In den nachfolgenden Tagen nahm Georges Gram eine neuenglische Eigenschaft an, die darin bestand, daß er schließlich weniger ein Gefühl war und mehr eine zu bewältigende Aufgabe.
Er versuchte sich an die vielen Male zu erinnern, bei denen er die Vaterschaft als erdrückend schwere Last empfunden hatte; die Momente, in denen Hollys Gekreische oder ihr Trotz ihn an den Rand der Kindesmißhandlung trieb, die Augenblicke, in denen er das Gefühl gehabt hatte, ihm sei sein Leben geraubt und gegen eine an seinen Fuß gekettete, zum Schnattern fähige Eisenkugel ausgetauscht worden. Doch ihm kamen nur peinlich rührselige Erinnerungen: Wie Holly ihre Puppen zu Bett brachte. Sich noch bemühte, die kranke Katze zu füttern, ehe sie starb. Vor sich hinsang. Den Sinn eines Anklopf-Spiels zu begreifen. Sie hatte nie verstanden, daß ein richtiges Anklopf-Spiel mit Wortwitz einherging. Poch-poch, rief sie. Wer ist da? hatte eine vierjährige Freundin gefragt. Jennifer (oder Susi, Jeremias, Alfred oder Margret), hatte Holly geantwortet.
Welche Jennifer?
Jennifer Popowindeldoofgesicht.
Und dann hatten sie und ihre Freundin, begeistert von ihrer eigenen Vorschul-Sozialsatire, vor Heiterkeit gekichert und geprustet.
Poch-poch.
»Wer ist da?« Eigentlich brauchte George gar nicht zu fragen. Das Anklopfen war so typisch wie ein Fingerabdruck. »Die Tür ist auf, Henker.«
Stürmisch drang HOPPEL-Häschen in die Kabine ein, als übte er Häuserkampf. Ihn begleitete ein Mann um die fünfzig, der einen düsteren Blick von der Schärfe einer Rasierklinge und den schlaksigen Körperbau einer Marionette hatte.
»Ich möchte Sie mit Dr. William Randstable bekanntmachen«, sagte Henker. »Das Wunderkind des Forschungslabors Sugar Brook, den Gerüchten zufolge ein anerkanntes Genie.« Der Generalmajor hatte an Gewicht verloren, und die Tränensäcke unter seinen Augen sahen wie Geldbeutel aus. »William, das ist George Paxton, der Ehrendichter von Wildgrove in Massachusetts.«
»An sich bin ich ja kein Wunderkind mehr«, sagte Randstable. »Mehr ein Wechseljahre-Wunderknabe.«
»Ich habe gehört, Sie hätten mal den russischen Schachmeister geschlagen«, sagte George.
»Ich bin nur der von uns beiden gewesen«, entgegnete Randstable bescheiden, »der den vorletzten Fehler begangen hat.«
Henker tätschelte sein tragbares Atomgeschoß. »Also, Männer, es sieht ganz so aus, als sollten nun Nägel mit Köpfen gemacht werden.« Er quetschte die Worte durch eine zittrige Kehle und zusammengebissene Zähne hervor. »Um vierzehn Uhr will man die übriggebliebenen gegnerischen Raketenstellungen ausschalten. Wenn wir uns beeilen, können wir im Startkontrollraum mitanschauen, wie sechsunddreißig MultiAttack-Raketen abdüsen wie Lützows Wilde Jagd.«
»Sugar Brook hat die technischen Voraussetzungen für die MultiAttack-Raketen erarbeitet«, sagte Randstable mit abgehacktem Lachen. Er nahm die Hornbrille von der Nase und fing auf einem der Bügel zu kauen an. »Ich habe mich immer gefragt, wie mir wohl an dem Tag zumute wäre, falls die Vögelchen je aus ’m Nest flögen.«
»Muß ziemlich aufregend sein, denke ich mir«, meinte George. Damit äußerte er, schlußfolgerte er in Anbetracht dessen, was aus Randstables Brust drang – einer Kakophonie unbeherrschter Stöhn- und Ächzlaute –, eine Untertreibung.
Nachdem die drei Evakuierten einen schmalen Gang voller Röhren, Kabel, Steigleitern und Absperrhähnen durchlatscht hatten, gelangten sie an eine mit dem Hinweis FREIZEITBEREICH ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE VERBOTEN beschriftete Luke. Henker entschied, sie seien Befugte. Sie gingen durch und gerieten in eine lebenslustige unterseeische Metropole, in der man lediglich alle Einrichtungen den beschränkten Platzverhältnissen eines U-Boots angepaßt hatte. Das Trio strebte durch einen mit dem Straßenschild VERGNÜGUNGSPARK gekennzeichneten Korridor. George bemerkte ein raumsparend integriertes Rollschuhstadion, eine leicht verkürzte Bowlingbahn, eine Minigolfanlage, auf der es an jedem Hindernis galt, den Ball ins eine oder andere Loch einer Gips-Seejungfrau zu befördern, sowie zwei knapp bemessene Innenschwimmbecken. Das Wasserbecken für die Unteroffiziere und Mannschaften hatte eine Tiefe von zwei Metern, der Swimmingpool für die Offiziere von zwei Metern fünfzig. Im Wachsein ereilte George ein Alptraum: Die Leutnants Max und Moritz umwickelten seinen Leib mit Ketten und warfen ihn in den Offiziers-Swimmingpool. Oder vielleicht zögen sie die Bowlingbahn vor: Dort könnten sie ihn fesseln und hinter die Kegel setzen.
