Gegen Abend hatten die Flüchtigen den Südpol erreicht, eine Fläche offenen, ebenen Hochlands, über der das dunkle Firmament wie ein Vorhang stand, auf der Schnee zu Wellen gefroren war, die regelrechten Wogen glichen. Ventilatoren und Antennen ragten aus den Sastrugi, Merkmale des unterirdischen Außenpostens mit der Bezeichnung Neue Amundsen-Scott-Station. George und Morning banden ihren Teratornis an einen Schornstein.

Am genauen Endpunkt der Erdachse hatte irgendwer eine Spiegelkugel der Sorte hinterlassen, wie sie früher in Diskotheken unter der Decke rotiert hatte. George hielt sie sich vor den Bauch. Fühlte sich so Schwangerschaft an?

»Hier krieg ich meine Zeugungsfähigkeit zurück«, sagte er. »Inzwischen hab ich wieder Millionen von Spermatiden, aber solange sie nicht in meine Epididymis gelenkt werden, können sie nicht ausreifen.«

Mornings Achselzucken, ihr Stirnrunzeln, das Verkneifen ihrer Lider – ja, darin kam eine gewisse Skepsis zum Ausdruck, aber in der Hauptsache war sie nach seinem Empfinden neugierig. Sie wünschte ihm Glück. Gut, dachte er, sie ist für alles aufgeschlossen. Wir wissen ja nicht, zu welchen Weisheiten uns die Zukunft verholfen hätte, zu welchen Durchbrüchen in der Pilztherapie und geomagnetischen Heilmethoden.

Er preßte sich die Diskokugel fester in die Magengrube. Sein Unterleib zitterte. Begehe ich eine der ärgsten Sünden, die Unitarier kennen, die Sünde des Selbstbetrugs? Nein, spürbar geschah in seinen Keimdrüsen etwas, eine Spermatidenwanderung großen Umfangs setzte sich in Bewegung. Aus dem Eis traten Gespinste aus Licht hervor, bildeten winzigkleine, diamantenähnliche Satelliten, die sich um die Diskokugel in eine Umlaufbahn einfädelten, tausend funkelige Monde folgten den eigenen Spiegelungen. George spürte die Fröhlichkeit seiner Spermatiden, sie erinnerte an den Übermut von Kindern, die eine Flutwelle auf den Sandstrand spülte. Angelockt durch den Magnetismus der widerstandsfähigen Mutter Erde, nahm der unreife Same seinen Weg. Er drang in die Epididymis vor. Dort konnten die Spermatiden sich vervollkommnen und lernen, mit ihren putzigen, neuen Schwänzchen zu wedeln. Beizeiten würde, wie er sich aufgrund des Biologiebuchs entsann, das er im U-Boot gelesen hatte, reichliche Flüssigkeit der Samenbläschen ein Verdünnen ihrer Ansammlung bewirken – was für ein genialer Techniker Gott doch war! – und sie auf neue, aufregende Fahrt schicken: Vas deferens, Ureter, Vagina, Gebärmutterhals, Eierstock, Gebärmutterwand. Weil nur eine seiner im Entwicklungszustand befindlichen Spermien die Bestimmung hatte, sein Kind zu zeugen, mußten der gesamte Rest eine andere Aufgabe erfüllen, nämlich mit ihrem dem Protein abträglichen Enzym die Hülle der weiblichen Eizelle, wenn sie davon abprallten – Poch-poch-poch-poch –, zur Vorbereitung auflockern und so die störenden Außenschichten aufweichen.

Poch-poch.

Wer ist da?

Aubrey Paxton.

Die Winzlinge von Monden stoppten in ihrer Bahn, ihre Existenz erlosch, George senkte die Spiegelkugel zurück aufs Eis.

