Komplizenschaft. Mitwirkung an einer Übeltat. Bin ich ein Übeltäter? fragte sich George, während sein VW-Bus zur vom Schnee verhüllten, in ihrer Geräuschkulisse gedämpften Stadt hinausratterte. Er warf einen Blick auf die fabelhafte Montur, die er sorgfältig im Kindersitz festgeschnallt hatte. Sie hatte eine einwandfreie Paßform. Der goldfarbene Helm schien zu lächeln. Du hast es geschafft, Paxton. Du hast eine ARES-Montur ergattert. Fröhliche Weihnachten, Holly.
Aber mit der Zeit wurden seine Handflächen feucht, und in seiner Magengrube krampfte sich alles zusammen. Während der ganzen Fahrt auf der 2A achtete er im Rückspiegel auf Streifenwagen der Autobahnpolizei. Die Verkehrsampeln ähnelten auf einmal Augen, die nach Unterzeichnern von ARES-Abgabeverträgen Ausschau hielten. Vor jedem Rotlicht rechnete er halb damit, irgendein gestiefelter Kapo könnte die Wagentür aufreißen und ihn verhaften.
Er machte das Radio an. In Indonesien herrschten schreckliche Verhältnisse. Malaysia war dem Untergang geweiht. George linste in den Rückspiegel. In Costa Rica war Terror an der Tagesordnung. In Libyen schnitt man Menschen ohne ihre Einwilligung die Zunge heraus. Georges Blick fiel in den Rückspiegel. Im Laufe des Tages hatte man ein Interview mit Staatssekretär Wengernook vom Verteidigungsministerium aufgenommen, der durch seinen Reklamespot für ARES-Monturen Berühmtheit erlangt hatte. Eine der angesprochenen Fragen hatte gelautet, ob das Strategische Luftwaffen-Oberkommando, weil die neustationierten russischen Fernraketen das amerikanische Inland binnen achtzehneinhalb Minuten erreichen konnten, nun die eigenen Interkontinentalraketen auf sogenannte Alarmstartreaktion umzustellen beabsichtige. Verteidigung und Flexibilität gehen Hand in Hand, hatte Wengernook geantwortet.
Mit Schnee behäufte Gartenmauern und Kiefern huschten vorbei. George ruckelte am Sicherheitsgurt, schaute in den Rückspiegel. Außer der ARES-Montur sollte Holly eine Mary-Merlin-Puppe zu Weihnachten erhalten. George hatte vor, sie direkt neben der Montur unter den Christbaum zu stellen. Die Mary-Merlin-Puppe hatte er schon im Oktober gekauft, noch am selben Tag, an dem Holly dafür die Zeitschriftenwerbung gesehen gehabt und gefragt hatte, ob der Weihnachtsmann solche Puppen bringen könnte. Enttäuschende Erfahrungen hatten George gelehrt, Puppenkäufe nicht bis zur letzten Minute aufzuschieben. Zwischen der Mary-Merlin-Puppe daheim im Schrank und der ARES-Montur neben ihm im Kindersitz fühlte George sich erstaunlich sicher.
Er blickte auf die Straße, die solide asphaltierte, zuverlässige, freie Straße mit ihren erst kurz zuvor mittels Schneepflug freigefegten Fahrbahnen und Banketten glitzrigen Schnees. Eine kurze Strecke voraus überspannte eine alte Holzbrücke den Wiskatonic. George sah ein Hinweisschild vorbeisausen: WILDGROVE MITTE 5 KM. Seitlich des Schilds hatte jemand künstlerisch Begabtes mit einem Sinn für makabren Humor einen Schneemann mit einem Totenschädel als Kopf gebaut. Der VW-Bus rumpelte über die Brücke nach Wildgrove, die trotz ihres Alters für Georges Begriffe immer noch einen bemerkenswert stabilen Eindruck hinterließ.
