte abgehackt; George und Henker folgten ihm hinter die Ladentheke und durch Samtvorhänge in einen bullig heißen, verwahrlosten Raum, den man sich als Laboratorium vorstellen konnte, dem nie etwas Gutes entsprang. Über Bottichen, in denen etwas köchelte, das wie verflüssigtes Menschenfleisch aussah, hingen abgetrennte menschliche Köpfe. In Behältern voller trüber Brühe trieben einzelne Gliedmaßen. Unter der Decke baumelten Skelette, als erwarteten sie ihren Auftritt in einer abwegig-makabren Marionettenvorstellung. George vermochte sich nicht des Eindrucks zu erwehren, daß er in dieser Räuberhöhle von einer für Fälle von Zeugungsunfähigkeit zuständigen Klinik so weit entfernt war, wie es sich überhaupt nur denken ließ.
»Hier hat Viktor Frankenstein seine Experimente durchgeführt«, behauptete Theophilus. Rostige Chirurgenbestecke und zerfressener technischer Krimskram füllte ein Dutzend Schränke. »Hier hat Thomas Edison die kaputtbare Glühbirne erfunden.«
Der Hutmacher mußte, grübelte George, den Verstand verloren haben. War es einem Verrückten eigentlich noch möglich, um den Verstand zu kommen?
Auf einem von Leinendecken verhüllten Tisch stand ein Tee-Service nebst Frühstück. Infolge ihres eiligenEntweichens auf die Insel hungrig und durstig, nahmen die Flüchtigen Platz und bedienten sich, schlappten heißen Tee und schlangen gierig einen Berg altbackener Brötchen sowie stapelweise Teekuchen hinunter. Der Erfinder setzte sich zu ihnen.
»Jede Nacht schwimmen Leichen durch die Stadt«, erzählte er heiter, während er eine Kleiesemmel mit Butter beschmierte.
»Kriegsopfer?« Dumme Frage, sagte George sich sofort. Selbstverständlich waren es Kriegsopfer.
»Nein, sie sind lange vor dem Krieg gestorben, manche vor Jahrhunderten. Ich fische sie aus dem Fluß. Ich kleide sie an. Ich operiere sie. Ersatzteile zu finden, ist kein Problem. Mittlerweile ist die ganze Welt nur noch ein einziges Ersatzteillager. Raus mit den verschrumpelten Organen und dem geronnenen Blut. Rein mit den Relays, Minimotoren, Schrittmachern, Mikroprozessoren, Vocodern und Zündkerzen. Aber tut’s das? Natürlich nicht. Was ist Geschichte ohne Hoffnungen, Ideale, Neurosen, Illusionen? Deshalb ist mein Z-Eintausend-Computer da drüben erforderlich. Ist es nicht prachtvoll, was ein Mensch mit ein wenig Technik und etwas Freizeit alles auf die Beine stellen kann?«
»Ach, jetzt wird mir alles klar, es sind Roboter«, sagte Henker. »Wie im Disneyland.«
»Hätte ich Einlaß zur Welt erhalten«, sagte Theophilus, »wäre ich im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert geboren worden und hätte später Automatons am laufenden Band fabriziert, so wie manche Leute Bratwurst verkauften.« Er latschte zu seinem Arbeitstisch und fing an, Augen aus einem in ein anderes Glasgefäß umzufüllen, den Ausschuß sortierte er in eine Teetasse.
»Das kann doch hier unmöglich der Laden sein, den Sie in Boston hatten«, wandte George ein. Wie tief war der Erfinder gesunken – von der ARES-Monturen- Sonderanfertigung zur Leichenschändung Kriegstoter?
»Mein bescheidener Kleinbetrieb ist wie das U-Boot, von dem Sie ausgerissen sind«, erklärte Theophilus. »Er stibitzt sich von Ort zu Ort. Auch Einundzwanzigstes- Jahrhundert-Know-how.«
»Ich muß zugeben, Carter, Sie betätigen sich an einem eindrucksvollen Projekt«, sagte Henker. »Ich ziehe vor Ihnen den Hut.«
»Erst müßte ich Ihnen einen verkaufen.«
»Wahrscheinlich nicht die effektivste Methode, um die Zivilisation aufrechtzuerhalten, aber einfallsreich, das muß man Ihnen lassen.« HOPPEL-Häschen griff sich ein Stück Teekuchen und stippte es in seinen Tee.
»Aber der Umzug da draußen, Henker, das ist doch nicht die hiesige Bevölkerung«, sagte George. »Haben Sie das nicht kapiert?«
Der irre Gelehrte kicherte wie ein Wahnsinniger.