Vor einem kleinen Kino leuchtete ein Reklamevordach. SERGEJ BONDARTSCHUKs ›KRIEG UND FRIEDEN‹ lautete die Werbung. An der Kasse standen mehrere Blaujacken Schlange. Zum Glück waren Max und Moritz nicht dabei. Gegenüber des Kinos bedrohte das Spielkasino Silberdollar durch seinen Wirrwarr an Lichtern und Sofortgewinn-Verheißungen Georges Augen mit Pupillenschlag. Durch die Schwingtür sah er einen Marine-Obergefreiten Karten zum Vingt-un austeilen. Das Klicken und Läuten von Spielautomaten lärmte in den Korridor heraus.
Hinter einem Schott mit der Aufschrift WAFFEN-SYSTEM-ABTEILUNG ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE VERBOTEN standen die Evakuierten plötzlich vor einem offenen Zugang zum Raketenbunker. Matrosen hasteten hin und her. Henker knöpfte sich den erstbesten Offizier vor, den er sah, einen sommersprossigen Kapitänleutnant namens Grass.
»Mister Grass, ich dachte, um vierzehn Uhr sollten die Raketen gestartet werden.«
Der junge Offizier versäumte es, Henkers Gruß zu erwidern.
»Die Wiedereintritts-Projektile sind nicht einsatzbereit«, sagte er.
»Nicht einsatzbereit? Was für eine Art von Saftladen managen Sie eigentlich hier, Mister? Kapitän Sverre wird Ihnen die Eier schleifen.«
Nun salutierte Grass. Allerdings verwendete er die verkehrte Hand. Er trat vor George und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Sind Sie das nicht gewesen, der erzählt hat, er wäre vorige Woche fast ins Wasser geschossen worden? Echt ulkig. Ungelogen.«
Das Evakuierten-Trio folgte Grass ins mit einer Höhle vergleichbare, von Echos durchgeisterte Silo.
»Beinahe wäre ich erstickt«, sagte George.
»Das wird vielleicht der Zweck gewesen sein«, sagte Grass.
Die sechsunddreißig Abschußrohre, überwältigend in ihren Abmessungen, in ihrem Metallglanz atemberaubend, ragten zur Decke empor wie Reihen altägyptischer Säulen. Wirklich erinnerte der Raketenbunker an nichts so sehr wie an eine technizistische Nachäffung des Tempels von Karnak. George wagte sich nur gebeugt näher, so tief beeindruckte ihn die erhabene Majestät der nationalen Sicherheit. Im Tempel betätigten sich Anbeter. Auf Gerüste gekauert, an sie geklammert, tummelten Matrosen sich an den Abschußrohren auf und ab, schraubten Abdeckplatten los und ließen sie an Stahlseilen hinunter auf Deck.
»Warum werden die Abschußrohre geöffnet, Mister Grass?« wollte Henker erfahren.
»Um an die Geschoßspitzenummantelung gelangen zu können«, antwortete Grass.
»Wozu denn das?«
»Um an die Sprengköpfe zu kommen.«
»Weshalb?«
»Um uns die Zündvorrichtungen vorzunehmen.«
»Wieso?«
»Um den Scheiß wegzuhauen.«
Henker steckte sich einen Finger ins Ohr und bohrte im Gehörgang. »Verzeihen Sie, Mister, aber die elektromagnetische Strahlung der Explosion über Omaha muß wohl meine Löffel geschädigt haben. Mir war, als hätten Sie gesagt, Sie möchten die Sprengköpfe entschärfen.«
»Die Dinger sind gefährlich, Generalmajor. Wenn eins beim Start detoniert, könnte jemand verletzt werden.«
Am Oberende des nächstbefindlichen Abschußrohrs sah man eine Gruppe von Wiedereintritts-Projektilen. Jedes glich einem Hexenhut, war schwarz, konusförmig und beschmiert mit seltsamen Ölen.
»Sie haben vor, unscharfe Raketen abzufeuern?« fragte Randstable, wölbte befremdet die Brauen. »Irgendwie entgeht mir eine wichtige Komponente Ihres strategischen Kalküls, Leutnant.«
»Wie Sie ohne Zweifel wissen, Dr. Randstable, hat an Bord eines U-Boots jeder Kubikzentimeter Raum größten Wert.« Jungenhaft lächelte Grass. »Sobald ich diese vielen Treibsätze und Nutzlasten abgestoßen habe, steht mir endlich der Platz frei, um Apfelsinenbäume zu ziehen.« Er zwinkerte. »Projekt Zitrusfrucht.«
»Apfelsinenbäume?!« Henkers Stimme dröhnte durch den ganzen prachtvollen Tempel. »Apfelsinenbäume, das ist ja wohl der Abschuß!«
Die Matrosen unterbrachen ihre Tätigkeit. Von oben schauten sie auf ihn herab.
»Sie können sich bestimmt denken, Generalmajor, daß Apfelsinen auf dem Grund des Atlantiks schwer erhältlich sind«, sagte Grass. »Wenn Sie mich fragen, Umstellung auf Obstbäume dürfte der Trend der Zukunft sein.«
Die Matrosen setzten, fleißig wie Ameisen, die über ein hingefallenes Eis schwärmten, ihre Abrüstungsmaßnahmen fort.
