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Auf den letzten Meilen, am Rotwildschutzgebiet, dem Jachthafen von Stock Island und dem Community College vorbei, ging Moth im Geist noch einmal alles durch. Dabei half es ihm, wenn er sich auf ihre Ausrüstung und die einzelnen Schritte konzentrierte, statt über ihr Vorhaben als solches nachzudenken, was ihm nur die Absurdität ihrer Situation vor Augen führen konnte: ein junges Studentenpärchen, das von Miami bis nach Key West fährt, um einen Mord zu begehen.

Das einzig Tröstliche an ihrem mörderischen Ausflug war für ihn das Mädchen an seiner Seite, das einzige Mädchen, das er je wirklich geliebt hatte. Als er eben unterwegs den Scotch und den Wodka gekauft hatte, war ihm zum ersten mal bewusst geworden, dass er, seit sie wieder bei ihm war, keinen Gedanken mehr an Alkohol verschwendet hatte.

Andy Candy fuhr umsichtig und in gemäßigtem Tempo, obwohl sie mit jeder Meile, die sie ihrem Ziel näher kamen, gegen die Versuchung ankämpfen musste, wie betrunken Schlangenlinien zu fahren – alles, um Aufmerksamkeit zu erregen und mit ihrem Vorhaben zu scheitern. Das war die Stimme der Vernunft. Ihr Bauchgefühl dagegen – das, wie sie vermutete, richtiglag – zwang sie, auf der Spur zu bleiben und sich an die Verkehrsordnung zu halten.

In einer ruhigen Nebenstraße nicht weit von der Truman Avenue und nur zwei kurze Häuserzeilen vom Friedhof entfernt, fanden sie eine geeignete Stelle zum Parken. Sie manövrierte ihren kleinen Wagen in eine Fahrzeugreihe, wie sie für die Keys charakteristisch war: eine kontrastreiche Mischung von hochglanzpolierten, brandneuen Porsches oder Jaguars und zehn Jahre alten zerbeulten Rostlauben mit Aufklebern wie Entschuldigung, dass ich so langsam fahre oder Rettet die Wale!.

Moth schulterte seinen kleinen Rucksack mit den Kleidungsstücken, die Andy so gründlich durch den Schmutz gezogen hatte, den zwei Flaschen Alkohol und der Waffe. Zu Fuß liefen sie zum nächsten Fahrradverleih, wie es sie auf Key West an jeder zweiten Straßenecke gab. Schon von weitem dröhnte ihnen aus Lautsprechern an der Ladenfront Reggae-Musik entgegen. »Every little thing’s gonna be all right«, sang Bob Marley. Der Verkäufer mit Rastalocken vermietete ihnen zwei etwas ramponierte, aber zweckmäßige Räder und zeigte ihnen anschließend eine Stelle, wo sie auch nach Ladenschluss abgestellt und mit einem Schloss gesichert werden konnten. Moth hatte ihm erzählt, sie wüssten noch nicht, ob sie ein oder zwei Tage bleiben würden. Während Moth mit Bargeld bezahlte, hielt sich Andy Candy möglichst unauffällig im Hintergrund.

Sie radelten quer durch die Stadt bis nach West Marine. Dort kaufte sich Moth ein kleines Nebelhorn, wie es zur Standardausrüstung jedes Segelboots gehört, das von Key West aus in See sticht. In The Angling Company besorgte er zwei Schlauchschals. Diese praktischen Accessoires waren bei den Fischern beliebt, die sie sich bei heftigen Böen einfach über Gesicht und Kopf zogen oder aber den Nacken vor Sonnenbrand schützten. Andy Candy bekam einen in Rosa und er in Blau.

Mehr fiel ihm nicht ein. Wenn er daran dachte, wie viel akribische Planung hinter den Morden des Mannes steckte, der seinen Onkel auf dem Gewissen hatte, erschien ihm seine eigene Vorbereitung stümperhaft. Er konnte nur hoffen, dass sie ihren Zweck erfüllte. Ein wenig fühlte er sich wie jemand, dessen Kochkünste sich auf Fertiggerichte aus der Mikrowelle beschränkten, vor einem Abendessen für eine Feinschmeckerrunde, von dem seine berufliche Karriere abhing und für das er sich ein kompliziertes Haute-Cuisine-Menü mit fünf geschmacklich aufeinander abgestimmten Gängen vorgenommen hatte.