Henker aß das teegetränkte Stück Teekuchen. »Auf jeden Fall, es ist sowieso Ihr fliegender Laden, der mich hauptsächlich interessiert. Ich will mit anderen Überlebenden Verbindung aufnehmen. Können Sie mich aufs Festland befördern?«
»Ein äußerst ehrgeiziges Vorhaben, Generalmajor«, antwortete Theophilus. »Mit dem Holocaust können Sie nicht feilschen, aber es steht Ihnen frei, mit mir Geschäfte zu machen. Um’s klar zu sagen: Helfen Sie uns heute abend bei der Arbeit, und ich fliege Sie, wohin Sie wollen.«
Auf einer Krankenhaus-Rollbahre ruhten unter einem Laken die Umrisse eines weiblichen Leichnams. Der Erfinder schlurfte hinüber und deckte die Tote auf. Sie war Asiatin, und obwohl sie jetzt alle Anzeichen einer Wasserleiche aufwies, sah man ihr noch die einstige Schönheit an.
»Geboren im zwölften Jahrhundert. In Südostasien, im Khmer-Reich. Diese Augen haben einmal die Tempelanlagen von Angkor Wat mit ihrem königlichen Phalluskult gesehen. Stellen Sie sich das mal vor – im Kambodscha des Mittelalters hat man am Königshof einen Phalluskult gepflegt.«
»Haben Sie keine Achtung vor Toten?« schalt George, breitete das Laken wieder über die Leiche.
»Ich bringe den Toten ausschließlich Achtung entgegen«, erwiderte der Hutmacher. »Was glauben Sie denn, weshalb ich mich für den Umzug derartig abplackere? Bei Tag und Nacht! Das ist mein Denkmal für die liquidierte Vergangenheit. Sie verstehen doch was von Denkmälern.«
»Dieser ganze Quatsch ist der blanke Irrsinn!« ereiferte sich George. Er ballte eine Hand zur Faust, wußte jedoch nicht, was er damit anfangen sollte. »Was für eine abscheuliche Idiotie! Sie stammt nicht aus dem zwölften Jahrhundert, sie ist eins von zahllosen Opfer der Strahlung, des Hungers oder…«
»Also ich«, rief Henker dazwischen, »ich finde die Angelegenheit ziemlich vernünftig.«
»Vernünftig?!« schrie der Hutmacher. »Vernünftig? Sie müssen mich vernünftig nennen, was? Die Vereinten Stabschefs hat man auch als ›vernünftig‹ bezeichnet. Und der Nationale Sicherheitsausschuß ist auch ›vernünftig‹ genannt worden!«
Er postierte sich vor seinem Z-1000-Computer, wölbte die Finger über die Tastatur, als beabsichtigte er ein Klavierkonzert zu geben.
»Überwiegend ist es die zweite Garnitur der Menschheitsgeschichte, die hier angeschwemmt wird, aber manchmal kommt ein echter Star vorbeigeschwappt. Am Sonntag beispielsweise habe ich Nostradamus gefunden, den genialen, mutigen Seuchenarzt und Wahrsager der Renaissance. Was gäbe ich für Hitler! Wissen Sie, ich kann die Vergangenheit ändern, sie sinnvoller gestalten. Gestern abend hat Johanna von Orlean zehn Geistliche auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Hätte ich Hitler, ich würde ihn zum Juden machen. Spermatiden, George? War das es, was Sie wünschten? Sperma fürs Kinderzeugen? Da sind Sie haargenau an den Richtigen geraten.«
»Ich muß zu einem Fertilitätsforscher.«
»Ich bin einer. Ich kann Sie so zeugungsfähig wie einen Dachkater machen.«
Der Hutmacher sprang in eine dunkle Nische, dessen Zugang zwei kopflose, magere Schneiderpuppen flankierten. Sekunden später kam er mit einem moosig-morschen Brocken Borke zum Vorschein. Ein weißer, robuster, symmetrisch geformter, wie eine Kirchenglocke gewachsener Pilz sproß auf dem Holz. »Hier sehen Sie Ihren und meinen Freund: Agaricus cameroonis.«
»Soviel ich weiß«, sagte George, »können Pilze giftig sein.«
»Atompilze haben Sterilität verursacht, der Kamerunpilz heilt sie. Oder, um es wissenschaftlich auszudrücken: Kamerunpilz fördert in strahlengeschädigten Hodenkanälchen neue Spermatidenproduktion. Dieser Sachverhalt ist seit dem Jahre zweitausendfünfzehn nach Christus bekannt.«
»Das glaub ich Ihnen nicht.«
»Bleibt Ihnen was anderes übrig?«
Georges Schußwunde pochte wie rasend. Warum hatte Mrs. Covingtons Laterna Magica in dieser Hinsicht nicht ein paar aufschlußreiche Einzelheiten mehr zeigen können? Eine kleine Glasmalerei, die ihn abbildete, wie er Kamerunpilz verzehrte – war das zuviel verlangt? Warum mutete die postatomare Existenz ihm zu, so verflucht viele Entscheidungen treffen zu müssen?