Mary-Merlin-Puppen wurden nach dem Vorbild frühreifer weiblicher Kleinkinder gestaltet. Sie waren in drei ethnischen Abarten erhältlich. Mary Merlin konnte ein Repertoire von Zaubertricks vorführen, beispielsweise Tücher aus einem Pappröhrchen ziehen und eine Münze verschwinden lassen…
Etwas Außergewöhnliches geschah. Etwas viel Frappanteres als das Erscheinen eines Tuchs aus einem Pappröhrchen… Ein Ereignis, in dessen Vorbereitung die Vereinigten Staaten und Rußland enorme Geldsummen investiert hatten. Es ereignete sich, daß der Winter, dessen offizielle Anerkennung durch den Kalender in nur drei Tagen erfolgen sollte, aber der schon am Morgen das südliche Neuengland mit Schnee bedeckt hatte, mit einem Mal endete.
Er verschwand in einem hellen Blitz. Sein Licht, das leuchtstärkste Phänomen, das Menschen in diesen Tagen beobachten konnten, stach George aus der Richtung seines Heimatorts entgegen, ein blendend-grelles, sengend-heißes, übernatürliches Aufflammen, als ließe man anläßlich einer kosmischen Hochzeitsfeier eine gigantische Anordnung von Blitzlichtern auflohen. Der Himmel zischte. Der Schneemann verflog, verdampfte. Aus dem Radio knisterte Statik. Der VW-Motor ging mit einem Jaulen aus. George dachte, die Sonne sei auf die Erde gestürzt.
Gütiger Gott!
Die Helligkeit bleichte seine Netzhäute, verminderte seine Sicht auf gleißend-blanke Leere. Sein Gesicht verwandelte sich in eine lückenlose Verbrennung Ersten Grades, deren Schmerzhaftigkeit an einen schweren Sonnenbrand erinnerte. Der abgeschaltete VW-Bus rollte ungesteuert vorwärts. Indem er in das gräßliche, unendliche Sonnenloch vor seinen Augen starrte, trat George auf die Bremse und schwang sich zur Beifahrertür hinaus. Hätte er gezögert, wäre sein sofortiger Tod die Folge gewesen, denn zu den vielen raschen, lauten und scheußlichen Vorkommnissen, die sich der Explosion eines Atomsprengkopfs von einer Megatonne Sprengkraft anschlossen, zählte auch eine Druckwelle, die die Windschutzscheiben der Kraftfahrzeuge zu einem Hagel gläserner Geschosse zertrümmerte.
Gütiger Gott im Himmel!
Die Druckwelle steigerte sich zum Orkan, rüttelte den VW-Bus durch, hob ihn vom Boden. Für einen kurzen Moment flog auch George durch die Luft. Er klatschte aufs Wasser des Wiskatonic, schlitterte über die Oberfläche wie ein in flachem Bogen geschleuderter Kieselstein. Das Wasser kühlte sein Gesicht, aber er nahm es gar nicht wahr. Linderung bedeutete Leid, Nord war Süd, fünf waren gerade, Recht war Unrecht. Er schwamm auf dem Rücken, als wäre er ein Strunk Treibholz. Blind. Ohne Augenlicht. Der Wind haßte ihn, erteilte ihm für die geleistete Unterschrift seine übertrieben bemessene Strafe, der Himmel haßte ihn, auch der Mond, ebenso haßten ihn die Bäume, der irre Erfinder, Harry Sweetser und John Frostig. Der Fluß haßte ihn, darum rammte er ihn gegen einen Balken, Krach!, so daß ihm alles aus dem Schädel stob. Nein, o Gott, nicht…!