*
Korvettenkapitän Olaf Sverre hatte eine Weltuntergangssammlung. Sein Hobby war die Apokalypse. Wenn kein Gin ihn lahmlegte oder er seemännischen Aufgaben nachgehen mußte, kramte er in der Bordbibliothek nach einer neuen Vision des Weltgerichts, und wenn er auf eine stieß, knüttelte er darüber ein schlechtes episches Gedicht. Feuer, Eis, Hungersnot, Überschwemmung, Dürre, Umweltverpestung, Krieg - Sverre hatte alles in seiner Sammlung. In seinem Poem Noah und Naamah hatte er über die vierzigtätige Sintflut geschrieben, in der die Sünder der Erde ertranken, über den weißen Raben, den Noah auf Suche nach Land schickte, und darüber, wie der schneeweiße Vogel statt dessen einen Leichnam entdeckte, der im Wasser trieb, und davon fraß, und daß er seitdem ausschließlich schwarzes Gefieder trug. In dem Epos Yma der Siegreiche hatte Sverre über einen endlosen Winter gedichtet, in dem Yma vom zarathustrischen Gott des Lichts die Offenbarung einer großen Umfriedung empfing, in die der Heroe die Abkömmlinge von Menschen und Tieren bringen mußte. Keine Krummbuckel von Nachkommen, hatte der Gott des Lichts, ein früher Rassenhygieniker, Yma empfohlen. Keine Impotenten, Verrückten oder Leprotiker, und keine Leute mit Hang zur Eifersucht.
Sverre setzte sich an seinen Schreibtisch und bekritzelte das Papier, nachdem er seinen Federhalter in ein einem Totenschädel nachgebildetes Tintenfaß getunkt hatte, mit schwungvoll geschriebenen Zeilen. Noahs Rabe, Alabasternippes, weiß wie eine ARES-Montur, schaute ihm dabei zu. Der Kapitän dichtete über das in eisigen Meerestiefen verborgene Seeungeheuer Jörmungand, eine dermaßen lange Schlange, daß ihr Leib die gesamte Welt der Sterblichen, Midgard, umfangen konnte. Einmal schon hatte der nordische Gott Thor die Midgardschlange gejagt, indem er ihr zum Köder an einer Kette den Kopf eines Ochsen auswarf. Jörmungand biß an. Thor zog die Schlange aus dem Meer und hob seinen Hammer, wollte ihn ihr zum Todeshieb um die Ohren dengeln. Doch die Kette riß. Allerdings war es die Bestimmung Thors und der Schlange, sich ein zweites Mal zu begegnen, wenn Ragnarök anbrach, das Ende der Welt, und dann…
Ein Klopfen hemmte bis auf weiteres die Fortschreibung der Ballade Thors Saga. Sverre zwängte den Federhalter dem Raben in den Schnabel, kippte einen Zug Gin und torkelte durch seine Kajüte.
»Diese Evakuierten hier bestehen darauf«, brummelte Kapitänleutnant Grass, sobald Sverre die Tür aufgerissen hatte, »mit Ihnen zu sprechen.«
Generalmajor Tarmac salutierte mit feindseligem Gehabe. »Kapitän Sverre, in Ihrem Raketenbunker werden gegenwärtig Aktivitäten betrieben – anscheinend unter dem ›Codewort Zitrusfrucht‹ –, die unsere Sicherheit ernsthaft gefährden können.«
»Sie dürfen gehen, Mister Grass«, sagte der Kapitän mit einem fremdartigen Akzent, dessen Herkunft sich nicht erraten ließ.
Aufgrund der Erwartung, daß zwischen Henker und Kapitän Sverre nichts Erfreuliches bevorstand, versuchte George sich aus allem herauszuhalten, indem er sich das gediegen-anachronistische Interieur der Kapitänskabine genauer ansah: Dunkle Holztäfelung, dicke Teppiche, Polstersofas, ein antiker Globus. Auf dem Schreibtisch saß ein Alabaster-Rabe, den Holly gemocht hätte.
»Ich sehe, mein Stubenvogel gefällt Ihnen, Mister Paxton«, meinte Sverre. »Er heißt Hans Huckebein.«
»Jemand hat mir mal ’n Rätsel gestellt«, sagte George. »Warum ist ein Rabe wie ein Schreibtisch?«
»Das kenne ich auch«, entgegnete Sverre. »Es gibt keine Lösung.«
»Ich werde trotzdem mal daran knobeln«, kündete Randstable in fröhlicher Perplexität an.
»Sie verschwenden Ihre Zeit«, verhieß Sverre. »Ich weiß ein Rätsel, das ’ne Antwort hat: Wann ist ein Erstschlag kein Erstschlag?«
»Wann denn nicht?« fragte Randstable.
»Wenn sie ein präventiver Vergeltungsschlag ist«, sagte Sverre.
»Hmm…«, machte Randstable, lutschte an seinem Brillengestell. »Stimmt… Gut.«
Henkers Gesicht hatte Färbung und Prallheit einer reifen Tomate angenommen. »Mir ist mitgeteilt worden, Sir, daß dieses ›Projekt Zitrusfrucht‹ Ihre Billigung genießt«, fauchte er, tappte mit den Fingern hörbar auf das Startgerät seines tragbaren Atomraketchens. »Ich wünsche dagegen die entschiedensten Bedenken anzumelden.«
Aus Sverres schwarzem Bart stahl sich ein Lächeln.