»Spazieren Sie in einer Mondnacht durch unseren Wald«, sagte der Hutmacher, »und mit etwas Glück werden Sie Agaricus cameroonis sein fahles Haupt aus dem Spalt eines abgestorbenen Baumstamms erheben sehen. Aber erwarten Sie nicht, ihn dort auch am nächsten Tag noch vorzufinden, denn im ersten Morgengrauen schlüpft er zurück in seinen Palast der Fäulnis und verbirgt sich. Ich biete Ihnen hier eine Seltenheit an, George, ein regelrechtes Sammlerstück. So ein Exemplar kriegen Sie nicht an der Ecke im Drogeriemarkt.«
»Na gut. Ich eß ihn.«
»Nein, tut mir leid, das ist ein ganz schlechter Einfall.« Theophilus steckte den Pilz unter seinen Morgenrock. »In Wahrheit sind Sie gar nicht scharf auf Kinder. Bälger machen viel Lärm, verschütten ihre Milch, lassen überall ihre Buntstifte rumliegen.«
»Bitte…«
»Erst müssen Sie die Frage beantworten.« Mit der Hand rieb Theophilus auf dem verdeckten Pilz herum.
»Welche Frage?«
»Ach, welche Frage? Eine gute Gegenfrage.«
»Vielleicht die Frage nach dem Raben und dem Schreibtisch«, machte Henker einen Vorschlag.
»Ja!« erregte sich begeistert der Erfinder. »Genau! Dahinter ist noch keiner gekommen.«
Keiner außer Dr. William Randstable, dachte George und konnte sich nur mit Mühe ein Feixen verkneifen.
»Außer daß sie stark die Spermatidenproduktion anregen«, erläuterte der Hutmacher, »lassen sich aus Kamerunpilzen auch leckere Suppen und herrliche…«
»Man kann einen Raben mit einem Schreibtisch vergleichen«, sagte George, »weil Poe über den einen wie über den anderen geschrieben hat.«
»Was haben Sie gesagt?«
»Ich habe gesagt, man kann ’n Raben mit ’m Schreibtisch vergleichen« – um der dramaturgischen Betonung willen legte George eine Kunstpause ein –, »weil Poe über den einen wie über den anderen geschrieben hat.«
Der Hutmacher ächzte und japste wie Rumpelstilzchen, nachdem die Müllerstochter »Ist dein Name etwa Rumpelstilzchen?« gefragt hatte. Er vollführte ein kurzes Tänzchen, bei dem er wie ein Besessener wirkte, stampfte die mit hoher Knopfleiste versehenen Halbstiefel auf den Fußboden.
»Sie müssen mir versprechen«, sagte er, als er den Agaricus cameroonis aus dem Morgenmantel holte, »Ihre Kinder alle nach mir zu taufen.«
»Alle außer dem ersten Kind«, schränkte George ein.
Er rupfte den Pilz von der Baumrinde, biß hinein. Das Pilzfleisch zitterte auf seiner Zunge, und er fing an zu kauen. Es schmeckte genau wie eben Pilz schmeckte, nämlich feucht-saftig und würzig. Von seinem Bauch strömte etwas ähnliches wie ein flüssiger, heißer Heizdraht hinab in die Keimdrüsen. Als er die Lider schloß, erfüllten plötzlich Eindrücke seines geistigen Familienmuseums sein Bewußtsein, Bilder seiner künftigen Familie, wie sie in den Zeitfalten gedieh. Aubrey und ihre Geschwister tobten durch einen tropischen Garten Eden. Knaben mit leuchtenden Mienen verzehrten unverseuchte Früchte. Kleine Mädchen schwammen in sauberen Wellen.
Nostradamus hätte was drauf gehabt, hatte Mrs. Covington gesagt.
»War’s das?« fragte George. »Bin ich jetzt wieder zeugungsfähig?«
»Nein«, gab der Hutmacher zur Antwort.