Mit dem zu ihrer ARES-Montur gehörigen Sturmgewehr hatte Morning zwei Raubmöwen geschossen. Ein Kadaver lugte aus ihrem Tornister. Den zweiten hatte der Teratornis im Schnabel, das Mahl jedoch schon im nächsten Moment verschlungen – Schnapp, Schluck –, obwohl es vielleicht noch nicht lange genug tot war, um ihm zu schmecken, aber er beschwerte sich nicht.

»Ich glaube, ich bin geheilt«, sagte George. In seinen Epididymis, ihrem wahren Zuhause, tollten Spermatiden.

»Du bist ein Mann mit bewundernswertem Ehrgeiz«, antwortete Morning.

Beide folgten sie dem Lichtstrahl ihrer Stablampe eine schräge, hölzerne Rampe hinab ins Innere der Station. Rechts und links vom Hauptstollen zweigten Seitengänge ab, fünfundzwanzig Meter lange, mit gewölbten Segmenten zerfressenen Stahls gedeckte Gräben. Als sie sich umblickten, standen sie inmitten eines Sammelsuriums von Funkgeräten und meteorologischen Instrumenten. Dort rupften sie die Raubmöwe und kochten sie auf dem Primuskocher aus Mornings Tornister. Im Handumdrehen hatten sie sie verzehrt. Benommen vor Müdigkeit drückten sie ihre kalten Lippen aufeinander, küßten sich, ohne es zu spüren, umfingen einander mit einer ungeschlachten antarktischen Umarmung. Dann schliefen sie.

Ein freudlos düsterer Morgen brach an.

»Ich sehe Hoffnung«, sagte George.

»Lasarew liegt rund zweitausendzweihundert Kilometer entfernt«, entgegnete Morning.

»Hoffnung für unsere Familie.«

Morning zündete den Primuskocher an und machte sich ans Kaffeekochen.

»Ja, ich weiß, ’s ist momentan schwer vorstellbar, daß ’s hinhaut, die gesamte menschliche Rasse ’n zweites Mal zu gründen«, sagte George. »Die viele Inzucht, die nicht zu umgehen ist… Das kann ganz schön vertrackt werden, dabei verkommt das Erbgut, oder so was. Trotzdem…« Er lächelte. »Adam und Eva haben’s auch geschafft.«

»Ich dachte, du wärst Unitarier.«

»Na gut, vielleicht gibt unsere die letzte Familie ab, aber wenigstens werden wir eine sein. Das Leben hat was für sich. Sverre kann uns beibringen, das U-Boot zu steuern. Wir fahren weit weg von all diesem Eis und der Justiz. Wir lassen uns nieder, wo’s warm ist.«

Mornings ausdruckslos starrer Mund trank Kaffee. Sie strich sich Eisflöckchen aus den Haaren.

»Ich wüßte gerne«, sagte George, »was du gerade denkst.«

»Möchtest du Kaffee?«

»Nein.«

Morning hielt ihre eisigen Hände über das Flämmchen des Primuskocher, drehte sie hin und her wie Grillspieße. »Ich glaube…«

»Ja?«

Georges Braut befand sich am genauestens bestimmten und unzweideutigsten Ort der Erde, und doch hatte es den Anschein, als wäre sie ratlos. »Ich glaube, wir müssen erst zur Station Lasarew, bevor wir ins Paradies einziehen können.«

»Ja, aber wenn wir dort gewesen sind, versuchen wir alles, damit du schwanger wirst, und dann…«

»Männer wollen keine Kinder, George, Männer wollen strategische Optionen. Hast du denn aus dem Tribunal gar nichts gelernt?«

»Ich will Kinder. Ein Kind. Unser Kind.«

»Du willst Justine und Holly wiederhaben.«

»Ich will dich und…«

Morning schmiß eine Handvoll Raubmöwenknochen an die Wand aus hartgepreßtem Schnee, unterbrach ihn mitten im Satz. »Kannst du dir eigentlich überhaupt nichts selbst denken? Muß man dir alles erklären? In zwei Tagen überfliegen wir den Mount Skeidshoven. Weißt du, was der Mount Skeidshoven ist, du Idiot?«

