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Es war eine berauschende Erfahrung gewesen, neben seinem Opfer zu stehen – riskant, doch es hatte sich gelohnt: wie eine rasante Fahrt auf regennasser Autobahn, dieses prickelnde Gefühl, wenn die Räder über den Straßenbelag schlittern und wie von Zauberhand im letzten Moment wieder Bodenhaftung gewinnen.

Keine fünf Stunden nachdem Jeremy Hogan mit seinem Waffenarsenal erster Güte vor seinen Augen vom Parkplatz des Waffenladens gefahren war, saß Student Nr. 5 wieder in Manhattan an seinem eigenen Schreibtisch. Manchmal deutet alles darauf hin, sinnierte er, dass ein Mord vom Schicksal gewollt ist. Es war Zufall, dass ich mitbekommen habe, wie meine Zielperson das Haus verließ, mein Glück, dass ich mich unbemerkt dranhängen konnte; ein seltsames Zusammenspiel, dass sein Ausflug ausgerechnet dazu diente, sich Waffen zu besorgen, und geradezu ein Wink des Schicksals, dass ich schließlich unerkannt auf Armeslänge an ihn herankam.

Er verzog das Gesicht zu einem höchst zufriedenen Lächeln. Dieser Tod wird etwas ganz Besonderes.

Diesmal reizte ihn die Gefahr. Mach dich noch näher an ihn ran, auch wenn du jedes Mal riskierst, aufzufliegen.

Er musste an sich halten, um nicht zum Telefon und der kleinen Vorrichtung zu greifen, die seine Stimme elektronisch verzerrte, um Dr. Hogans verdutzte Reaktion zu genießen.

Warte. Lass es dir noch ein bisschen auf der Zunge zergehen.

Er wippte auf seinem Schreibtischsessel, sprang auf, lief in seiner Wohnung hin und her, ballte die Hände zu Fäusten und schüttelte sie wie in einer Lockerungsübung vor dem Training aus. Lass dich nicht zu unüberlegten Schritten hinreißen, schärfte sich Student Nr. 5 ein.

Halte dich an den Plan.

Du hast die Schlacht gewonnen, aber noch nicht den Krieg.

Diese und ähnliche kluge Zitate aus Sunzis Die Kunst des Krieges standen auf Postkarten an einer Pinnwand neben seinem Schreibtisch.

Gib dich unterlegen und verleite deinen Feind zum Übermut.

Wenn du deinem Feind nahe bist, wiege ihn in dem Glauben, du seist noch weit entfernt. Bist du noch weit von ihm entfernt, erwecke den Eindruck, du wärst zum Greifen nahe.

Überrumple ihn mit deinem Angriff. Stell dich ihm entgegen, wo er dich nicht erwartet.

Natürlich war es wichtig, zu wissen, auf welchen Strecken Jeremy Hogan zu welchen Zielen fuhr, wie er seinen Tag einteilte, welche eingefleischten Gewohnheiten er nicht ablegen konnte, selbst wenn er es wollte. Doch das war nicht genug. Ebenso wichtig war die richtige Einschätzung seiner psychischen Verfassung: Wie weit wäre der Doktor in der Lage, sich um Veränderungen in seinem Tagesablauf und in seinen Verhaltensmustern zu bemühen, um seinem Verfolger zu entwischen? Allzu viel traute er Jeremy Hogan nicht zu. Die wenigsten Menschen waren zu drastischen Veränderungen in der Lage. Es lag in der Natur des Menschen, sich an das Bewährte und Vertraute zu halten und daraus ein hohes Maß an Sicherheit zu schöpfen. Besonders im Angesicht des Todes, wenn das große Unbekannte nicht mehr abzuwenden ist, klammerten sich die meisten an Erfahrungswerte.

Diese und ähnliche Erkenntnisse hatte er seinen umfangreichen Studien entnommen. Die Beschäftigung mit diesen Themen reichte bis in die Jahre zurück, als er noch glaubte, ihm winke eine steile Karriere als Seelenarzt.

Wer hätte gedacht, dass die Psychologie des Tötens und die des Helfens so nahe beieinanderliegen?

Als er dem alten Mann auf dem Weg vom Waffengeschäft zu seinem Wagen gefolgt war, hatte es ihm wahrhaftig in den Fingern gejuckt, ihm beim Tragen seines brandneuen Arsenals behilflich zu sein. Nichts weiter als eine nette, hilfsbereite Geste – doch Student Nr. 5 wusste, dass er an diesem Tag schon genug riskiert hatte, indem er seiner Zielperson so nahe gekommen war. Als er im Geschäft den Eigentümer um Erlaubnis bat, eine Waffe auszuprobieren, hatte er nicht einmal seine Stimme verstellt; stattdessen hatte er unauffällig beobachtet, ob seine Worte oder sein Tonfall bei dem alten Professor an irgendwelche längst verschütteten Erinnerungen rührten.

Doch der hatte keine Reaktion gezeigt.

Er hatte auch keine erwartet.

Was ihn noch zuversichtlicher machte.

Streng genommen ist der ganz natürliche Alterungsprozess die allerbeste Tarnung. Ein paar Augenfältchen, ein wenig abgespeckte Wangen, die berühmten grauen Schläfen, eine Brille als Zeichen nachlassender Sehkraft – und schon lässt uns das Gedächtnis im Stich.