»Aber bald, oder?«
»Nein, so leid’s mir tut.«
»Sie haben behauptet, ich würde davon so zeugungsfähig wie ein Dachkater.«
»Spermatiden nutzen nichts, solange sie nicht in Ihre Epididymis überwechseln, wo sie reifen, Schwanzwedel kriegen, Bewegungsvermögen entwickeln und alles über die Tatsachen des Lebens lernen können. Bedauerlicherweise sind Ihre Spermatiden dafür zu schwach.«
»Zu schwach?«
»Schwach wie neugeborene Säuglinge.«
»Kann ich sie irgendwie aufmöbeln?«
»Vielleicht.«
»Und wie?«
»Am Südpol.«
»Am was?«
»Man weiß, daß die Magnetfelder des Südpols Spermatiden in die gehörige Richtung lenken.«
»Des Südpols? In der Antarktis?«
»Für mich klingt das nach Scharlatanerie«, sagte Henker. »Ich an Ihrer Stelle wäre vorsichtig, Paxton.«
»Bleiben Sie eine volle Minute lang auf dem präzisen Endpunkt der Erdachse stehen«, lautete Theophilus’ mit dem überlegenen Selbstvertrauen eines Schachweltmeisters, der sich an eine Partie Mensch-ärgere-dich-nicht setzt, erteilter Rat an George, »und vom nächsten Tag an haben Sie pro Schuß vierhundert Millionen Spermien zur Verfügung.«
*
»Paxton hat gerade ’n Pilz gegessen«, sagte Sverre, der verkniffen in Periskop Nummer I blinzelte.
»Warum?« fragte Morning.
»Um seine Zeugungsunfähigkeit zu beheben«, antwortete Sverre. »Pilztherapie ist um zirka zweitausendfünfzehn die Höhe der Medizin.«
»Er will eine Familie haben.«
»Wenn es auf dieser Welt Gerechtigkeit gibt, hat er demnächst den Hals in der Schlinge.«
»Ich halte ihn für unschuldig.«
»Sie lieben ihn, nicht wahr?«
»Nein.« Morning drängte Sverre vom Sichtgerät fort und heftete den Blick auf ihren Geliebten.
Er überquerte soeben den Platz, an seiner einen Seite begleitet von Henker, auf der anderen von Theophilus Carter. Sie keilten sich eine Schneise durch den Spastikerkarnevalszug und näherten sich dem Fluß, auf dessen düsterer Wasserfläche Mondstrahlen und Nebelstreifen glitzerten.
»Mir ist, als könnte ich mich daran erinnern, daß Sexualität etwas ganz Besonderes ist«, äußerte Sverre. »Hätte ich gelebt, wäre ich ein großer Anhänger der Sexualität geworden.«
»Sexualität war wirklich etwas ganz Besonderes«, gab Morning zur Antwort. Wie tadellos George aussah, während er die Betonstufen hinabstieg und in den Prahm des Erfinders sprang; wie rechtschaffen wirkte der Schweiß auf seiner Stirn, wie makellos sich seine Muskelstränge spannten.
Sverre bemerkte ihr versonnenes Lächeln. »Wie ist das eigentlich, Dr. Valcourt?«
»Was?«
»Rotes Blut zu haben. Zu leben.«
»Es ist eine zweischneidige Sache.«
Der Kapitän zeigte auf die lange, schwarze Narbe an seinem Unterarm. »Dann ist es in jeder Beziehung besser als Annulliertsein.«
Er setzte seinen Zylinder ab, pustete auf den Filz und sah ihn wehen. In seinem Innern schleppte sich eine Erinnerung heran wie ein im Sterben ermattetes Tier. Er klammerte sich an sie. Andeutungen von Sterblichkeit. Verwaschenes. Es hing irgendwie mit Liebe zusammen. Liebe zu einem Elternteil? Einem Kind? Die Eindrücke gewannen an Schärfe. Zu einer Frau. Christine? Nein, Kristin… Kristin wer? An ihren Nachnamen konnte er sich nicht erinnern. Kristin die schöne Seekadettin. Sie wäre ganz versessen auf Vergnügungsparks gewesen. Er sah sie auf einem Karussell. Kristin, die schöne, reizende Kristin, ritt ein Holzpferd, ritt darauf im Kreis, sang, lachte.
Alles verflog…
Er hob die Hand und streichelte mit langen, schmalen Fingern Mornings Wange. »Sie sind eine Frau tiefer Hingabe. Ich konnte es schon spüren, als ich Sie angeheuert habe.« Aus seinem rechten Auge rann eine Träne, aus dem linken ein Tropfen Gin. Er trat zurück. »Keine Bange, ich werde nicht von Ihnen verlangen, mit mir ins Bett zu gehen. Dafür ist mein Ehrgefühl zu ausgeprägt.«
Und meine Potenz zu gering, dachte er.
Der Suff hatte ihn soweit gebracht. Sein Periskop Nummer I fuhr nicht aus.