*
Er erwachte auf einer Unterlage aus Schlamm – eine Stunde, einen Tag später? –, überall gab es nur Schlick, Schlick zu essen, Schlick zum Atmen. Er wälzte sich herum und merkte, daß seine geblendeten Netzhäute sich erholten. Wenige Zentimeter vor seiner Nase lag ein verdorrtes Blatt. Über es kroch eine Ameise. Ameise… Grille… Äsop… Küchenschabe. Ich habe das Augenlicht wieder. Ich danke dir, lieber Gott. Er blickte hoch. Keine Vögel, keine Sonne, nur Millionen schwarzer Flecken, die wie Insekten umherwirbelten, Qualm durchwallte den Himmel… Welchen Himmel? Kein Himmel, der Himmel war niedergebrochen, in einer vergessenen Pfanne schmurgelte Hähnchenklein. Er raffte sich auf, stand bis zu den Knien im Fluß, prustete sich Schlammklumpen aus dem Mund. Sein Gesicht schmerzte. Staub trübte die Luft, jedes Staubkorn war schwarz verrußt. Die Bäume loderten in einer Feuersbrunst. Was auch geschehen sein mochte, George gelangte zu der Ansicht, es mußte wichtig genug sein, um an diesem Abend in der Tagesschau erwähnt zu werden; darüber würden die Leute noch lange reden. Er spähte dorthin, wo er den Feuerball gesehen hatte. Ein weitgerundeter, rosaroter Rauchring, der sich auf einer zwölf Kilometer hohen Säule aus Gasen und aufgewühlter Erde ausdehnte, brodelte unter den Wolken. Am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts waren diese Umrisse zum Symbol des Wahnsinns geworden, doch auf George hatte dieser Himmelspilz den Effekt, ihm schlagartig zu völliger geistiger Klarheit zu verhelfen. Interkontinentalraketen-Stationierung. Gegenschlagskapazität. Die Russen wollten sich die Wildgrover Apfelernte unter den Nagel reißen. Mich trifft keine Schuld.
Das Entsetzen blieb an ihm haften wie Klebstoff, er konnte es nicht abschütteln. Der Wiskatonic sickerte ihm in die Stiefel und tränkte die Socken. »Such Justine«, rief pausenlos von fern eine Stimme. »Such Holly!« Beinahe dreißig Minuten lang blieb George außerstande, seine Aufmerksamkeit auf irgend etwas anderes als diese Rufe zu richten, von denen er nicht begriff, daß sie aus ihm selbst kamen.
Aus dem Schlamm ragten Teile Wildgroves: Stühle, Tische, Lampen, Sekretäre, PC’s, Fernsehapparate. Auf einem Felsen lag ein Rauchmelder und summte. George war ziemlich sicher, daß er auch Emily McCarthys Vogelbad und Clarence Weatherbees Keramik-Neger sah. Er mußte seinen Nachbarn sagen, wo sie ihr Eigentum wiederfinden konnten.
Eine quer durchs Flußbett angehäufte Schwade von Leichen verstopfte den Wiskatonic wie ein Damm und verursachte eine Stauung. Die ARES-Monturen der Toten waren in fürchterlichem Zustand. Die Druckwelle hatte das Material zerfetzt, aus gerissenen Nähten quoll Wincos Synthostrat VII. Mehrheitlich hatte es die Helme zerschmettert, so daß die Leichname gezackte Clown-Halskrausen aus Fiberglas trugen.
Einheimische wankten durch den Fluß – George sah gesprungene Helme, zerfransten Stoff, aufgerissene Tornister –, sie schwankten steif dahin, die Arme vor sich ausgestreckt, als ließe sich so das Gewicht ihrer verbrannten Hände verringern. Vielen fehlten Haare und Wimpern. Synthostrat-Fladen waren mit ihrer Haut verschmolzen und ähnelten jetzt Flicken. Weiße Lava koagulierten Augengewebes rann ihnen aus den Köpfen, es schien, als ob sie sich buchstäblich die Augen ausweinten. Scheinbar zielstrebig wie Lemminge, aber plumpärschig wie Untote purzelten die Umherirrenden die Uferböschungen hinab und platschten ins Wasser, trieben auf der Oberfläche wie ein lebloses, doch schwimmfähiges Wachsfigurenkabinett der örtlichen Bürgerschaft. Überall ringsum sank inzwischen das emporgewirbelte Erdreich abwärts – tonnenweise Staub, Dreck und Asche –, ein radioaktives Konfetti, das die letzte Parade überschüttete: Skelette traten als Tambourmajore auf, die Jongleure mit Menschenknochen. Aus den Leibern der meisten Marschteilnehmer schoß Erbrochenes und Dünnschiß. George, der sich vor kurzem noch gehaßt gefühlt hatte, verspürte statt dessen nun Haß. Ihm waren diese Überlebenden mit ihren schundigen Monturen, ihrem unreinlichen Gebaren, all ihrem in der Schöpfung ausgestreuten Schrott und ihrem Martyrium zuwider. Sie machten ihn echt zornig.