»Die MultiAttack-Projektile verlangsamen bloß unsere Fahrt, und je eher Grass sie durch einen hydroponischen Obstgarten ersetzt, um so besser.« Seine Augen glichen glitzernd-schwarzen Scheiblein. Seine Nase warf wie eine hoheitsvolle Pyramide Schatten über ein Viertel seiner Gesichtszüge. »Was ist los, Generalmajor, mögen Sie keine Apfelsinen? Tatsache ist, der Krieg interessiert mich nicht mehr besonders, und ebensowenig die Kriegsmarine der Vereinigten Staaten. Will jemand was zu trinken? Bei uns wird Gin gesüffelt.«
Henker verzog den Mund zum Inbegriff der Verachtung. »Ich kenne Ihren Typ, Sverre. Sie sind so ein Weichling, was? Sie haben Ihre Ernstfall-Order erhalten, Sie sollen jetzt Ziele beschießen, und da werden Sie auf einmal tief philosophisch oder so was.«
Der Kapitän stellte vier Styropor-Becher auf seinen Schreibtisch und zückte aus seinem Frack eine versiffte Flasche. »Die Indianer Brasiliens haben das alles vorhergesehen«, nölte er, während er Gin einschenkte. »Sie glaubten, die Erde hinge über einem Feuer, ähnlich wie ein Hähnchen am Grill.« Er reichte seinen Gästen den Gin, dann wies er sie mit einem Wink auf ein Sofa mit verschnörkelten Armstützen und einer Rosette, das George an den Grabstein Modell Nr. 8591 erinnerte. Während Henker still vor Wut köchelte, kehrte Sverre an seinen Schreibtisch zurück und baute einen Dia-Projektor auf. »Bevor Sie eine Meuterei anzetteln, Generalmajor« – die Eichentäfelung eines Schotts teilte sich und gab eine Leinwand frei – »möchte ich, daß Sie sich einige Schadensfeststellungen anschauen.«
Indem er eine Taste kippte, schuf Sverre in der Kajüte, in die ohnehin noch nie Sonne geschienen hatte, völlige Dunkelheit. Er nahm den Projektor in Betrieb, ein Keil grellen Lichts schoß heraus und erhellte die Leinwand. Keinerlei Körnchen tanzten im Lichtkegel; die Donald Duck war eine Welt ohne Staub. Sverre trat in den Helligkeitsstrahl, vollführte weitschweifige Gebärden. »Die Funksprüche der obersten Verteidigung, die wir aufgefangen haben, legen nahe, daß Rußland den Krieg ausgelöst hat. Das Luftverteidigungskommando Nordamerika will die ersten Anzeichen mittels luftgestützten Flächenradars beobachtet haben. Demnach überquerte ein Schwarm russischer Kugelblitz-Marschflugkörper Kanada mit Kurs auf Washington. Grund zum Präventivschlag, argumentierten die Vereinten Stabschefs. Also hat man gegen eine Anzahl ausgesuchter russischer Bomber-Stützpunkte und Fernraketen-Basen einen operativen Gegenschlag eingeleitet. Und dann hat der Gegner… zurückgeschossen.«
Der Kapitän ging zu seinem Schreibtisch, trank einen Schluck Gin und legte das erste Dia-Magazin ein. »Diese Bilder sind von der mit Periskop Nummer Eins verbundenen Kette geostationärer Satelliten aufgenommen worden.«
»An der Anlage haben wir gebastelt«, sagte Randstable.
»Wie bei jedem weltweiten Konflikt gab es auch im Dritten Weltkrieg etliche mitreißende und denkwürdige Schlachten«, tönte Sverre. Verwaschene Kleckse färbten die Leinwand. Sverre verstellte die Projektorlinse, und man erblickte einen verkohlten Erdspalt. »Schauplatz der Schlacht von Joplin, Missouri«, konstatierte Sverre. Er wechselte das Dia. Eine Landschaft in Flammen, Autos lagen wie umgedrehte Schildkröten auf ihren Dächern. »Die Schlacht von Dearborn, Michigan«, sagte der Kapitän. Das nächste Dia: Eine durch dunkle Flecken verunstaltete Ebene. »Die Schlacht von Dodge City, Kansas«, hieß diesmal der Kommentar. Nächstes Dia. Aus einem Sumpf ragten reihenweise geschwärzte Stümpfe verloderter Bäume. »Die Schlacht von Winter Haven, Florida.« Neues Dia. Ein Aschenmeer. »Die Schlacht von Twin Falls, Idaho.«
Von da an wechselte Sverre die Aufnahmen so rasch, als verschösse er Schnellfeuer. Racine. Amarillo. Hagerstown. Bowling Green. Chattanooga. Bangor. Binnen einer halben Stunde zeigte Sverre vier runde Dia-Magazine vor, deren jedes einhundertzwanzig Bilder enthielt.
Er schaltete den Projektor ab, und der Untergang von Troja/New York entschwand ins Nichts. Die Evakuierten saßen in dumpfer Finsternis und tranken Gin. Randstable gab einen Laut wie einen Hund von sich, der einen Alptraum hatte. Henker schnaubte mal, mal hustete er. Fünf Minuten lang fiel kein Wort.
»Wie verläßlich ist dieser Schadensüberblick denn überhaupt?« fragte schließlich Henker unsichtbar aus dem Dunkel.
»Zweifellos existieren Aussparungen mit Überlebenden«, sagte Sverre, »und ich bin ziemlicher sicher, daß zehn bis fünfzehn Kleinstädte übersehen worden sind.« Das Licht ging an. »Aber im großen und ganzen ist in dieser Diaserie die postatomare Umwelt wirklichkeitsgetreu wiedergegeben.«
»So?« meinte Henker. »Also, das ist ja lächerlich. Der HOPPEL-Plan war mit Eskalations-Vorbeugungsmaßregeln gespickt.«
»O jemineh«, sagte Randstable. »O Gott. Ach du lieber Gott.« Das gealterte Ex-Wunderkind zog ein kleines Reise-Schachspiel aus der Tasche. »Schnell! Weiß jemand ’n Schachproblem? Bitte, ich möchte, daß jemand mir ’n Schachproblem stellt.«
»Verteilen Sie acht Königinnen so auf dem Brett«, riet ihm Sverre, »daß keine eine andere schlagen kann.«
»Dafür habe ich zuwenig Königinnen«, schnaufte Randstable. »Egal. Schon gelöst.«
»Na gut, dann nehmen Sie vier Läufer und…« Sverre verstummte, als er sah, daß Henker sein tragbares Atomgeschoß vom Koppel gehakt hatte: der Generalmajor hielt es jetzt fest in der Rechten.