»Sie müssen berücksichtigen, daß Paxton mein Patient ist«, sagte Morning, faßte die Griffstangen des Periskops fester. »Ich habe ihn geheilt. Da ist es doch verständlich, daß ich mir wünsche, er entwickelt gesunden Ehrgeiz.«
Während er erbittert im Periskopraum auf- und abschritt, versuchte Sverre seinem Gehirn weitere Bilder Kristins zu entlocken, obwohl er um die Fruchtlosigkeit der Bemühung wußte; schließlich wandte er sich erneut an Morning. »Wo sind sie jetzt?« fragte er.
»Auf einem Boot«, antwortete Morning. »Sie sammeln Tote ein. Der Hutmacher ist sauer. Er will in seiner Parade die gesamte Historie vertreten haben und sorgt sich, sie bleibt womöglich…«
*
»Unvollständig!« heulte der Hutmacher. »Ich scheue weiß Gott keinen Aufwand, aber die Leistungsfähigkeit eines einzelnen hat Grenzen.«
Die Flüchtigen kauerten am Bug und besahen sich die Ausbeute der Nacht. Theophilus hatte sie zu Menschenfischern gemacht; dank Nachhilfe durch Georges muskelbepackte Arme hatten sie vier Leichen aus dem Fluß geborgen. Nässetröpfchen gleißten auf ihrem vom Salz wie gepökelten Fleisch. Grabraub war, vergegenwärtigte sich George, ob das geschändete Medium nun Erde war oder Wasser, ein schändliches, ruchloses Treiben, etwas Lästerliches selbst nach den Maßstäben der Unitarier.
»Ohne jeden Zweifel ’n guter Fang«, sagte der Hutmacher, der Georges beklommenen Blick mißverstand. »Aber wir haben noch jede Menge zu tun.«
Nach Theophilus’ Angaben hatten sie einen Ex-Patienten Sigmund Freuds, einen Gladiator, dessen höchst unterhaltsamer Tod ihn im Jahre 56 vor Christus ereilt hatte, einen von 1610 bis 1629 beim Amsterdamer Bankkontor beschäftigt gewesenen Sekretär sowie einen Wikinger geborgen.
Ein reanimierter Galeerensklave stakte den Prahm mit einer Stange vorwärts. Dunkle Marmorgebäude glitten vorüber; Brücken schwebten über das Gefährt hinweg, finstere Wölbungen, die bei George Erinnerungen an seinen Geier weckten.
»Ist Ihnen eigentlich klar, daß ich keinen einzigen Untertanen von Pharao Echnaton dabei habe? Nicht einen.« Schweißperlen rannen dem Hutmacher über die Stirn. »Und aus dem arabischen Kalifat und Abu Bakr? Niemanden. Vom Gupta-Hof im Indien des vierten Jahrhunderts? Null!« Er kam zum Bug gesprungen, packte Georges Hemd, verknüllte den Stoff in seinen Fäusten. »Und Opfer? Reden Sie mir bloß nicht von Opfern! In dieser Stadt herrscht starker Mangel an Opfern, das kann ich Ihnen sagen. Ja, die Ära Napoleon ist abgedeckt, der Trojanische Krieg auch, aber was ist mit der Jungtürken-Revolution von 1908? Den Opium-Kriegen zwischen 1839 und 1842? Und den Kreuzzügen, um Himmels willen?! Kommen Sie mir ja nicht mit den Kreuzzügen!«
Der Hutmacher ergriff das Steuerruder und lenkte den Prahm auf einen Pier aus Beton zu. Das vom Mond beschienene Wasser spiegelte helle Sinuswellen auf die Treppe, die zur Straße hinaufführte, ihre Lichtmuster tanzten auf den Stufen.
»Hier steigen Sie aus«, sagte Theophilus, während der Galeerensklave das Boot vertäute.
»Sie haben versprochen, mich ans Festland zu bringen«, beanstandete Henker.
Durch die Marmorstadt dröhnte ein furchteinflößendes Trommeln, als ob ein Regen von Schrapnells und Knochen auf die Straßen herabschlüge.
»Ich habe gelogen«, antwortete der Hutmacher.
»Was haben Sie?« schrie Henker.
»Haben Sie Bohnen in den Ohren, Generalmajor? Bei mir im Laden liegt eine Wurzel, die gegen Taubheit hilft. Gelogen habe ich. Den Leuten hier mißfällt der Gedanke, daß Ihre Kriegsverbrechen ungestraft bleiben könnten. Dort kommen sie, meine Herren. Ich möchte gar nicht wissen, was sie alles mit Ihnen anstellen, aber sie reißen Sie allermindestens in Stücke. Sie werden noch bereuen, daß Sie nicht die Chance wahrgenommen haben, sich vor Gericht zu rechtfertigen.«
»Ich wollte die Gelegenheit nutzen, mich vor Gericht zu verteidigen«, entgegnete George. Die Lautstärke des Getrommels schwoll an. Es waren Schritte, erkannte er, die Geräusche der Pantinen, Galoschen, Pumps, Sandalen und Halbstiefel der Bürgerschaft Professor Carters. »Ich bin unschuldig.«
»Unschuldig, so? Und warum ist dann die Welt im Arsch?«
»Erst haben Sie mir zu neuen Spermatiden verholfen, und jetzt wollen Sie, daß ich kaltgemacht werde?« fragte George.