Der VW-Bus war unter der Brücke gelandet. Er sah aus, als wäre ein Irrsinniger mit einem übergroßen Büchsenöffner über ihn hergefallen. Matsch troff aus ins Blech gestanzten Löchern. Die goldfarbene ARES-Montur war vom Kindersitz geschnellt worden und hing schlaff wie eine Marionette, die auf ihren Einsatz wartete, auf der vorderen Stoßstange.
Das Meisterwerk des Hutmachers! Hollys Weihnachtsgeschenk! Die einzige ARES-Montur auf der Welt, die sich bewährte! Georges Gelähmtheit wich. Er humpelte hinüber, entsann sich währenddessen auf gewisse Argumentationspunkte aus John Frostigs Verkaufsgespräch: Feuer, giftige Dämpfe, Fallout… Wenn es mir gelingt, die Montur nach Hause zu schaffen, dachte er, kann Holly sich aus diesem Schlamassel auf jedem Weg absetzen, den sie will, durchs Feuer gehen, wo es sein muß, ungehindert wie ein Vogel Nebelbänke tödlicher Dünste durchqueren.
*
Die goldgelbe Montur in den Armen, hielt George auf die Ortschaft zu. Die Landschaft hatte irgendwie etwas von einem riesenhaften Gasherd an sich, dessen zahllose Brenner man voll aufgedreht hatte. Am verrußten Himmel hatte die Pilzwolke sich zu einem weiten, grauen Baldachin verbreitert.
Mengen geschockter, durch Trümmer zerschrundener Flüchtlinge zwängten sich zwischen den Bränden dahin, improvisierten Straßen, wo sie gerade entlangdrängten. George bewegte sich gegen den Strom. Befand Justine sich auch in diesem Gewimmel? Holly? Ich muß meine Familie finden, Gott! (Der nukleare Schlagabtausch kannte wohl keine Unitarier.) Bitte, lieber Gott! Justine! Holly! Nein. Er sah nichts als durch unglaubliche Brandwunden und unfaßliche Verletzungen entstellte Untote durch die Gegend schleichen wie Kadaver. Das kann nicht wahr sein, das kann nicht wahr sein, das kann doch nicht… Er gewahrte Körper, die mehr Krater aufwiesen als der Mond. Haut schälte sich ab wie Blätter faulen, nassen Kopfsalats, mit verkohltem Gyros vergleichbare, abgeplatzte Windungen verkokelten Fleischs baumelten herab wie schwarzes Lametta. George wurde immer wütender, er erachtete es als unverzeihlich von diesen Leuten, daß es mit ihnen ein so mieses Ende nahm. Was hatten sie getrieben, etwa Blödsinn mit seinem Sandstrahlgebläse verbrochen? Den Flüchtlingen waren Bruchstücke ihrer Besitztümer – Metall, Holz, Glas – eingebohrt worden wie Nägel. Eine Frau hatte keinen Unterkiefer mehr. Ein Greis umkrallte mit beiden Händen seinen linken Augapfel. So eine beknackte Bande, wie können diese Penner es wagen, derartig in der Öffentlichkeit umherzulaufen1. Tränenüberströmte Eltern schleppten tote Kinder. Die Laute massenhaften Weinens umwehten George wie ein abscheuliches Odeur. Und es gab noch eine Variante des Leidens: Durst. Von der Strahlung hervorgerufener, qualvoller, unstillbarer, grausamer Durst. Rufe nach Wasser lamentierten durch das Tosen der Brände, das Schluchzen und Kreischen. Sollen sie doch allesamt zum Teufel gehen!