»Nein.«

»Doch, du weißt es.«

Ich weiß nicht, was der Mount Skeidshoven ist, wiederholte George sich insgeheim pausenlos. Seit seine Schußwunde ihm zugefügt worden war, hatte sie nicht mehr so geschmerzt. Ich weiß nicht, was…

Er ahnte es. O Gott, er wußte Bescheid. Ich hoffe, der Teufel hat dich geholt, Nostradamus, du Fürst der Fälschungen! Und dich auch, Leonardo, Maler der Mogeleien!

Er zog die Glasmalerei der Laterna Magica aus der Brusttasche. Seine vorgebliche Frau lächelte ihn an, seine angebliche Tochter trug nach wie vor ein fröhliches Gesicht zur Schau. Mit einer schnellen Wegwerfbewegung schmetterte er das gläserne Rechteck auf den Fußboden. Es gab ein Geräusch, als bärste eine Nuß im Nußknacker. Nicht jeder leistet es sich, dachte George, einen unbezahlbaren Original-Leonardo kaputtzumachen. Dann fingen seine Tränen zu kullern an, so dicke und kalte Tränen, als ob in seinem Schädel eine Eisuhr schmölze.

Morning streifte die Handschuhe ab und hob eine Scherbe der zerschellten Leonardoschen Glasmalerei auf. Das Bruchstück zeigte Aubreys Kopf.

»Was ist der Mount Skeidshoven?« fragte George. Obwohl er es jetzt wußte.

Morning hielt die Scherbe an ihren Handteller. »Es ist die Stelle, wo ich…«

»Ja?«

»…auf den Kontinent gelangt bin.«

Morning zerschnitt mit der Scherbe ihr Fleisch. Schwarzes Blut quoll hervor. Es gerann, nahm den gequälten Ausdruck und das spitze Gesicht einer Weinenden an.

»Am zweiten Mai«, sagte sie. »An einem hellen Winternachmittag. Ich schaute in mein Gedächtnis und fand keine Erinnerungen. Nichts von Kindern, nichts von Liebhabern, nur funktionale Kenntnisse der Psychotherapie.«

Sie preßte die Lider zusammen, um ihre Tränen zu unterdrücken.

Trotz regelmäßiger Stockungen, in denen sie um Atem rang oder schluchzte, dauerte es nicht lang, ihre Geschichte zu erzählen. Sie hatte sich als blinder Passagier im U-Boot versteckt gehabt, als es von der McMurdo-Station auslief; später hatte sie vorgetäuscht, mit Randstable an Bord gegangen zu sein; sie hatte sich an Sverre gewandt und ihm eingeredet, seinen Gefangenen drohte plötzlicher Nervenzusammenbruch.

»Ich wollte ein authentisches Leben, George, nicht diese toten Träume wie die Ärmsten in den Südpol-Gehennas.« Nun flossen ihre Tränen, aber erstarrten zu dünnen, hellen Gletschern, ehe sie ihr von den Wangen rinnen konnten. »Und ich hab’s durchgesetzt. Ich hab’s mir erkämpft. Eine Schwarzblütige hättest du nie geliebt, aber in mich hast du dich verliebt.«

Sie öffnete die Augen. George war fort.

Ich verstehe die Geborenen nicht im mindesten, gestand Morning sich ein. Ich liebe diesen Mann, und trotzdem habe ich keine Ahnung, was ihm etwas bedeutet.

Dem Lichtkegel ihrer Stablampe nach lief sie durch den Irrgarten der Eis- und Stahlstollen, folgte dem Knirschen und Stampfen der Stiefel Georges, seinem Gebrüll, das von den frostharten Innenflächen derNeuen Amundsen-Scott-Station widerhallte, einem Geheul unermeßlich tiefen Grams, einem Grölen gegen Gott geschleuderter Flüche sowie – am häufigsten, immer wieder – von tausendfachen Echos verstärkten Herausschreien der Forderung, das Universum möge ihm ein Kind schenken.