Ihr weiterer Weg führte sie zum Strand von Fort Zachary Taylor, wo sie sich nur zwanzig Meter vom Wasser entfernt unter Palmen auf eine verwitterte Holzbank setzten. Ein paar Minuten lang beobachteten sie eine Familie beim Aufbruch nach einem unbeschwerten Tag am Strand, die ihre sandigen, von der Sonne geröteten Kinder zusammentrieben, Schirme und Kühlboxen packten und nach Hause gingen. Die Normalität der Szene gab Andy einen Stich und führte ihr umso unerbittlicher vor Augen, zu welchem Zweck sie beide gekommen waren. Sie wollte irgendetwas sagen, doch im selben Moment sprang Moth auf und eilte zu einem Straßenverkäufer, der ebenfalls seine Zelte abbrach, um jedem von ihnen eine Flasche eisgekühltes Wasser zu besorgen.

Gierig trank es Andy bis zum letzten Tropfen aus.

»Andy, ich glaube nicht, dass wir einfach auf ihn zugehen und ihn erschießen können. Zu viele Leute, die das beobachten könnten. Zu viel Betrieb. Wir müssen ihm an einer einsamen Stelle auflauern «, sagte Moth bedächtig. Er hatte einmal einen Filmkurs absolviert. Seine Überlegung war mehr oder weniger von Al Pacino in Der Pate, Teil 1, inspiriert. »Und bevor wir ihn töten können, will ich eine Gegenüberstellung«, fügte er hinzu. Ungeachtet ihrer Logik klangen seine Worte hohl.

»Was du nicht sagst«, erwiderte Andy lakonisch.

»Mir fällt da nur ein möglicher Ort ein«, fuhr Moth fort.

»Sein Haus«, antwortete Andy, zu ihrem eigenen Staunen in eiskaltem Ton. Wie sie es schaffte, trotz ihrer panischen Angst klar und umsichtig zu denken, blieb ihr selbst ein Rätsel.

»Was mir zu schaffen macht, ist eine Alarmanlage. Wir können uns nicht leisten, von einer Überwachungskamera erfasst zu werden oder eine Sirene auszulösen.«

»Sehe ich genauso«, antwortete Andy.

»Wir können nicht einbrechen. Wir können auch nicht einfach anklopfen und erwarten, dass er uns hereinlässt.«

»Wohl nicht.«

»Bleibt eine einzige Möglichkeit.«

Andy Candy schnürte sich die Brust zusammen. Sie bekam kaum Luft.

Moth zögerte. »Hör zu, falls die Sache schiefgeht, sieh zu, dass du wegkommst. Spring auf das Fahrrad, kehre so schnell wie möglich zum Wagen zurück, fahre immer Richtung Norden und sprich, sobald du zu Hause bist, mit Susan. Sie wird dir helfen.«

»Und was ist mit dir?«, fragte Andy.

»Falls es so weit kommt, hat sich das Problem vermutlich erledigt«, sagte er. Bin ich längst tot, sprach er nicht aus. Brauchte er auch nicht. Wie aus dem Nichts schoss Moth die Frage in den Kopf, ob er sich seit dem Moment, als er die Leiche seines Onkels entdeckt und seinen einzigen Schutz vor dem Alkohol und der Selbstzerstörung verloren hatte, auf einem bizarren Selbstmordtrip befand.

»Vergiss es«, sagte Andy. »Ich laufe nicht davon. Ist nicht meine Art, wenn es schwierig wird, zu kneifen.«

Moth lächelte. »Ich weiß. Aber das hier ist etwas anderes.«

»Ich lass dich nicht allein, Moth. Nicht nach allem, was wir hinter uns haben.«

»Und ob du das tust.«

Andy Candy nickte nachdenklich. Plötzlich war sie sich nicht sicher, ob sie die Wahrheit sagte oder sich und Moth etwas vormachte. »Meinetwegen, wenn du dich dann besser fühlst. Aber nur unter einer Bedingung ...«

Eine wilde Entschlossenheit ergriff von ihr Besitz. »Falls er dich tötet, Moth, töte ich ihn. Falls er mich tötet, sorge du dafür, dass er nicht mit dem Leben davonkommt.«

»Und wenn er uns beide umbringt?«

Eiskalte Logik.