Die Straßen gehörten den zum Laufen fähigen Verletzten. Der Rest Wildgroves gehörte den Regungsunfähigen. Schnurstracks weiter. Laß dich durch nichts ablenken.
»Ich will brav sein«, wimmerte eine Sechsjährige, die in einem Graben lag und einen Teddybären umklammerte.
Ein Fettwanst kauerte, in der Hand einen Stoß Weihnachtsgrußkarten, auf einem umgekippten Briefkasten. Er versuchte vom Einwurfschlitz den Deckel zu heben, aber die Hitzewelle hatte ihn festgeschweißt.
Ein Blindenhund, dessen ARES-Montur und Fell weggeschmort worden waren, leckte das Gesicht seines toten Herrn. »Gib doch wer dem Hund sein Fell zurück!« schrie George.
Ein Installateur mittleren Alters fuchtelte mit dem Schraubenschlüssel an den Himmel empor und wiederholte ständig Drehbewegungen, als dächte er, der Staub fiele aus Lecks herunter, die er reparieren könnte.
Am Stumpf eines abgefackelten, brandgeschwärzten Baums schmiegte sich ein Zweijähriger an seinen toten Vater und drückte dem Leichnam eine Zuckerstange gegen die Lippen. »Lutschen, Vati?« fragte er.
Mehrere Kinder scharten sich um einen Mann, dessen zerfaserte ARES-Montur die Aufmachung einer Weihnachtsmannkostümierung hatte. Der Mann sang unvollständige Strophen von ›Ihr Kinderlein kommet‹. Ein kleines Mädchen bat den Weihnachtsmann um Suche nach den Eltern. Ein anderes äußerte als Weihnachtswunsch einen Schlitten. Ein Bub mit verstümmelter Hand fragte den Weihnachtsmann nach einem neuen Daumen.
Weshalb half denn niemand diesen Menschen? Irgendwer müßte doch irgend etwas tun!
Ein Pferd versperrte George den Weg. Ursprünglich hatte es vor der Baguetterie da Bruno gestanden. EXTRALANGER RITT 25 CENT NUR VIERTELDOLLARMÜNZEN HIER EINWERFEN. Die Aussicht, daß er (George) Holly keinen zweiten Ritt bewilligte, glich ungefähr der Wahrscheinlichkeit, daß am nächsten Tag nicht die Sonne… Zuvor hatte dem Pferd nur ein Ohr gefehlt. Jetzt waren beide Ohren ab, das linke Vorderbein und beide Hinterbeine fort. Holly hatte dem Pferd den Namen Butterblümchen gegeben.
Die Verletzten mit Verbrennungen Dritten Grades lagen auf Seite, Rücken oder Bauch und schlotterten als jämmerliche Häufchen Elend vor sich hin, wagten sich, nackt bis aufs rohe Fleisch, wie sie waren, nicht zu rühren. Ein Taifun unzählbarer Schreie durchheulte das Land. Die Opfer mit Dritter-Grad-Verbrennungen bettelten die gehfähigen Überlebenden an, die an ihnen vorüberwankten, sie mit den zu den ARES-Monturen gehörigen Waffen zu erschießen, weil ihre zu qualligen, nässenden Klauen geschrumpften Hände diese Verrichtung nicht mehr zuwegebringen konnten. »Jemand möchte mich bitte erschießen…« So und ähnlich röchelten die Opfer mit Dritter-Grad-Verbrennungen in sonderbarer Höflichkeit.
Gott, laß es aufhören! Hilf ihnen, Gott!