»Kapitän Sverre, falls Sie meinem Befehl den Gehorsam verweigern, greife ich auf die Option zurück, diese Mini-Rakete abzuschießen und dadurch einen Ein-Killtonnen- Nuklearsprengkopf im Viertelmeter-Abstand von Ihrem Körper in der Luft zu zünden.« Henker richtete die Waffe auf Sverres Magengrube. »Hiermit befehle ich die Einstellung von Projekt Zitrusfrucht. Ferner befehle ich Ihnen, Ihrem Feuerleitcomputer folgende, auf feindlichem Territorium gelegenen strategischen Ziele einzuspeisen.« Er löste von einem Halskettchen einen kleinen Schlüssel und steckte ihn in die Startvorrichtung. »Die Interkontinentalraketen-Stellungen bei Nowosibirsk, die Interkontinentalraketen-Stellungen bei Kirensk, das Hauptquartier der Strategischen Raketentruppe bei Charkow, die Sprengkopffabrik bei Minsk, die Befehlszentrale bei Gorki, das Ausweichs…«
»Wir sind immer bei Ihnen gewesen«, unterbrach ihn Sverre, indem er breiter lächelte, seine Augen von Glut zu pochen schienen wie bei dem Geier, den George überm Zielgebiet gesehen hatte, »und haben auf Einlaß gewartet.«
»Ich habe keine Ahnung, welche Schule Sie besucht haben, Kapitän«, sagte Henker, »aber an der Luftwaffen-Akademie hat man uns gelehrt, daß siegen besser als verlieren ist.«
»O jemineh«, sagte Randstable, während er seine Schachfiguren aufstellte. »O Gott.«
Sverre senkte eine knochige, wettergebräunte Hand auf Georges Schulter. »Ich glaube, wir überlassen die maßgebliche strategische Entscheidung hier unserem Mister Paxton. Sagen Sie, Sie sind dafür, George, und ich feuere sämtliche sechsunddreißig MultiAttack-Raketen mit scharfen Sprengköpfen auf den Gegner ab. Das wäre ein Einhundertvierundvierzig-Megatonnen-Vergeltungsschlag.«
»Ich soll das entscheiden?« fragte George.
»Ja«, bestätigte ihm Sverre.
»Ich?«
»Genau.«
»Warum ich?«
»Weil ich neugierig darauf bin, was passiert.«
George erachtete es als unangebracht, daß das Schicksal Rußlands in seinen Händen liegen sollte.
»Ich bin wirklich ungeeignet«, sagte er, »um derartige Beschlüsse zu fassen.«
»Sie haben schon ebensoviel Atomkrieg wie wir hinter uns«, ermunterte ihn Sverre.
In seiner Phantasie sah George einen kilometerhohen Grabstein vor sich: Modell Nr. 1067 in Vermonter Taubenblaugrau. Dem Granit stand eine Million Namen eingekerbt. Duluth. Dodge City. San Franzisko. Philadelphia. Chrysler-Werke. CBS. Xerox AG. Das Super-Bowl-Großstadion. Alles futsch.
Wie hatte Sverre sich ausgedrückt? Vergeltungsschlag? Ein vernünftiges, gerechtes Vorgehen. Sie haben uns plattgemacht. Wir müssen mit ihnen das gleiche machen.
Trotzdem…
»Verraten Sie mir, ob ich Sie richtig verstanden habe, Henker«, wandte George sich an den Generalmajor. »Sie möchten Rußland wegputzen, oder?«
»Ich will die russischen Reserve-Interkontinentalraketen vernichten und verhüten, daß sie bei späteren Folgeangriffen eingesetzt werden«, erläuterte Henker.
»Wieso?« fragte George.
»Wie bitte?«
»Ich habe gefragt: Wieso?«
»Aus Gründen der nationalen Verteidigung, deshalb.«
»Ja, ja, das kann ich verstehen«, sagte George. »Klar, Henker. Aber wenn wir eine nationale Verteidigung praktizieren wollen, brauchen wir dann nicht auch… äh… Na, Sie wissen schon.«
»Was denn?« fragte Henker.
»Eine Nation.«
»Das ist eine unentbehrliche Voraussetzung«, pflichtete ihm Randstable bei, dessen linke Hirnhälfte sich darauf vorbereitete, mit der rechten Schach zu spielen. »Bitte tun Sie das Ding da weg, ehe Sie uns alle umbringen.«
»Wenn wir die Reserven der Russen nicht zerschlagen«, behauptete Henker hartnäckig, »setzen sie sie ein, um unsere Überlebenden auszumerzen.«
»Wie bedauerlich es auch sein mag, ich glaube, wir können uns nicht der Einsicht verschließen, daß der HOPPEL-Plan nicht mehr unsere operative Strategie sein kann«, sagte Randstable, während er ausdruckslos aufs Schachbrett starrte. »Ich bin sogar der Meinung, daß auch SPATZ für uns keine Gültigkeit mehr hat. Wir sind jetzt in einer völlig andersgearteten Interessensituation und Motivationslage.« Plötzlich kehrte er sich Sverre zu, seine gespreizten Finger bildeten wiederholt Klauen. »Aber weshalb betreiben dann wir diese Antarktis-Aktion?«
»Gegenwärtig ist es Ihre Aufgabe«, antwortete der Kapitän, »gemeinsam mit Dr. Valcourt an der Überwindung Ihres Überlebenstraumas zu arbeiten.«
Henker schwitzte und zitterte, als hätte ihn hohes Fieber gepackt. »Ihnen geht’s um ein Motiv, William? Ich habe ein Motiv. Rache ist vielleicht kein schönes Wort, aber sie ist das, was von uns erwartet wird.«
»Ach ja, genau«, entgegnete Sverre. »Wir schulden es den vielen Millionen Toten, für noch mehr Millionen Tote zu sorgen. Sie sollten sich besser überlegen, wie Sie das strategische Denken umschreiben, Generalmajor, sonst verdienen Sie sich in diesem Krieg keinen einzigen Orden. Mister Paxton, ich muß nun eine Antwort von Ihnen haben.«
Xerox AG. Das Großstadion. Tschibo-Kaffee. Ritter Sport. Tante Isabella. Vetter Willi. Nicki Frostig. Justine Paxton. Holly Paxton.