Theophilus tat einen Satz auf den Pier. »Muß wohl an der postatomaren Umwelt liegen. Alles verhält sich unberechenbar.«
Während der Mob heranstampfte, zückte Henker Hollys Pistole und richtete sie auf die Brust des Hutmachers. »Rufen Sie Ihre Schergen zurück, Carter! Pfeifen Sie sie zurück, oder ich schieße.«
»In dem, was Sie sagen, steckt eine gewisse Logik«, sagte Theophilus. »Aber weil ich wahnsinnig bin, kann ich sie nicht begreifen.«
Daraufhin entriß George – aus Beweggründen, die er nie vollständig verstehen sollte – Henker die Pistole und schleuderte sie zum Bug des Prahms. Die Waffe prallte vom Schädel des Gladiators ab, klatschte in den dunklen Fluß und versank augenblicklich.
*
»Was passiert jetzt?« fragte Morning.
»Ihr Geliebter hat gerade den Hutmacher vor Henkers Kugeln gerettet«, antwortete Sverre, lehnte sich vom Sichtgerät zurück. »Ach, und noch ’ne Kleinigkeit.«
»Ja, was?«
»Die beiden haben Ärger mit der Weltgeschichte bekommen.«
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Die beiden verwirrten Flüchtigen rannten die schadhaften, inzwischen von der Morgendämmerung leicht aufgehellten Straßen entlang, in wilder Jagd setzte Theophilus’ Bürgerschaft ihnen nach wie ein Unwetter, die Liquidierten der Vergangenheit, Bauern, Fürsten, Bettler, Gelehrte, Wissenschaftler, Landwirte, Geistliche und Krieger, folgten ihnen wie Donnerhall. Jedesmal wenn George sich umblickte, sah er eine neue Kategorie voratomarer Waffen. Ihm dröhnte das makabre, mit dem dank Computerhilfe generierten Geheul des Mobs vermischte Rasseln von Spießen, Schwertern, Musketen und Streitäxten in die Ohren. Diese Gestalten sind nur Marionetten, rief er sich wiederholt ins Bewußtsein. Sie können mir nichts anhaben. Ihm war einsichtig, daß die postatomaren Verhältnisse einfach grauenvoll und deprimierend sein mußten, aber mußten sie auch lächerlich sein?
Als die Flüchtigen das Haupttor erreichten, sprang plötzlich, als wäre er ein Kastenteufel, ein feister Bürger mit Zähnen wie Stacheldraht aus einem Wachtturm. »Ich gehöre nicht auf den Abfallhaufen der Geschichte!« schrie er mit seiner vom Z 1000 verliehenen Stimme.
George und Henker flohen zu den Stadtmauern hinaus, zertraten unter ihren Stiefeln Pilze, liefen durch den Hohlweg und das Gelände mit den Megalithen. Sumpfgase schlugen ihnen wie Fäuste entgegen. Speere flogen an ihnen vorbei. Während die Flüchtigen sich in den Morast stürzten, durchschwirrten plötzlich winzige Feuerbälle den Himmel. Über die Schulter schaute George sich um. Die Bürgerschaft setzte eine Waffe von einmaliger Bösartigkeit ein. Marionetten, sagte George sich erneut. Marionetten. Sie sind nichts als Marionetten. Überall ringsum sausten Brandpfeile herab, sausten in den Schlamm, entflammten das abgestorbene Gras. Ein Gestank verbreitete sich in der Luft, der an den Geruch des Annulliertenbluts erinnerte. Ein stämmiger Unterführer aus Dschingis Khans Heer, gekleidet in etwas, das nach der Panzerung eines besonders häßlichen und dummen Dinosauriers aussah, schoß einen Brandpfeil so dicht über Georges Schopf hinweg, daß er ihn regelrecht über sich hinwegzischen hörte.
Geradeaus vor ihnen lag das U-Boot, schaukelte in der Flut, die mittlerweile an die Küste brandete. George war heilfroh, als er sah, mittschiffs stand das Luk noch offen. Oder halluziniere ich? überlegte er. Nein, er hatte wirklich den Eindruck, ein offenes Luk zu sehen. Es bestand eindeutig eine Chance, daß Operation Erebus sie noch einmal rettete.