George fing zu laufen an, er war verzweifelt darauf aus, von hier weg und dort hinzugelangen – irgendwohin –, wo ihn kein anstößiges Sterben umgab. Er umging Feuer, umwanderte Rauchwände, übersprang Leichen. Weite Teile Wildgroves waren zu Halden von zerschelltem Glas geworden. Es mochte tausend Jahre dauern, den Ort wiederaufzubauen. Er passierte eingeäscherte Häuser, ausgebrannte Autos, deplazierte Toilettenschüsseln, abgerissene Waschbecken, umgefallene Verkehrsampeln, demolierte Stopschilder, fortgerückte Tafeln mit dem Text KINDER – FAHREN SIE BITTE VORSICHTIG, durchtrennte Wasserleitungen, umgestürzte Hydranten und Telegrafenleitungen, die auf dem Boden lagen wie tote Schlangen.
Die Grabsteine des Friedhofs Rosehaven hatten das Desaster bestens überstanden. Zwar war die Mehrzahl aus dem Erdreich entwurzelt worden, aber George entdeckte keine Kerben oder Risse. Für ihn war der Friedhof eine vertraute Umgebung. Ein Aufenthaltsort, an dem er sich jederzeit zurechtfand. Granit ist wirklich, dachte er, für die Ewigkeit geschaffen.
Auf dem Friedhofsgelände niedergestreckte, tote Wildgrover bedeckten viele Grabstätten, als erflehten sie Zugang in die Gräber. Zur Linken Georges lag der Grabstein der alten Mrs. Mulligan, Modell Nr. 2115 in Oklahomaer Rosa. Er erinnerte sich noch daran, wie er ihn mit RUHE IN DEN ARMEN DES HERRN JESU CHRIST beschriftet hatte; rechts Georges das Grabmal für Louis und Barbara Prescott: IN LIEBREICHEM ANDENKEN EURE KINDER stand auf dem Stein. (In Wahrheit hatte ihre Tochter Kathy das Grabmal allein errichten lassen; ihr mißratener Sohn Kevin hatte wenig mit seinen Eltern zu tun haben wollen, solange sie lebten, und noch weniger nach ihrem Tod.) Das Explosionsbeben hatte vom einen bis zum anderen Ende des Friedhofs Rosehaven eine Erdspalte geöffnet. In deren Tiefe waren mehrere vor langem beigesetzte Wildgrover gerutscht; im wesentlichen sah man von ihnen nur Knochen. Das blieb der gesamte ersichtliche Umfang der Wiederauferstehung.
George wandte sich nordwärts, in die Richtung des Postamts, doch undurchdringliche Schleier aus Qualm und Staub behinderten seine Sicht. Er sah das Postamt trotzdem, sah es in Gedanken vor sich, und hinter dem Postgebäude den See, und am Ufer des Sees sein Häuschen, und in dem Häuschen sah er Justine und Holly die Koffer packen, die Haustiere füttern und auf Papi warten. Er mußte nur hin. Indem er rasch die goldgelbe Montur kurz an sich preßte, setzte er sich in Bewegung.
*
Der bequemste Heimweg führte George über kilometerweit schwarzen Erdboden und direkt in einen Krater. Mit aller Vorsicht kletterte er die matschige Kraterwand hinab, aus der gekappte Kabel und gebrochene Rohre lugten wie halbierte Regenwürmer in einem frisch ausgehobenen Grab. Tausende von durch Radioisotope vergifteten, infolge Blutverlusts entkräfteten, desorientierten Flüchtlinge hatte beim Durchqueren des Trichters der Tod ereilt. George mußte durch ein Tüpfelmuster aus weißgekleideten Leichen staksen.
Das Detonationszentrum. Asche, Gestank, tote Flüchtlinge und ein anderer Überlebender. Bis auf das Koppel, ein paar Schnipsel der ARES-Montur und den wie ein zerplatztes Klarplastikei irreparabel geborstenen, verzogenen Helm war der Mann nackt. Systematisch tappte er durch den Schutt. Da und dort kniete er nieder, zurrte an der Montur eines Leichnams den Reißverschluß auf, besah sich das tote Fleisch darin mit geradezu wissenschaftlicher Neugier. Während George sich ihm näherte, erkannte er den Überlebenden, der soeben eine Kinderleiche untersuchte.
