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Sie entschlossen sich, in einem billigen Motel in der Nähe des Flughafens zu übernachten, nachdem Susan Terry ihnen klargemacht hatte, dass es nicht besonders klug sei, weit nach Einbruch der Dunkelheit am Haus eines Mörders aufzutauchen, der mutmaßlich mehrere Menschen auf dem Gewissen hatte. Außerdem sei dieser Killer offenbar im Umgang mit Waffen versiert. In die Enge getrieben wie ein wildes Tier, sei ihm alles zuzutrauen. Moth und Andy hatten noch mit keinem in die Enge getriebenen wilden Tier Bekanntschaft gemacht, und so assoziierten sie Susans Mahnung mit einem Naturfilm.
Susan hatte, als sie einige Jahre zuvor den Job bei der Staatsanwaltschaft antrat, eine obligatorische Kampfausbildung bei der Polizei absolviert, wohingegen Andy Candy und Moth keinerlei Erfahrung mit Schusswaffen oder sonstige Kampferprobung vorzuweisen hatten, die ihnen helfen würde, die Konfrontation am nächsten Tag mit heiler Haut zu überstehen. Sie verfügten über zwei Handfeuerwaffen und waren – auch wenn sich hin und wieder Zweifel meldeten – zu allem entschlossen. Sie wussten, dass sie am Ziel ihrer Reise ein äußerst gefährlicher Mann erwartete, der schon viel zu tief in ihr Leben eingedrungen war. Jedem von ihnen war klar, dass es kein Spaziergang würde.
Moth klammerte sich an seine Phantasien von Rache und Gerechtigkeit, die, wie er sich insgeheim eingestand, immer mehr verblassten. Ihm fiel nur nichts Besseres ein, um seinen Mut zu befeuern.
Bei Andy Candy gingen Angst und Wut so fließend ineinander über, dass sie einfach nur hätte um sich schlagen können. Mehr als irgendetwas sonst sehnte sie sich nach Sicherheit, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was sie im Erfolgsfall damit anfangen würde.
Susan Terry hoffte auf ein Szenario, bei dem sie dem Mistkerl mit knallharten Fragen ein Geständnis entriss und ihn anschließend verhaften ließ. Ein so spektakulärer Zugriff würde nicht nur ihre Widerstandskraft mobilisieren und ihr angeknackstes Selbstvertrauen kitten, sondern auch ihren Chef daheim in der Bezirksstaatsanwaltschaft gnädig stimmen. »Hallo, Sir. Ich hab nicht nur mich fest im Griff, sondern, wie Sie sehen, auch noch einen wirklich einmaligen Serienkiller ergriffen. Vielleicht der geeignete Moment, um über eine Gehaltserhöhung zu reden?«
Das kleine, schäbige Zimmer, in dem sie sich einquartierten, war mit zwei Betten ausgestattet. Anfänglich teilten sich Susan und Andy Candy eines, während Moth auf das zweite sank. Die Anspannung zehrte an ihren Kräften, und sie waren alle erschöpft. Doch als Andy Candy auch nach Stunden noch keinen Schlaf finden konnte, stand sie lautlos auf und kroch zu Moth unter die Decke. Während ihrer Highschool-Romanze hatten sie miteinander geschlafen, aber nie eine Nacht gemeinsam in einem Bett verbracht. Sie waren stets heimlich zusammen gewesen – im Auto, zu Hause, wenn sie für wenige Stunden sturmfreie Bude hatten. Eine Weile genoss sie seinen regelmäßigen Atem und die Berührung seiner kühlen Haut, doch bald schlief sie ein und hoffte, nicht aus einem Alptraum aufzuschrecken.
Student Nr. 5 musterte sein Wohnmobil und räumte innerlich ein, dass sein Plan für eine so simple Angelegenheit ziemlich kompliziert aussah. Schließlich hätte er es sich einfacher machen können: Peng! Wumm! Alle tot. Doch er glaubte, alles bedacht zu haben, und so fragte er zufrieden im langgezogenen Arbeiterslang:
»Na, was meinste, Kumpel? Haut das rein?«
Der Obdachlose gab einen Laut von sich – keinen Schrei, doch weit mehr als ein Grunzen, ein hilfloses Gurgeln, bei dem eine gewisse Panik nicht zu überhören war.