Aber der Sumpf, so merkte George, war mit der liquidierten Vergangenheit im Bunde. Der Schlick saugte sich an seinen Stiefeln fest, dunkler Brei hielt ihn auf; auch Henker, sah er, kam nicht weiter, er schien auf der Insel Wurzeln geschlagen zu haben wie ein Baum, er fuchtelte und schimpfte. Der Mob menschlicher Uhrwerke stapfte näher, hatte Speere erhoben, schwang Schwerter, während Fleisch von den Gesichtern rutschte, als trügen die Bürger schlechtsitzende Masken, so daß jeder das beharrliche Lächeln eines Totenkopfs zeigte.
George reckte den gefährdeten Hals, und sein Blick fiel genau in diesem kritischen Moment seines Geschicks, als der Tod durch die liquidierte Vergangenheit unabwendbar zu sein schien, auf den Rumpf des U-Boots, als auf einmal steuerbords sämtliche Klappen der Raketenabschußrohre aufschwangen, ohne daß die geölten Scharniere ein Geräusch erzeugt hätten. Unversehens erhielt das U-Boot Ähnlichkeit mit einer mittelalterlichen, zinnenreichen Burg. Aus den Öffnungen sprang, ausgerüstet mit ARES-Montur-Waffen, Olaf Sverres Mannschaft, allen voran, breites Schmunzeln auf den Mondgesichtern, Max und Moritz. Ach, ihr tapferen, prachtvollen Blaujacken, dachte George, dafür werdet ihr alle mit Orden belohnt. Indem sie hinter den Klappen in Deckung gingen, legten die Annullierten-Seeleute ihre wunderbaren 45er Colts, ihre ausgesprochen schönen Remington-Gewehre Kaliber 12 und ihre herrlichen HK-91-Sturmgewehre an.
Oben auf dem U-Boot-Turm stand Olaf Sverre, seine Erscheinung zeichnete sich hoch und scharf gegen den rötlich verfärbten Himmel ab, der Zylinder ragte in den Sonnenaufgang. Ein lautes, unverständliches Grölen drang aus seinem Mund, ein Aufröhren, von dem George inständig hoffte, es sei der Feuerbefehl.
Verschossen von Händen, die erst seit kaum zweihundertundfünfzig Tagen ein Ersatzleben führten, flogen Kugeln in alle Richtungen, doch selbst eine so unordentlich abgefeuerte Salve genügte, um die Hälfte der Bürgerschaft zu fällen. Aus zerfetztem Fleisch fluppten Relais und Servos. Körper klatschten in den Matsch, wanden sich in Zuckungen, schlugen um sich, suhlten sich im breiigen Untergrund, beschmierten sich mit Dreck. Ein zersiebter Samurai rollte George vor die Füße. Seine Schreie erinnerten an die Nadel eines Plattenspielers, die quer über die Rillen einer Schallplatte schrammte.
Die verbliebenen Bürger ließen sich nicht lumpen. Speere klirrten wirkungslos gegen den Rumpf des U-Boots, mit Schleudern geworfene Steine prallten von den Abschußrohrklappen ab, als prasselte Hagel auf ein Blechdach. Sverre befahl – o tüchtiger Soldat, glorioser Held! – eine zweite Salve. Sie streckte weitere fünfzig Bürger nieder, aber die liquidierte Weltgeschichte wußte noch immer nicht, was Niederlage bedeutete. Der Ansturm der Bürgerschaft blieb ungebrochen. Brandpfeile tauchten den Sumpf in eine Art unirdischen, diffusen Lichts, ihr Rauch verschleierte das Geschehen. George spürte Regungen in seinen eben erst wiederbelebten…
*
Keimdrüsen, dachte Sverre. Das Gefecht wirkt sich irgendwie auf meine Keimdrüsen aus. (Nicht locker lassen, Männer! Links mehr Qualm, mehr Chaos rechts, das schwere Geschütz nach vorn, ich will Trompeten, Trommeln, Fahnen, Explosionen in allen Farben, Dreck muß umherspritzen!) Als er noch einmal zu feuern befahl, begriff er, daß jetzt erinnerte Leidenschaft durch seine Gefäße und Adern kreisten, als hätten sie nur auf die geeigneten Stimuli gewartet. Wie tief reichten doch die vorteilhaften Begleitwirkungen eines munteren Kämpfchens! In Gedanken desertierte er vom Schauplatz der Kampfhandlung, um die seltenen, kostbaren Erinnerungsbilder um so schwelgerischer auskosten zu können.