»Tz-tz«, stieß der Überlebende hervor. »Tz-tz-tz.«
Der Atomschlag hatte John Frostigs gutes Aussehen beeinträchtigt. Seine Nase war in der Hauptsache und ein Ohr vollständig fort. Seine Stirn glich einem Pfuhl aus Schweiß und Blut.
»John?«
»Tachchen, mein alter Spezi-Spezi.« Angesichts des Irrlichterns in Johns Augen und der Kicherlaute, die seine Worte durchgackerten, hätte Theophilus Cater im Vergleich zu ihm so vernunftbetont wie ein Mathematiklehrer gewirkt. »Sieht ganz so aus, als stünden wir hier vor einem Problem mangelnder Qualität, hm? Natürlich ist’s noch zu früh, um zu ermitteln, wie die additiven Strahlungsdosen absorbiert werden, solang der Fallout noch runterschneit, aber es ist offensichtlich, daß wir die Hitzeabschirmung und den Druckschutz um mindestens zwanzig Prozent aufstocken sollten, um allermindestens zwanzig Prozent, meinst du nicht? All diese vielen Löcher im Stoff… Schlicht und einfach miserable Verarbeitung. Die Dummköpfe in der Produktkontrolle werden von mir was zu hören kriegen, das darfst du mir glauben, die sollen hören, was ich dazu zu sagen habe. Alice, Lance und Gary werden ihnen auch die Meinung sagen… Scheiße, George, hast du schon mal so viele Tote gesehen? Da wird mir richtig mulmig, ich geb’s ehrlich zu. Gary wird denen auch die Meinung sagen. Und Lance und Gary und… und…« Nun vergoß der ARES-Monturen-Händler, der vermutlich nicht mehr geweint hatte, seit der Arzt ihm einen Klaps auf den Po verpaßt hatte, um seine Lungen in Betrieb zu setzen, Ströme lange angestauter Tränen.
»Irgendwo hier im Umkreis ist doch dein Laden gewesen, oder nicht?« fragte George.
»Verfluchte Kosaken!«
»Es erstaunt mich, daß du nicht tot bist.«
»Ich war im Grenadier… Für ’n Glas auf die Schnelle und ’n kleinen Plausch mit… mit ’ner Dame, ’s war nichts dabei, zwei Minütchen Geplauder, weil mein Jüngster… Nicki… Du hast doch eben nach ihm gefragt, nicht wahr? Also, er ist mit dieser netten, alten Dame, Missis Covington, die bei uns als Babysitterin einspringt, zum Rodeln zu den Barlows gegangen, aber ich kann die Barlows nicht mal mehr finden, mein Jüngster ist nämlich mit Missis Covington dort, sie ist eine tüchtige Babysitterin, wir können sie vorbehaltlos empfehlen, deshalb bin ich sicher, daß er am Leben ist, ich meine, es können doch nicht alle Monturen Defekte haben, wahrscheinlich ist es nur das Los aus Palo Alto… Die Lieferungen aus Osaka sind bestimmt in Ordnung, vor allem Nickis Montur, er ist zum Rodeln bei den Barlows… Ja? Sicher lebt er, defekte Montur… oder nicht.« Der ARES-Monturen-Händler stöhnte, seinem Mund entfloß ein zähes Gemisch aus wäßriger Flüssigkeit und festen, rosigen Bröckchen. »Die Sache ist die, ich möchte meine Firma nicht mit einem minderwertigen Produkt in Verbindung gebracht haben, durch so was verliert man das Vertrauen der Kundschaft. Der Kunde ist König, das weißt du aus der Grabsteinherstellung ja wohl genausogut… hä!… mein alter Spezi-Spezi? Wenn diese Monturen das nächste Mal keinen besseren Leistungsstandard präsentieren, na, dann wird das Geschäft samt und sonders den Bach hinabgehen. Was ist für ’n Goldding?«
»’ne ARES-Montur.«
»In Gold hab ich noch keine gesehen.«
»Es ist ’ne Sonderanfertigung. Handgeschneidert.«
»’n bißchen klein.«
»Sie ist für Holly. Ihr Weihnachtsgeschenk. Sie bekommt die Montur und ’ne Mary-Merlin-Puppe.«
»Du täuschst dich«, widersprach John, indem er aus dem Koppelhalfter den 45er Colt zog und damit auf George zielte. »Sie ist für Nicki. Er ist mit Missis Covington zum Rodeln. Eine rundum tüchtige Babysitterin.«
George übergab sich. »Laß das sein, John«, sagte er, wischte sich den Mund ab.