»Denke schon. Sind ja nicht allzu viele bewegliche Teile. Wusstest du, dass ich die kleine Anlage aus Filmen und Büchern abgekupfert hab? Von Mafiathrillern und Horrorstreifen. Wenn man sich mit Knoten und Seilen auskennt, eigentlich kein Kunststück, aber egal. Ich hab’s abgewandelt und ein wenig improvisiert. Du musst zugeben, das Ding ist genial.«
Er plauderte so unbekümmert wie ein Installateur über neu verlegte Leitungen und sah zu dem Obdachlosen hinüber.
»Nicht die Stellung wechseln, nicht zappeln. Am besten hältst du absolut still. Sonst – na ja, siehst du ja selbst.«
Der Obdachlose wimmerte.
Eine den Umständen angemessene Reaktion, räumte Student Nr. 5 ein.
Der Tropf war an einen billigen Holzstuhl gefesselt – Hände und Füße mit paraffingetränkten Baumwollstreifen so eng verknotet, dass sie ihm ins Fleisch schnitten. Den Mund hatte er ihm mit einem Stück Isolierband verklebt. Der Mann saß mit dem Rücken zur einzigen Tür im Raum. Durch das einzige Fenster drang die erste Morgendämmerung herein. Es war eine lange Nacht gewesen und sehr früh am Morgen; es standen immer noch Erledigungen an.
Mach schnell, aber überhaste nichts. Ausruhen kannst du dich später. Jetzt ist äußerste Wachsamkeit geboten.
Der Obdachlose starrte mit leicht gesenktem Kopf in den Lauf einer Flinte. Sie war im spitzen Winkel so an Kanthölzern befestigt und mit Büchern und Kissen verkeilt, dass die Richtung stimmte. Eine einsträngige Angelschnur war am Hahn verknotet, anschließend durch eine kleine Seilrolle geführt, wie man sie zum Öffnen und Schließen von Gardinen benutzt, und schließlich an einem Tisch verklebt.
Am liebsten hätte sich Student Nr. 5 für das, was den Tropf erwartete, im Voraus entschuldigt: Tut mir echt leid, Kumpel. Das Leben hat dir wirklich übel mitgespielt. Echt Scheiße, und dann auch noch so ein mieser Abgang. Ich weiß deine Hilfe bei der Sache hier zu schätzen, und ich finde es ja selber schade, dass du dabei draufgehst, aber wenn’s dich tröstet – du bist nicht der Einzige, gleich beißen noch ein paar Leute ins Gras.
Doch das sagte er nicht. Vielmehr riss er dem Mann das Isolierband vom Mund. Der Obdachlose schnappte nach Luft und stammelte heiser: »Bitte, Mann, ich hab nichts getan ...«, doch das ließ ihn kalt. Immer dieselbe Leier. Niemand kommt je auf den Gedanken, er hätte den Tod verdient, wo im Allgemeinen das Gegenteil zutrifft.
Er antwortete: »Sieh mal, Kumpel, ich verstehe ja, dass dich bei dieser Sache keine Schuld trifft. Ich könnte dir erklären, worum sich das Ganze hier dreht, aber das ist eine lange Geschichte, und ich will die kurze Zeit, die uns noch bleibt, nicht damit verplempern.«
Der Mann beobachtete jede kleine Bewegung seines Peinigers.
»Das heißt, ein bisschen Zeit haben wir schon noch, kann nur nicht genau sagen, wie viel. Wird sich zeigen. Jedenfalls wäre es nicht klug, diese Minuten zu vertun, indem wir traurige Geschichten austauschen. Sicher ganz interessant, aber was bringt uns das?«
Student Nr. 5 schwieg einen Moment, um sich psychologisch zu präparieren. Nimm diesen Mann nicht persönlich, schärfte er sich ein. Objektiviere ihn. Auch wenn er es nicht weiß, geht er eines Tages in die Kriminalgeschichte ein. Student Nr. 5 grinste innerlich. Wenn ich neunzig bin und meine Memoiren schreibe.
Er überprüfte nochmals seine Knoten. Aus langjähriger Erfahrung wusste er, dass er ein bestimmtes Maß an Ungewissheit, Konfusion und Bangen aufrechterhalten musste. Diese drei Elemente waren gewissermaßen die Hintergrundmusik. Sein Plan ging auf, solange der Obdachlose nur begriff, was er vor Augen hatte:
Flinte. Tod.