*

Das Gebrechen hatte seinen Ausgangspunkt in der Milz. Sverre konnte fühlen, wie es das dicke Organ zersetzte, sich rings um es ausbreitete, in seine Lymphflüsse sickerte, ins Quellgebiet des Herzens kroch. Stunden-, tagelang lag er in seiner Koje, das Voranschreiten seines Annulliertenunheils aufzuhalten außerstande, während sein Geist an der vernebelten Grenze zwischen Schlaf und Vergessen entlangirrte. Sein Gehirn trieb auf dunklen, teerigen Strömen. Gelegentlich zeigte es ihm Bildfetzen seiner geliebten Kristin, häufiger jedoch eine antarktische Kluft, einen Stollen zur Hölle.

Es stand alles in der McMurdo-Sund-Konvention. Sverre war der erste seiner Art gewesen, der auf den Kontinent gelangte, deshalb mußte er ihn auch als erster verlassen. Ragnarök, dachte er. Weltuntergang. Mit seinen neuen Versen war er zufrieden. Sie reimten sich nicht; wahre Dichtung brauchte keine Reime.

 

Fürwahr schlug Thor die Midgardschlange,
Als Jörmungand dem Meer sich entrollte,
Und des Wurmrachens letzter Brodemhauch
Versengte den Gott, verdorrte sein Blut.
Sodann zerbarst der Sterblichen Welt,
Und sie versank in den ewiglichen Winter.

 

Ragnarök – Fälligkeitstermin aller Schulden, Höhepunkt aller Sagen. Und so durchstürmte, getreu der legendären Überlieferung, ein antarktisches Unwetter das U-Boot, das Schnauben des Seeungeheuers blies die Luken aus den Angeln, sauste durch die Korridore, stob in Sverres Kabine. Er hüllte sich enger in die Decken, aber gegen den Atem des Ungetüms schützten sie nicht; er preßte ihm Mark und Bein zusammen, verwandelte sein Gummiauge in ein Hagelkorn. In seinen Ohren dröhnte das Wummern von Jörmungands Herz.

Er erwachte. Das Herz war jemandes Faust, die an seine Kabinentür hämmerte.

Er wälzte sich aus der Koje und geriet als erstes mit der Nase in den eigenen Gestank, die Ausdünstung von mit Gin und Schweiß durchtränktem Fleisch. Gin, so wußte er, nur Gin konnte ihm zur Tür helfen. Er hinkte zu seinem Schreibtisch, entdeckte die Flasche, hob sie an den Mund. Seine vom Alkoholmißbrauch fahrige Hand tatterte über die Schreibtischfläche, kippte das Tintenfaß um, versaute Seiten seiner Ballade Thors Saga mit Klecksen.

Vor der Tür standen zwei Gespenster in ARES-Monturen. Reif bedeckte sie. Im Bart der einen Gestalt wütete ein Schneesturm.

»Sie tragen keine Uniform«, sagte Morning, während sie den Helm abnahm.

»Dr. Valcourt?« Sverre trank einen Zug aus der Flasche.

»Per Geier vom Pol zum Astrid-Land in einundfünfzig Stunden«, antwortete sie. »Das muß ein Rekord sein, oder? Wir kommen ins Guinness-Lexikon der Superlative.«

»Morning und ich lieben uns«, sagte George.

»Weiß ich«, nuschelte der Kapitän.

Sverre tat einen Schritt vorwärts, stolperte. George fing ihn mit eisbärhafter Umklammerung auf, die Gin-Flasche klirrte auf den Fußboden. Es erschreckte George, wie ausgezehrt der Kapitän war, seine Haut glich Papier, sein Bart hatte Färbung und Beschaffenheit ausgedörrten Seetangs. Er trug Sverre zur Koje, bettete ihn in die von dessen Körper der Matratze eingedrückten Mulde. Sverre bat um seine Dichtung und den Gin. George hob die Flasche auf, während Morning die Papiere vom Schreibtisch holte.