Die Pistole war ein häßlicher Gegenstand. Die Mündung zitterte nicht im geringsten. Hatte sie die Bombe ausgespien? Nein, sie war zu klein für so etwas. Ein Flugzeug hatte die Bombe abgeworfen, oder eine Rakete den Sprengkopf eingeflogen.
Gab es noch irgendeine Hoffnung? Ja, durchaus, sie verbarg sich im Halfter von Hollys Montur…
»Ich wette, das Ding taugt überhaupt nichts«, sagte der ARES-Monturen-Händler. »Es ist kein Fabrikat des Eschatologischen Instituts.«
Flink grapschte George mit einer genau abgemessenen Bewegung nach dem Koppel. Er hörte ein Krachen, wie er es von Knallfröschen kannte.
Die Kugel durchschlug an Hollys Montur den linken Handschuh und traf George in den Bauch, warf ihn rücklings auf den Erdboden. Die Montur sank auf ihn. Er verspürte ein Schwindelgefühl und Entsetzen. Ein glutheißer Schürhaken schien ihn aufgespießt und seine Eingeweide durchbohrt zu haben. Der Schmerz wütete stärker, als er es sich aufgrund irgendeiner sonstigen Ursache hätte vorstellen können, aber nicht stark genug, nicht genug, um ihn ausreichend dafür zu bestrafen, daß er dabei gescheitert war, Holly die Rettung zu bringen.
»Ach du Scheiße, das tut mir echt leid, George. Das war nicht meine Absicht. Ich will die doofe Montur gar nicht haben. Du hättest dich nicht so ruckartig bewegen sollen. Hoffentlich hab ich dich nicht totgeschossen. Nicki ist zum Rodeln. Herrgott, was war das heute für ein schrecklicher Tag. Hab ich dich getroffen? Ich habe dir doch gesagt, du sollst dich nicht bewegen.«
John steckte sich den Lauf des 45er Colts zwischen die Lippen. Er schob ihn auf und ab, als bediente er eine Fahrradpumpe, leckte an dem Metall, stemmte ihn schließlich nachdrücklich gegen das Gaumendach. Was für ein krankhaftes Benehmen für einen Mann, der gerade erst einen Atomkrieg überlebt hat, dachte George. Ein dumpfes Wumsen erscholl. Etwas klatschnasses Korallenrotes sprengte zu Johns Hinterkopf hinaus, und John brach zusammen.
George blickte empor an den Himmel. Durch die versengte Weite kreiste eine geblähte, bauchige Gestalt. Sie hatte einen dürren Hals und einen Schnabel, der an die Schaufeln eines Löffelbaggers erinnerte. Glänzendgelbe Augen hatte sie, durchädert von Venen. Ihr Schwingenschlag, laut wie das Brausen einer Stampede, erzeugte solche Windstöße, daß in der Grube die Asche in die Höhe wehte und sich auf Georges Körper senkte.
Ihm fiel der Name der Kreatur ein. Geier. Es war der gewaltigste Geier der Welt, riesig wie ein Flugsaurier. Er kam, um Georges Gebein abzunagen.