Er rückte ein kleines Mikropfon zurecht, das er ihm ans Hemd geklemmt hatte, und sagte: »Ich möchte, dass du Folgendes sagst und deine Worte ununterbrochen wiederholst. Dabei musst du den Tonfall wechseln – betteln, schreien, heulen – alles, was dir einfällt. Du musst dich richtig ins Zeug legen, Kumpel, nur keine Hemmungen! Sieh zu, dass es glaubhaft klingt. Schätze, das ist der einfachste Teil deiner Vorführung.«
Vor Entsetzen traten dem Mann fast die Augen aus den Höhlen.«
»Stell dir vor, du bist auf der Bühne, alter Knabe. Was meinst du? Kriegst du das hin?«
Der Obdachlose nickte vorsichtig.
»Also gut. Ich möchte, dass du um Hilfe schreist. Ich möchte, dass du rufst: Hier drinnen! Dann: Bitte helft mir! Und Hilfe! Hilfe! Ich will, dass es jemand draußen vor der Tür hört und augenblicklich hereinstürmt. Nichts weiter. Ruf einfach nur um Hilfe. Verstanden?«
Der Obdachlose schien verwirrt.
»Du musst für jemanden, der draußen vorbeikommt, überzeugend klingen.«
Der Mann wollte immer noch nicht begreifen.
»Pass auf«, fügte Student Nr. 5 hinzu. »Willst du, dass dich jemand hier rausholt? In Kürze kommen Leute her, die dich losschneiden können. Tu, was ich dir sage, das ist deine einzige Chance, hier lebend rauszukommen. Wohlgemerkt, die einzige Chance. Du musst alles daransetzen, dir selbst zu helfen. Du schaffst das, ich weiß, dass du das schaffst. Ich versuche nur, dir die Sache zu erleichtern.«
Natürlich gab es keine Hoffnung. Er wusste, dass die Wahrheit dem Obdachlosen erst im allerletzten Moment dämmern durfte, denn wenn die Leute die Hoffnung verloren, verhielten sie sich unberechenbar und kooperierten nicht mehr. Sie machten dicht, gaben auf und fügten sich in den Tod. Dazu durfte es nicht vorzeitig kommen. Wahren wir also den Schein.
Der Obdachlose hatte spröde Lippen, und Student Nr. 5 wusste, dass ihm vor Angst die Kehle ausgedörrt war. Als er ihn am Abend aufgelesen hatte, bedurfte es keiner großen Überredungskünste, um ihn bis zur Bewusstlosigkeit betrunken zu machen. Dieses Detail in seinem Plan entbehrte nicht der Ironie, da Timothy Warner dieser Dämmerzustand zweifellos bestens vertraut war. Es zeugte von Witz, dass bei seiner kleinen Inszenierung ein Trinker den anderen tötete.
Er köpfte eine weitere Flasche Bier und hielt dem Mann die kalte Flasche an die Lippen. Der Obdachlose schluckte gierig.
»Besser?«
Der Mann nickte.
»Was Scharfes hinterher?«
Student Nr. 5 hielt eine große Flasche billigen Whisky hoch.
Wieder nickte der Gefesselte, und Student Nr. 5 goss ihm einen ordentlichen Schwupp in den Mund. Er war neugierig. Denkt er sich, wenn ich schon sterben muss, dann wenigstens besoffen? Wahrscheinlich. Das Vernünftigste, was er machen kann.
»Tu, was ich sage, und es gibt mehr von der Sorte.«
Trotz seiner prekären Lage sah ihn der Obdachlose begierig an.
»Eine gute Vorstellung, das erwarte ich von dir. Ich will, dass du fünf, nein, mindestens zehn Minuten durchhältst. Ich weiß, das klingt lang, aber mach einfach nur weiter. Keine Pausen. Hast du verstanden?«
Zur Bestätigung kniff der Mann die Augen zusammen.
»Sieh’s mal so: Du rufst um Hilfe. Diese Hilfe ist deine Rettung. Also, ich an deiner Stelle würde da nicht kleckern, sondern klotzen. Ich sag dir, mach was draus.«
Der Obdachlose schien sich der Herausforderung zu stellen. »Okay. Achtung, fertig … los!« Student Nr. 5 drückte die Aufnahmetaste an seinem alten Kassettenrekorder und sah auf die Armbanduhr.
Rauh wie Schmirgelpapier kam das erste Hilfe! heraus.
Mit ausladenden Gesten entlockte Student Nr. 5 dem Mann – wie ein Dirigent dem Orchester – die ersten Töne, bis ihm die Worte aus der Kehle strömten – aufrichtig, herzzerreißend, voller Panik: eine Arie der Verzweiflung.