»Ich habe die Hinrichtungen gesehen«, sagte Sverre. »Tarmac hat die Haube abgelehnt. Ein echter Nobelgeneral…« Er hustete. »Ich hätte gerne, daß jemand mir Thors Saga vorliest.«

Morning las dem Kapitän seine Ballade vor.

»Nicht übel, was?« fragte Sverre.

»Sie wären ein enorm guter Texter für Grabinschriften gewesen«, meinte George.

»Seien Sie ehrlich. Taugt das was?«

»Sie sind ein Dichter von Weltgeltung geworden«, antwortete Morning.

George ergriff den weißen Raben auf Sverres Schreibtisch, glättete seine Alabasterfedern. Holly hätte ihn Flörchen genannt. »Sir, Sie haben zu meinen Gunsten einige Anstrengungen unternommen«, sagte er umständlich. »Dafür bin ich Ihnen dankbar.«

»Ihr Name hätte nie in der Anklageschrift stehen dürfen, Paxton.« Sverre grinste, bleckte dabei Zähne, die indischem Mais ähnelten. »›Seid fruchtbar und mehret euch‹, kann ich Ihnen beiden jetzt bloß noch empfehlen.«

Morning warf George einen Blick mit der unmißverständlichen Aufforderung zu, dem U-Boot-Kommandanten seine Illusionen zu lassen. »Mein lieber Korvettenkapitän Sverre«, fragte sie, »ist meine Annahme richtig, daß Sie den Dienst in der Marine noch nicht quittiert haben? Sind Sie noch Kapitän der Donald Duck?«

*

Der Todgeweihte konnte nicht stehen, also setzte er sich auf den Altar, seine Stiefel baumelten gegen das seidene Antependium. Früher wäre seine Stimme durch die ganze Kapelle gehallt, hätte vielleicht gedonnert wie eine Höllenfeuer-Predigt Pastor Sparrens; jetzt jedoch mußte das Brautpaar sich vorbeugen, um seine Worte verstehen zu können.

»Prost Gemeinde, wir sind hier versammelt in Gegenwart… Egal. Egal.« Ein Hustenanfall packte und schüttelte Sverre. Er ruderte mit den Armen, seine Hand drosch gegen einen Kerzenhalter, warf ihn um. »Von irgend etwas. Irgend was. Um diesen Mann und diese Frau zu vereinen zum… Zu irgend was. Zum heiligen Ehebund. Zum abgesegneten Bumsprogramm. Irgend so was halt.«

Er zog die Gin-Flasche aus dem Frack und trank.

»Wollen Sie, Morning Valcourt, diesen Troll, George Paxton, zu Ihrem rechtmäßig angeträumten Eheweib… Ehemann nehmen… und von nun an in guten und schlechten Dingsda… ob arm, ob reich, die Liebe macht uns alle gleich… in Wohl und Wehe… lieben und ehren, bis daß… daß der Tod verscheidet?«

»Ja.«

Sverre hustete, schwarzes Blut kam ihm hoch.

»Wollen Sie, George Paxton, diese Frau, Morning Valcourt, zu Ihrer rechtmäßig angebauten Gattin nehmen und sie von nun an, in guten wie in schlechten Zeiten, in Wohl und Wehe… ob Heuschreckenschwärme, ob Gammastrahlen… lieben und… und so weiter. Na, was denn nun?«

»Ja.«

»Also sind Sie jetzt im geiligen Eheschlund verweint, und vor Gott und dem Kapitän verschwöre ich Sie zu Mann und Frau.«

Ehegatte und Ehegattin küßten sich. Ihre ARES-Monturen saugten sich aneinander fest und trennten sich einen Augenblick später mit einem saftigen Schmatz.