Rache. George erwog das Wort in allen seinen Aspekten. Offenbar legte Henker darauf großen Wert. Aber die strategische Entscheidung, dachte George, liegt bei mir, nur mir. Unten auf dem kilometerhohen Grabstein sah er eine Inschrift: EIN EINHUNDERT-VIERUNDVIERZIG-MEGATONNEN-VERGEL-TUNGSSCHLAG MACHT UNS NICHT WIEDER LEBENDIG lautete sie.
Damit hatte er zu seinem Entschluß gefunden.
»Ich glaube, es wäre mir angenehm, bald zum Frühstück frischgepreßten Orangensaft haben zu können«, sagte George. »Beugt gegen Skorbut vor, hab ich gehört.«
»Eine schäbige Entscheidung, Paxton«, zeterte Henker. »Wirklich niederträchtig.«
»Tut mir leid«, sagte George leise.
Von der Stirn des Generalmajors troffen laue Schweißtröpfchen. »Zehn Sekunden, Kapitän. Soviel Frist bleibt Ihnen, dann schleudert David seinen Kieselstein. Neun… acht… sieben…«
»Er blufft«, sagte Randstable, der noch immer keinen Eröffnungszug gemacht hatte. »Ich wette hundert zu eins, daß er sich nicht traut.«
Sverre nahm wieder hinter seinem Schreibtisch Platz und setzte die Arbeit an Thors Saga fort. Henker visierte ihn neu an.
»Sechs… fünf… vier…«
»Ich glaube«, äußerte Randstable, »ich habe gar keins.«
»Was keins?« fragte Sverre.
»Drei…«
»Kein Überlebenstrauma«, sagte Randstable.
»Zwei…«
»Das läßt sich ändern«, versicherte Sverre.
Dem HOPPEL-Häschen entpreßte sich ein unheimlicher Laut. Unwillkürlich mußte George an das schaurige Keckern denken, das man auf der Wildgrover Herbstkirmes immer aus der Geisterbahn zu hören bekommen hatte. Henkers Finger erlahmten, seine Fäuste lockerten sich, die kleine Atomrakete klapperte auf den Fußboden. Wie sie so auf dem Teppich lag, ähnelte sie mehr denn je einem Spielzeug.
»So einen Knaller habe ich noch nie gesehen«, sagte Sverre, deutete mit dem Federhalter auf Henkers Geschoß.
HOPPEL-Häschen sank aufs Sofa, schüttete sich einigen Gin die Gurgel hinab und fing, während er hyperventilatorisch atmete, mit hohem Winseln sein untergegangenes Heimatland zu beweinen an.
Sverre verließ den Schreibtisch, hob das Geschoß auf. »Was für ’ne Lenkung?«
»Inertialsystem-Kreiselsteuerung«, antwortete Randstable. »Modernisiert durch Terrainfolgeradar.«
»Antrieb?«
»Luftatmendes F-Zweihundertachtzehn-Turbo-Triebwerk.«
»Startgewicht?«
»Neun Pfund.«
Später am Tag, nachdem die drei Erebus-Evakuierten fort waren, befahl Sverre seine Offiziere und Mannschaften auf Gefechtsposten. Man flutete die Abschußrohre, paßte sie den Druckwerten des Ozeans an. Man öffnete die Abschußluken. Die Zündung eines kleinen Treibsatzes im Heck jeder MultiAttack-Rakete erfolgte, brachte das Wasser in den Rohren zum Kochen. Dampf ballte sich, schleuderte die Raketen an die Oberfläche empor, wo automatisch die Haupttreibsätze zündeten. Die erste Stufe löste sich ab. Innerhalb von fünfzehn Minuten verteilten die Sprengkopfbehälter ihre harmlos gewordenen Nutzlasten zwischen den Key-Inseln südlich Floridas und der vom Erdboden verschwundenen Stadt New Orleans über den Golf von Mexiko.
*
Wie alle Fernraketen-U-Boote der Philadelphia-Klasse hatte auch die Donald Duck, vormals SSBN 713 New York City, auf den untersten Decks ein Labyrinth vergessener Gänge und unbeschrifteter Korridore. Beim Verlassen der Kapitänskajüte merkte George, daß er für Henker vorerst gestorben war und er sich voraussichtlich von ihm kein freundliches Wort mehr zu erhoffen brauchte – er sah es dem Generalmajor an der feindseligen Miene und der arroganten Haltung an –, also verdrückte er sich allzu schleunig, und im Handumdrehen verschlug es ihn dorthin, wo auf einem U-Boot das Pendant eines Hinterhofs sein mochte. Wie Leuchtspinnen pendelten kahle Glühbirnen an braunen Leitungsdrähten. Die stille Luft war abgestanden und trüb. Er wurde sich des U-Boot-Geräuschs bewußt, eines unsteten Tuckerns. Unter anderen Umständen hätte es ihn verstimmt, sich verirrt zu haben, aber er fühlte sich wegen seiner strategischen Entscheidung noch außergewöhnlich wohl. Ihm verdankten die Männer, Frauen und Kinder Rußlands es, daß ihnen ein Vergeltungsschlag erspart blieb. Das ist mein Denkmal für Holly, dachte er, geradeso herrlich und dauerhaft wie ein Block Granit.