Genauso wichtig waren natürlich der Anlass des Wiedersehens und die Umgebung. Wie hätte der Professor ahnen können, dass der junge Mann, dem er einmal schweres Unrecht zugefügt hatte, ihm dreißig Jahre später, als erwachsener Mann, höflich die Tür aufhält? Wie hätte er darauf kommen sollen, dass er in diesem Moment seinem Mörder für die freundliche Geste dankte?

Ganz einfach: weil er nie und nimmer damit rechnen konnte, mir in diesem Moment zu begegnen.

Manchmal ist keine Tarnung die beste Tarnung.

In diesem Moment suchten den Studenten Nr. 5 die eigenen Erinnerungen heim, und er kramte in seinen Schreibtischschubladen, bis er auf ein kleines Fotoalbum aus geprägtem rotem Leder stieß. Er schlug es auf. Da stand er, als Highschool-Absolvent und, auf der nächsten Aufnahme, Arm in Arm mit seinen Eltern bei der feierlichen Übergabe des College-Abschlusszeugnisses. Ein Bild der Unschuld und des Optimismus. Es folgten einige Aufnahmen in Badehose am Strand, spontane Schnappschüsse mit jungen Mädchen, deren Namen ihm längst entfallen waren, oder von Freunden, die sich vor Jahrzehnten aus seinem Leben verabschiedet hatten.

Für einen Moment stieg ihm die alte Wut hoch.

Solange du normal bist, sind alle glücklich und zufrieden. Bist du es nicht, wenden sie sich entsetzt von dir ab.

Sie haben tatsächlich Angst vor dir, obwohl in Wahrheit du jeden Grund hast, dich zu fürchten. Die Leute begreifen das einfach nicht: Wenn du den Verstand verlierst, kannst du deine Hoffnungen gleich mit begraben.

Er holte tief Luft. Die Erinnerungen trübten seine Stimmung, und die Traurigkeit verwandelte sich in Wut. An der Schreibtischkante fand er Halt. Er wusste nur zu gut, dass er die Vergangenheit unter dem Deckel halten musste, wenn er an einem Plan arbeitete. Auch wenn das Trauma aus der Vergangenheit die Triebfeder für seine Pläne war, musste er die Bilder von damals in ihre Schranken verweisen, wenn er keine Fehler machen wollte.

Keiner von ihnen hat mich auch nur ein einziges Mal in der Anstalt besucht. Als hätte ich eine ansteckende Krankheit.

Keine Freunde.

Keine Familie.

Kein Mensch.

Sie haben mich mit meinem Wahnsinn ganz allein gelassen.

Aus den Monaten in der Psychiatrie gab es keine Fotos, ebenso wenig wie nach seiner Entlassung. Schließlich blätterte er zur letzten Seite des Albums um, zum wichtigsten Foto von allen. Sie hatten es im Innenhof des Instituts für Psychiatrie aufgenommen. Fünf lächelnde Gesichter. Alle in derselben Uniform: weiße Laborkittel über dunkler Hose oder Jeans. Mit untergehakten Armen waren sie dicht zusammengerückt.

Er selbst stand in der Mitte. Haben sie damals schon geplant, mir meine Karriere zu ruinieren?

War ihnen klar, wie sie mir die Zukunft versauten? Wo blieb ihre Sympathie? Ihr Verständnis? Ein Mindestmaß an Solidarität?

Auf dem Bild trug er eine wilde, ungepflegte Mähne, und bei genauerem Hinsehen bemerkte man den unsicheren Blick, den er mit seinem Lächeln kaschierte. Er sah seinem früheren Ebenbild an, wie wenig Schlaf er bekommen, wie viele Mahlzeiten er ausgelassen hatte. Seine Schultern waren nach vorn gesackt, seine Brust eingefallen. Er sah schmächtig aus. Fast als hätte ihn jemand verprügelt oder zusammengeschlagen. Geisteskrankheiten konnten einen Menschen ebenso auszehren wie ein Krebsgeschwür.

Wieso habe ich gelächelt?

Er sah genauer hin. Aus seinem Blick sprachen Ratlosigkeit und Verletzung.

Dieser Schmerz war die Wahrheit. Ihre Umarmung, die freundlichen Gesichter, ihr breites, fröhliches Lächeln und der Kameradschaftsgeist, all das war gelogen.

Student Nr. 5 zog das Foto unter der Schutzfolie hervor und hielt es vor sich hin. Dann griff er nach einem roten Marker. Er packte den Stift wie ein Messer und strich nacheinander die Gesichter aus – sein eigenes inklusive.

Mit dem entstellten Schnappschuss eilte er in die Küche. In einem Kistchen fand er eine Streichholzschachtel. Er trat an den Ausguss, steckte ein Streichholz an und ließ die Flamme über den Rand des Fotos züngeln. Dabei drehte er das Bild langsam zwischen den Fingern um, bis die Flammen alle Seiten erfasst hatten. Erst dann ließ er es ins Becken fallen und sah zu, wie es verkohlte und zu Asche zerfiel. Jetzt sind alle auf diesem Foto tot, stellte er fest.

Indem ich töte, werde ich wieder normal.

Er wedelte mit den Händen über dem Ausguss, um nicht den Rauchmelder auszulösen.