Als Sverre lächelte, verklebte ihm schwarzes Blut die Zähne. »Bringen Sie Ihren Kindern Respekt vor der kristinlichen Seefahrt bei.« Er sackte auf dem Altar zusammen. »Da«, raunte er. »Hab sie noch nie so deutlich gesehen… Schaun Sie mal, da ist Kristin, sie fährt Achterbahn, rauf und runter, rauf und runter… so freundlich…«

George und Morning streckten ihn auf dem Altar aus, knöpften seinen Frack auf. Wie eine verschimmelte Zwiebel stieß Sverre nacheinander verschiedene Schichten ab, Haut, Muskeln, Eingeweide, Nerven, alles rutschte von seinen Knochen, dann sah man nur noch Staub, und zum Schluß nichts mehr, überhaupt nichts außer einem einzelnen Gummiauge.

Die Jungverheirateten verknoteten Sverres leere ARES-Montur zu einem Bündel, stiegen damit aufs Oberdeck und warfen es über Bord. Eine Eisscholle schwamm auf die Montur zu und drückte sie unter Wasser, hinab in die Tiefen der Bucht. Von ihren Brutplätzen herab schaute eine Schar Pinguine zu. In ihren vornehmsten Smokings waren sie zur Hochzeit erschienen und mußten unmittelbar im Anschluß eine Seebestattung mitansehen. Ernst wie ein Trauerzug standen sie pflichtbewußt auf den Klippen, bis mit wuchtig-lauten Schwingenschlägen und gräßlichem Kreischen der Geier aufkreuzte und sie verscheuchte. Es war das letzte Mal, daß George das große, nichtausgestorbene Tier sah, seinen gefiederten Mitangeklagten, ein Monstrum und per Zufall Weltuntergangsverursacher.

Erschöpft und ausgehungert – seit zwei Tagen hatten sie weder geschlafen, noch eine regelrechte Mahlzeit eingenommen – kehrten Gatte und Gattin in ihre Behausung zurück. Sie gingen in die Kombüse, ein Wunderland der Töpfe und Pfannen, und bereiteten ihr Hochzeitsfestessen zu, schlangen alles sofort hinunter. Äpfel und Birnen verschwanden in ihren hungrigen Mündern, Putenkeulen nagten sie halb roh ab, Mais futterten sie in gefrorenem Zustand. Den Hochzeitskuchen verzehrten sie, während er noch Teig war.

Sobald das Paar in vollgestopfter Verfassung in den Korridor schwankte, stellte es fest, daß ungefähr achtzig Meter es von den Kabinen trennte. Die beiden sahen sich an. Achtzig Meter, achthundert Kilometer – auf jeden Fall war es ihnen zu weit. Sie ließen sich für ihr Nickerchen einfach auf den Boden sinken. George schlüpfte aus seiner ARES-Montur wie eine Eidechse aus der Haut. Er hörte Gesäge – ja, Schnarchen, aber es waren Morning Valcourts Schnarchtöne, folglich hörte er sie gern, empfand er sie als behaglich-nette, ausdrucksvolle Laute. Ruhig betrachtete er seine neue Frau, die bedeutende Annullierten-Psychotherapeutin und überragende Geierdompteuse, fand unendliches Gefallen an ihrem sommersprossigen, vom Eis rauhen, schönen Schlafgesicht…

Als er erwachte, hatte die Welt sich in einen Erotikfilm verwandelt, war der Teppichboden weich, der Korridor warm, Schweiß durchfeuchtete seine Unterwäsche wie eine wohltuende Emulsion, und da kam Morning, frischgeduscht und in einem mit dem Anker-Emblem der Kriegsmarine der Vereinigten Staaten geschmückten Seidenschlafanzug, blieb in provokativer Froschperspektive vor ihm stehen, streckte ihm eine nasse Hand entgegen. George sprang auf, folgte ihr durch den Korridor, genoß den Duft ihres gewaschenen Haars, seine Erektion bewegte sich ihm voraus wie ein Bugspriet. Er fühlte sich so fickrig wie früher während der Pubertät. Vor der Kabine des Ersten Offiziers küßte Morning ihn mit linkischer Begehrlichkeit.