Er klopfte an Türen. Die Echos hallten den leeren Korridor auf und ab. Er drückte auf die Türklinken. Jede Räumlichkeit war so fest verschlossen wie die scheunengroße Gruft, die die Familie Sweetser auf dem Friedhof Rosehaven stehen hatte. Furcht kroch durch Georges Brust und Bauch, verursacht durch die insgeheime Überzeugung, gleich müßten Max und Moritz aufkreuzen, um ihn irgendeiner neuen Marterung zu unterwerfen. Herrje, jeder hätte diesen albernen Abgabevertrag unterschrieben. Jeder. Schwarzes Blut. Geradeso wie Mrs. Covington. Über gewisse Sachverhalte sollte man nicht zu eingehend nachdenken. Ich denke einfach an etwas anderes. Holly hat Rußland gerettet…
Unter der Ritze einer nahen Tür sah er orangeroten Schimmer aufleuchten und wie Brandung zurückweichen. Er ging hin und klopfte an.
»Herein.«
Eine Frauenstimme. Als er eintrat, erblickte er ein Ungeheuer. Ja, sie treiben wieder ihr Unwesen, dachte er, versuchen mich einzuschüchtern…
Das Monstrum ähnelte einem riesigen, geflügelten Hai. Die Augen glommen blutrot, aus den Nüstern stoben Flammen und Rauch, als wären sie die Kamine eines Vulkans.
George hatte diese Sorte Vieh schon einmal gesehen.
»Hallo, George.«
In der Mitte der Kabine stand eine alte Dame über die Art von Apparatur gebeugt, die man, wie George infolge eines Besuchs mit Holly im Bostoner Jugendmuseum wußte, Laterna Magica nannte. Ein von Rauch durchwallter Lichtkegel strahlte auf den projizierten Geier zu. Auf Nase und Wangen der Frau lagen Schatten. Sie entfernte das Geierbild aus dem Apparat und legte es unter einen Stapel ähnlicher Glasmalereien.
»Missis Covington! Ich hätte nie damit gerechnet, Sie hier anzutreffen.«
»Wie nett, Sie wiederzusehen, George.«
»Die Bleistiftentwürfe, über die wir gesprochen hatten, sind noch fertig geworden.« Wie gewohnt erfüllte Mrs. Covingtons Gegenwart ihn mit Wohlgefühl. »›Sie war besser, als sie ahnte‹, entsinnen Sie sich? ›Er erfuhr nie, was er hier sollte.‹ Sah ziemlich gut aus. Modell Sieben-null-drei-vier. Wahrscheinlich sind sie verbrannt.«
»Wir dürfen uns nicht an Wildgrove aufhalten«, meinte Nadine. »Ich fand das Örtchen goldig. Die Kinder auch. Nicki Frostig ist in meinen Armen gestorben. Er hatte eine Verletzung infolge der Druckwelle.« Sie wies auf die Glasmalereien. »Es gibt Leute, die behaupten, diese Bilder zeigten die Zukunft.« Ihr Regenmantel wirkte feucht und glibberig, als bestünde er aus lebenden Aalen. »Glauben Sie an Prophezeiungen?«
»Ich bin Unitarier, gnä’ Frau.«
»Sie sind seit Jahrhunderten im Besitz meiner Familie. Leonardo da Vinci hat sie gegen Lebensende gemalt. Der Seher Nostradamus, dieser geniale, couragierte Seuchenarzt und Gelehrte der Renaissance, hat ihre Bedeutung niedergeschrieben. Möchten Sie die Zukunft sehen, George?«
Nadine schob ein neues Bild ins Gerät. Auf einer endlosen Ebene aus Eis stand ein stämmiger, muskulöser Bartträger.
»Du lieber Gott«, sagte George, »anscheinend verschlägt es mich wahrhaftig in die Antarktis.«
Nadine wechselte Bilder. George sah sich im Silberdollar-Kasino mit Randstable und Wengernook beim Pokern.
Während ein Bild dem anderen folgte, stellte George fest, daß die Präsentation erheblich abwechslungsreicher und vielfältiger als die vorangegangene Dia-Vorführung des Nachmittags ausfiel. Bild: George saß an einer Festtafel und aß Schinken. Bild: Kapitän Sverre zerschlitzte sich mit einem Messer den Unterarm. Bild: Wieder der Geier, diesmal fraß er einen toten Pinguin.
Eine glückliche Familie schwuppte an die Wand: Mann, Frau, Kind. Alle drei trugen ARES-Monturen. Das Kind hatte eine goldgelbe ARES-Montur. Die Familie hatte Oberkörper und Arme zu einer verschlungenen Umarmung verknotet. Ihr Lächeln schien das Licht der Flamme, die in der Laterna Magica glühte, mit doppelter Leuchtkraft zurückzuwerfen.
Keine visuelle Darstellung, ob gemalt, fotografiert oder geträumt, hatte George je so tief gerührt wie dieser gewandt gepinselte Leonardo. Das Kind war Holly. Im Vergleich zu dieser Tatsache erachtete George den Umstand, daß es sich bei dem Mann um ihn und bei der Frau um Dr. Morning Valcourt handelte, als nahezu belanglos.