»Dann haben wir nichts mehr zu befürchten, und vielleicht schafft es Susan, ihn unschädlich zu machen.«

Dieser Wortwechsel war so abgründig und düster, dass es Moth fast schon wieder komisch erschien. Er schüttelte den Kopf und zuckte lächelnd die Achseln.

»Okay, ich versprech’s. Und du?«

»Ich auch.«

Es klang wie die Treueschwüre von Vierzehnjährigen – heroisch, doch von kurzer Dauer.

»Andy«, fing Moth an. »Es gibt so viel, was ich dir sagen möchte.«

»Und mindestens genauso viel, was du wissen solltest«, sagte Andy. Sie griff nach seiner Hand und drückte sie. Sie stieß ein nervöses Lachen aus. »Schätze, ein Liebespaar oder Ex-Liebespaar oder Freunde oder ehemalige Highschool-Kumpel – such dir die passende Beschreibung aus, Moth – wie uns gibt es kein zweites Mal.«

Moth grinste, doch nur für einen Moment. »Kannst du Gift drauf nehmen. Wie wär’s damit: Mörderische Highschool-Turteltäubchen – das hat was. Wäre eine tolle Story für irgend so ein Klatschblatt.«

Er holte tief Luft und sah auf die Uhr. »Okay«, sagte er. »Wir müssen los. Er darf uns nicht sehen. Ich glaube nicht, dass er dich oder mich wiedererkennen würde, geschweige denn im Entferntesten damit rechnet, dass wir hier sind. Aber wir sollten nichts dem Zufall überlassen. Und, egal was passiert, benutze ja nicht dein Handy. Jeder Anruf wird vom Key West Tower registriert.«

Er schwieg. Dann reichte er ihr den Schlauchschal, den sie sich für einen Moment wie die Maske eines Wegelagerers über das Gesicht zog. Als Nächstes gab er ihr den breitkrempigen Strohhut und zuletzt das Nebelhorn. Das Horn steckte sie in ihre Schultertasche, den Hut zog sie sich tief in die Stirn. Zweifellos sah sie damit absolut lächerlich aus.

»Wir sind nicht hier. Jetzt nicht und ebenso wenig nachher, wenn es dunkel ist. Wir sind nie hier gewesen, vergiss das bitte nicht.«

Andy Candy nickte.

»Gehen wir und sehen uns die Gräber an«, sagte Moth.

 

Als die Sonne unterging, stellten Moth und Andy Candy ihre Fahrräder an der Straße ab und traten unauffällig durchs Friedhofstor. Sie sahen sich um: Engel mit wallenden Gewändern, weit gespannten Flügeln und Trompeten an den Lippen, nackte Putten, verwitterte Grabsteine, verwelkte Blumen. Die Anordnung der Gräber ließ keinen Plan erkennen – so manche Familiengruft stand erhöht auf einem Sockel und verstellte den Blick in die Ferne. Das Labyrinth aus Marmor und Granit, aus Säulen, Pfeilern, Plinthen und gemeißelten Figuren erinnerte an eine Geisterstadt. Moth erspähte ein Denkmal zu Ehren der Toten, die auf dem Schlachtschiff Maine ihr Leben gelassen hatten, eine Ecke, die den kubanischen Freiheitskämpfern gewidmet war, und Grabsteine, unter denen Marinesoldaten der Südstaatenarmee ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Aus manchen Inschriften sprach pechschwarzer Humor: »Ich mach nur mal kurz die Augen zu« oder »Sagte ich nicht, ich wäre es leid?«, wohingegen andere dem Toten »Gott war gut zu mir« in den Mund legten.

Wie gut, fragte sich Moth, wenn das hier dabei herauskommt?

Der Friedhof befand sich ein wenig abseits der ausgetretenen Touristenpfade, war dagegen unter Obdachlosen ein Geheimtipp, wenn es darum ging, nach einer Flasche Fusel unter den schattigen Schwingen eines Marmorengels seinen Rausch auszuschlafen. Die Angela Street, in der ihre Zielperson wohnte, war eine schmale, kaum befahrene Einbahnstraße an der Westseite des Friedhofs.