»Ich bin völlig verschwitzt«, sagte George.

»Ist mir gleich«, entgegnete Morning, zog ihn über die Schwelle.

Die Kabine erstrahlte im Licht vieler Kerzen. Wie vieler Kerzen? Waren es hundert? Tausend? Kerzen brannten liebevoll arrangiert auf dem Nachttisch, dem Sekretär, dem Fußboden, Kerzen staken in Gin-Flaschen und Teegläsern, auf dem Kopfende des Betts standen Kerzen aufgereiht, als bildeten sie das Sternbild Midgardschlange.

»Veranstalten wir ’ne spiritistische Sitzung?« fragte George.

Morning schnappte nach Luft, ihr Lächeln verflog. Unerbittlich biß George sich auf die Unterlippe, zuckte vor Weh zusammen.

»Entschuldigung. Ich…«

»Ich dachte, es gefiele dir«, sagte Morning. Die Augen wurden ihr feucht. »Kerzen sollen doch… romantisch sein.«

»Es gefällt mir«, beteuerte George schleunigst. »Es ist schön.«

»Weißt du, George, ich kenne mich in diesen Dingen einfach nicht aus.«

»So ist es sehr romantisch.«

»Ich habe mit so was gar keine Erfahrung.«

»Mach einfach alles nach, was ich tu.«

George schlang die Arme um sie, rieb ihre Schulterblätter. Sie tat das gleiche bei ihm. Er entledigte sie, indem er die wundervoll reibungslos aufknöpfbare Schlafanzugjacke aufnestelte, des Oberteils, warf es auf das Bett, die einzige Stelle in der Kabine, wo es kein Feuer fangen konnte. Sie ahmte ihn nach: sein Unterhemd flog hinterdrein. Ihre Brüste waren nicht groß, aber zählten unverkennbar zu den unergründlichen Formen der Sinnlichkeit, der Religion runder Altäre, den Erzeugern so heißer, ergebungsvoller Leidenschaften, daß die Männer der ausgerotteten Spezies Mensch davor fassungs- und machtlos gestanden hatten, die Frauen ratlos gewesen waren und verdrossen, also besah er sie sich – in dem Gefühl, diese Lüsternheit nicht nur sich, sondern seinem gesamten, toten Geschlecht schuldig zu sein – mit aller Ausgiebigkeit, bevor er die Brustwarzen küßte, die sich ihm entgegenschoben wie braune Sprossen aus der Erde, und innerhalb von Sekunden merkte Morning, wie sie vorgehen mußte, küßte seine Brustwarzen.

Er entkleidete sie vollends. Sie tat das gleiche mit ihm. In dem von Kerzenschein hell erleuchteten Raum standen beide sich gegenüber.

»Das hier muß ich in dich hineinstecken, siehst du?« Dem Orgasmus schon nahe, senkte George seine Morning aufs Bett.

»Davon habe ich gelesen.« Sie lachte. »Muß ich auch etwas in dich hineinstecken? Ich hab’s vergessen.«

George drang in sie ein, stocherte, seine übereifrigen Spermien schossen hinaus, in sie hinein.

»War’s das?« fragte Morning.