»Den Mann kenne ich«, sagte Nadine. »Die Frau habe ich auch schon an Bord gesehen. Aber das Kind…«
»Das ist Holly!« Die Zukunft! Es gab Leute, die behaupteten, daß diese Bilder die Zukunft zeigten.
»Außer Ihnen ist aus Wildgrove niemand gerettet worden. Das wissen Sie doch von Dr. Valcourt.«
»Aber sie sieht aus wie Holly.«
»Genau wie sie?«
»Ja, genau. Na ja, vielleicht nicht genau. Aber… wenn’s nicht Holly ist, dann…«
Aubrey?
»Die Schwester, die Holly haben sollte?« fragte er.
»Niemand außer Ihnen ist aus…«
Also gut. Dann nicht ihre Schwester. Wer dann? Er betrachtete Dr. Valcourts leicht flackrige Honigkuchenpferd-Visage. Obwohl sie mangelhafte Anlagen zum Lächeln hatte – George erinnerte sich an ihre schattige Persönlichkeit, ihr ätzendes Auftreten –, brachte sie eine filmreife Strahlemiene zustande.
»Hollys Halbschwester? Werden Dr. Valcourt und ich heiraten und ein kleines Mädchen bekommen?«
»Eine naheliegende Schlußfolgerung.«
»Ich nenne sie Aubrey.«
»Ein hübscher Name. Mögen Sie denn Dr. Valcourt?«
»Überhaupt nicht.« Völlig falsche Antwort, erkannte George. »Ich werde halt lernen, sie zu mögen.« Vor Erregung spürte er ein Pochen in seiner Schußwunde. »Um Aubrey zu kriegen, tu ich alles. Dafür würd ich ’ne Klapperschlange heiraten.«
Nadine holte per Schalter das Familienbild von der Wand. »Es hat den Anschein, als würden Sie noch einmal Vater.«
George dachte an das elektromechanische Pferd für den extralangen Ritt vor der Baguetterie da Bruno, malte sich aus, wie Aubrey im Sattel säße, kicherte und kreischte. Pferd. Esel. Muli. Zeugungsunfähigkeit… »Nein, das kann auch nicht stimmen«, sagte er. »Ich bin zeugungsunfähig. Wie ein Muli. Das hat Dr. Brust mir gesagt. Wegen der Strahlung… Meine sekundären Spermatozyten…«
Nadine projizierte noch ein Bild. Ein Mann näherte sich den Toren einer märchenhaft weißen Stadt. Ihre Marmorzinnen glänzten unter einem wie ein Schädel fahlen Mond.
George sah, er selbst war der Pilger.
»Sogar in diesem Zeitalter des Chaos«, sagte Nadine, »existieren Örtlichkeiten, an denen man die Zeugungsfähigkeit wiedererlangen kann. Die Erde hat ihre Marmorstädte.«
Nachdem sie die Glasmalereien in ein Badetuch der Marine der Vereinigten Staaten gewickelt hatte, stopfte sie das Bündel in eine Tasche ihres Regenmantels. Sie klappte die Seite der Laterna Magica auf und pustete die Flamme aus, dann senkte sie die noch heiße Apparatur in einen Segeltuch-Kleidersack.
»Lassen Sie mich beim Tragen helfen«, sagte George.
Es schien, als ob Nadine ihn nicht hörte. Sie schlang sich den Sack über die Schulter und humpelte in den Korridor. George folgte ihr eine lange Wendeltreppe hinauf. So groß war seine Verranntheit in den Gedanken einer Reinkarnation Hollys – Aubrey Paxton, prophezeit von Nostradamus, gemalt von Leonardo da Vinci, gezeugt durch George Paxton, geboren durch Morning Valcourt – schon jetzt, daß er völlig baff war, als er merkte, Nadine hatte ihn aufs Deck des aufgetauchten U-Boots geführt. Schwaden trüben Dunsts machten die Luft stickig. Brecher donnerten gegen den Bug, mit dem das U-Boot die Wogen teilte. Der Wind brannte auf Georges Wangen; er zerrte an seinen Haaren wie der Kamm einer ungeduldigen Mutter. Herrgott! Wie kalt es war!
Neben dem Rumpf des U-Boots schaukelte ein offenes Segelboot, an dessen Steuerruder inzwischen Nadine Platz genommen hatte. Nachdem sie das Segel gesetzt hatte, griff sie in ihren Regenmantel und holte eine der Glasmalereien ihrer Laterna Magica heraus, breitete die mit einem Handschuh bekleidete Rechte über die bemalte Seite, um sie vor Gischt zu schützen. George nahm das Bild entgegen wie ein Verhungernder Brot.
»Wie kann ich die Stadt finden?« fragte er.
»Keine Ahnung«, rief Nadine, legte ab.
»Hat dieser Nostradamus was getaugt?«
»Er hat so einiges drauf gehabt.«
Ein großer, sich stets verbreiternder Keil aus Meer und Himmel zwängte sich zwischen George und die Frau. George betrachtete seinen Leonardo: Die Details waren erstaunlich, nämlich so deutlich unterscheidbar wie Schaltkreise auf einem Computerchip, und besonders beeindruckte ihn Aubreys reizendes Gesicht mit seinen klaren, lebhaften Umrissen. Der Wind blies stärker. Allmählich troff Meerwasser aus Georges Haar. Er steckte die Glasmalerei ein, ehe sie naß werden konnte, tat sie sich unters Hemd. Als er an den Horizont spähte, war Nadine Covingtons Segelboot zu einem senkrecht-geraden, weißen Span geworden, der sich südwärts auf die Roßbreiten zubewegte.