Ja, es war alles vollkommen klar. Er hätte die schöne Seekadettin Kristin nach Barbados eingeladen, und in einer feuchtschwülen Nacht, während sie durch eine leichte Brise, Insekten und Vögel mit natürlich-urtümlichem Jazz umsäuselt worden wären, hätten sie sich im offenen Wasser des Strands geliebt. (Hätte er ihr das Wochenende vorgeschlagen? Höchstwahrscheinlich ja.) Durch seine märchenhaft schönen Erinnerungen an die Zukunft erregt, nahm Sverres Perus göttliche Proportionen an, stemmte sich, begierig darauf, in die weite Welt vorzustoßen, gegen den Stoff der Hose. Ach, wie sehr er sich wünschte, sein Leben hätte stattgefunden, wenigstens der Teil in der Karibik. Annulliertsein war eine krasse Ungerechtigkeit. Kein Wunder, daß er trank.
Er befahl eine vierte Salve. Neben vielen anderen fiel ein Söldner der Renaissance, ein Jüngling, der bei der Belagerung Ferrars Seite unter Papst Julius II. gekämpft hatte. Der totenköpfige Soldat raffte sich jedoch wieder auf, zog das Schwert und stürmte auf die in den Morast eingesunkenen Beklagten zu.
»Feuer!« brüllte Sverre.
Eine ganze, umfangreiche Garbe von Kugeln traf den Söldner, als wäre ein Karton Skalpelle verschleudert worden, so ratschte sie ihn auseinander, reduzierte ihn auf einen Haufen Gummi und Plastik. Vor Staunen und Erleichterung lachten die Beklagten. Und da, so plötzlich wie ein Atomkriegsstratege, dem die Ziele ausgegangen waren, sah Sverre, das Gefecht war vorüber, und wenig später schrumpfte auch seine ansehnliche, traumhafte Erektion.
*
Nachdem sein Erster Offizier die Erebus-Beklagten aus dem Sumpf geholt und an Bord zurückgebracht hatte, kletterte Sverre, die Gin-Pulle griffbereit, am Außenrumpf des U-Boots hinunter und watete durch den biotechnischen Fleischabfall. Er betrachtete die zerrissenen Leiber, die zerstückelten Gliedmaßen, die abgetrennten Stücke mit Schlick bekleckerten Fleischs. Er fühlte sich aufgeheitert und angewidert – aufgeheitert durch das Gemetzel, angewidert durch seine Aufgeheitertheit.
Krieg, so hatte er festgestellt, machte Spaß. Ein effizient und erfolgreich ausgeführtes Massaker verhalf zu gründlicher emotionaler Befriedigung. Seemännern zu befehlen, das Feuer zu eröffnen, konnte unter bestimmten Umständen einem Mann das Blut zum Rauschen bringen – ob Geborenenblut, ob Annulliertenblut, spielte keine Rolle. Ach, wie gut würde er in der kommenden Nacht auch ohne eine Augevoll Gin schlafen! Er besah sich die Bescherung ringsherum und weinte. Mit welchem Recht klagen wir die Erebus-Sechserbande an? Inwiefern sind wir besser als sie? Das Tribunal ist eine Farce. Ich liefere meine Gefangenen ab – Hier sind sie, weise Richter, allesamt gesund und wohlbehalten, ich habe meinen Auftrag erledigt –, aber ich werde bei ihrer Hinrichtung kein Faß aufmachen.
Eine halbe Stunde verstrich. Achthundert Sekunden, an die sich Sverre trotz der Sorgfalt, die er gewöhnlich aufbot, um sich jedes Quentchen seiner kurzen Erdenlaufbahn einzuprägen, niemals mehr erinnern sollte. Kapitänleutnant Grass kam zu ihm. Paxton und Tarmac seien in ihren Kabinen, meldete er. Die Türen seien mit doppelten Schlössern versehen, vor den Türen Posten aufgestellt worden.
»Sind wir seeklar, Mister Grass?« fragte Sverre.
»Jawohl, Sir, seeklar.«
»Dann sollten wir nicht lange bummeln.«
»Auslaufen, Sir?«
»Auslaufen.«
»Volle Kraft voraus?«
»Volle Kraft voraus.«
»Kurs McMurdo-Station?«
»Kurs McMurdo-Station.«
Schroffe Böen wehten. Der Morgen wurde trüb. Das verschwommen sichtbare U-Boot schaukelte auf und ab, hin und her, als sehnte es sich ungeduldig nach der Weite des Südatlantiks. Sverre latschte langsam wie hinter einem Sarg durch den Matsch, trank Gin, hustete, schauderte aufgrund der Kälte seines Gummiauges zusammen, suchte sich behutsam einen Weg durch die Überbleibsel der Vergangenheit.