»Als du zum erstenmal Kaffee getrunken hast – wahrscheinlich mit neun, oder so –, da hat’s dir noch nicht geschmeckt, stimmt’s?«

»Ich bin nie neun gewesen.«

George vollführte eine Drehung, schwang die Beine über die Bettkante. Ein Kerzenflämmchen leckte gegen seinen Fußknöchel. »Ich glaube, was ich jetzt wirklich brauche« – er stand auf –, »ist ’ne Dusche.«

Er betrat die benachbarte Duschkabine, fühlte sich wie ein General, der eine Schlacht verloren hatte, aber allen Anlaß zu der Hoffnung sah, den Krieg zu gewinnen. Anhänglich folgte ihm Morning. Sie wuschen sich gegenseitig, gaben einander triefnasse Küsse. Morning hatte einen herrlich griffig-festen Leib, in dem man die Knochen spürte, ganz anders, als er es bei ihresgleichen erwartet hätte. Irgendwann hatte er von dem psychologischen Experiment gehört, bei dem eine männliche Ratte während ständiger Zuführung neuer Weibchen ständig sexuell erregt gehalten worden war, und als er sah, wie das Wasser, das an Morning hinabrann, sie verwandelte, die Tropfen, als wären sie glitzrige Kiesel, über ihre unglaublich begehrenswerten Hüften perlten, und einige Augenblicke später, wie das eng um ihre Schenkel gewundene Laken sie wiederum veränderte, da wußte er, daß er in Morning Valcourt eine unversiegbare Quelle der Lust gefunden hatte.

Das zweite Mal vögelten sie so, daß ihre beiden Geschlechter auf sie stolz gewesen wären. Zügig erfaßte Morning, auf was es ankam, sie agierte lockerer, geschmeidiger, bebte vor Wonne, kostete die ungewohnten Gefühle aus. Ihr wurden Erinnerungen an ihr annulliertes Liebesleben bewußt. George berührte sie mit der gleichen Wertschätzung und Hingabe, wie er früher zu Grabsteinen zerteilten Granit gestemmt hatte. Morning hatte überstarke, ausgedehnte Orgasmen, die George ähnlich konvulsivische Höhepunkte ermöglichten. Zwischendurch dösten beide, und wenn sie zu sich kamen, vereinigten sie sich nochmals inmitten der vielen, kleinen Flammen, Morning improvisierte jetzt, ergriff die Initiative zu Neuem, nutzte ihren Körper zum Leugnen ihrer Annulliertheit, und nach und nach merkte George, daß sie, alles in allem besehen, dafür eine ausgeprägtere Befähigung als er mitbrachte. Seine sexuelle Erfüllung reichte tiefer, als er es je zuvor erlebt hatte. Rund um die Uhr praktizierten sie beide ihr Geschlechtsleben, ins Schlafen, Essen und Atmen fügten sie sich nur der Unvermeidlichkeit halber. Sie entdeckten sexuell noch ungenutzte Körperöffnungen und erprobten ihre Brauchbarkeit; sie dachten sich geile Späße aus, teils verbale, teils solche, zu denen es der Finger und des Munds bedurfte; sie fraßen einander schier auf in ihrer Brunst, versuchten es gemein und schmutzig, dann wieder kosmisch-überhöht zu gestalten, so daß sie manchmal schlicht fickten, bisweilen ›der Liebe pflegten‹, und bei allem vergaßen sie nicht den Reiz neuer Örtlichkeiten: sie trieben es auf den Spieltischen, in der Kapelle, in den Schwimmbecken, im Offizierskasino, in Mornings Behandlungszimmer. Sie bekam ihre Menses. Auf mit schwarzem Blut getränktem Bettzeug bumsten sie weiter. George schwärzte seinen Bolzen. Ihre wechselseitigen Bewegungsabläufe, die Stöße, das Aufbäumen, alles nahm den Charakter von Trotzhandlungen an, einer Verhöhnung aller negativen Gedanken, und Georges Spermien wedelten mit ihren prächtigen Schwänzlein und schlängelten sich in Mornings eilose Gebärmutter vor, und insgeheim jubilierte das verhinderte Elternpaar, dachte: Versucht es auf alle Fälle einfach einmal, ihr armseligen, kleinen Lausejungs, seid fruchtbar und mehret euch, denn eine Jungfrau wird empfangen, ihr könnt es schaffen, also gebt euch gefälligst Mühe.