Moth und Andy Candy kauerten sich hinter das Grabmal eines Charter-Boot-Skippers und warteten auf den Einbruch der Dunkelheit. Sie rechneten entweder mit einem örtlichen Polizisten auf Streife oder einem Friedhofswärter, doch niemand störte sie oder die Ruhe der Toten.

Als in dem Haus, das sie observierten, Licht anging, zuckten sie beide heftig zusammen. Andy merkte, wie sich in ihrer unbequemen, geduckten Stellung die Waden verkrampften, und fürchtete, dass ihr, wenn sie plötzlich aufspringen musste, die Glieder ihren Dienst versagten. Etwas Dämlicheres konnte ihr kaum passieren. Eine Woge des Zweifels ging über sie hinweg.

Sie erstarrte. Totstellreflex, machte sie sich klar. Wie die Maus, wenn die Katze die Krallen ausfährt. Sie hatte nur noch den einzigen glühenden Wunsch nach einem letzten Rest von Normalität.

Ein kurzer Seitenblick auf Moth genügte. Vergiss es. Sie malte sich aus, was für ein seltsames Leben er einmal führen würde: Er wird Professor, unterrichtet Geschichte, nimmt an Institutskonferenzen teil, schreibt Biographien, die vielleicht auf den Bestsellerlisten landen, gründet eine Familie – und während er für seine Leistungen gefeiert wird, schweigt er über die Ereignisse einer Nacht in seiner Jugend wie ein Grab. Mit gutem Grund, hoffte sie. Vorausgesetzt, sie kamen ungeschoren davon.

Und unter der Bedingung, dass er nie wieder zur Flasche griff.

Wenn sie versuchte, ihre eigene Zukunft vorherzusehen, ging ihr Blick ins Leere. Sie konnte keinen Gedanken fassen, außer den an das Ende, und zwar in dieser Nacht. Sie hatte Angst vor dem Sterben, aber nicht annähernd so viel Angst wie vor dem Töten.

Moth wagte nicht, Andy anzusehen. Er wollte, dass sie weglief, solange sie noch konnte. Er wollte, dass sie bei ihm blieb. Was von beidem besser war, stand in den Sternen. Im Moment blieb ihm nichts anderes übrig, als zu warten, bis es vollkommen dunkel war und sie sich im Schutz der Finsternis aus der Deckung trauen konnten. Da ihm das Stillhalten so unerträglich wurde, dass er hätte schreien können, zog er schon einmal die verschmutzten Kleider aus dem Rucksack. In diesem Moment schnappte Andy nach Luft.

»Da«, flüsterte sie. »O mein Gott.«

Moth folgte ihrem Blick und sah, wie in dem schwachen Licht, das durch die Fenster in der Eingangstür sickerte, ein Mann – der Mann? – erschien. Er war dabei, das Haus zu verlassen, und schloss hinter sich ab.

Auf diesen Moment hatte Moth gehofft. »Das ist er«, sagte er kalt.

Ihm klebte die Zunge am Gaumen. Innerlich brüllte er sich Befehle zu: Los, steh auf! Denk nach! Das ist deine Chance! »Halte dich an den Plan. Folge ihm, ohne dass er dich sieht. Wenn er zurückkommt, gib mir Zeichen, sobald er nur noch ein, zwei Häuserblocks entfernt ist«, krächzte Moth.

Er hätte nicht sagen können, was gefährlicher war: einen Killer zu observieren oder ihm aufzulauern. So oder so hatten sie keine Wahl.

Andy erhob sich lautlos und huschte geschmeidig wie eine Balletttänzerin im Schutz der Gräber bis zur Friedhofspforte und heftete sich dem Mann unbemerkt an die Fersen. Während Moth mit Erleichterung feststellte, dass er Andy Candy im Dunkel des Friedhofs nach wenigen Sekunden aus den Augen verlor, sah er seiner Zielperson auf dem Weg in die Stadt noch eine Weile hinterher. Ahnungslos. Und dann erspähte er wieder den Schlapphut, der sich im Schutz der ausladenden Banyanbäume am Straßenrand von Schatten zu Schatten bewegte. Moth schlüpfte aus seinen Kleidern.