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Einfach genial, dieses Facebook.

Student Nr. 5 würde mit Andrea Martine Bekanntschaft machen. Eine Fernbeziehung gewissermaßen, grinste er innerlich. Er starrte auf ihre Bildergalerie, die Unterschriften und Kommentare. Jede Menge Belanglosigkeiten, aus denen er nichtsdestoweniger einige wichtige Informationen destillierte: toter Vater Tierarzt; Mutter Musiklehrerin; unbeschwerte Collegezeit, die von heute auf morgen beendet wurde; wochenlang keine Posts. Wüsste gerne, wieso. Akribisch trennte er in dem unübersichtlichen Haufen an unreifem College-Studenten-Gefasel die Spreu vom Weizen, um anhand der gewonnenen Erkenntnisse einen soliden Plan zu entwickeln. Ihm kam ein seltsamer Gedanke: Ob Mark Zuckerberg wohl bewusst war, wie hilfreich sich sein soziales Netzwerk bei der Entscheidung erwies, ob man jemanden töten sollte oder nicht?

Er lächelte, und ihm kam ein zweiter Gedanke: ein bisschen so wie bei einem Blind Date. Er stellte sich vor, wie er Miss Andrea an einem Restauranttisch gegenübersaß und Nettigkeiten mit ihr austauschte. In liebenswürdigem Ton fragte er sie: »Sie finden es also toll, Hunde aus dem Tierheim aufzunehmen? Und Gedichte von Emily Dickinson oder Romane von Jane Austen lesen Sie nicht nur fürs Studium, sondern auch in Ihrer Freizeit? Sieh mal einer an ...«

»Ganz offensichtlich führen Sie ein faszinierendes Leben, Andrea. Ihnen steht die ganze Welt offen, jede Menge Möglichkeiten. Täte mir leid, dem ein Ende setzen zu müssen.«

Zum Totlachen, dieser Dialog. Doch die amüsante Phantasievorstellung half ihm nicht dabei, die düsteren Gedanken abzuschütteln, die ihm zu schaffen machten.

Er wendete sich wieder ihrem Facebook-Profil zu, ging noch einmal sämtliche Fotos und archivierten Daten durch. Ein Foto von einer strahlenden Andrea Arm in Arm mit einem dunkelhaarigen, schlanken Jungen sah er sich genauer an. Kein Name. Unter diesem Bild stand: Ex.

Student Nr. 5 registrierte die häufige Verwendung des Spitznamens Andy Candy.

Interessante Wortspielerei. Klingt wie der Nom du sexe eines Pornostars.

Er fand Andy Candy hübsch. Entwaffnendes Lächeln und schlanke, anmutige Figur, das musste man ihr lassen. Er vermutete, dass sie eine fleißige, gute Studentin war. Er stellte sie sich umgänglich vor, freundlich, weder übertrieben gesellig noch ein Mauerblümchen. Sie hatte Bilder eingestellt, auf denen sie mit Freunden Bier trank, Tandem fuhr, über dem Meer im Bikini an einem Fallschirm vom Himmel segelte, an dem sie ein Schnellboot in die Höhe gezogen hatte. Auf manchen Schnappschüssen war sie als Teenager beim Fußball, auf anderen beim Basketball zu sehen. Es folgten ein paar Fotos als Baby mit der wenig originellen Frage darunter: Niedlich, oder? Sie war vollkommen anders als die Personen, die er – bis jetzt – getötet hatte.

Einen alten Mann. Vier Psychiater in mittleren Jahren. Studiengruppe Alpha.

Andy Candy fiel in eine andere Kategorie. Dies wäre die erste Tötung aus freier Wahl. Du würdest töten, um deine Zukunft zu sichern und dafür zu sorgen, dass die Vergangenheit nicht ans Licht kommt. Ihn beschlichen Zweifel, ein unbehagliches Gefühl. Was hat sie sich zuschulden kommen lassen?

Bei einem Foto ging Student Nr. 5 näher heran. Er taxierte sie auf etwa achtzehn. Andy Candy schmuste auf einem flauschigen Sofa mit einem Köter: Hund und Mädchen blickten mit breitem Grinsen in die Kamera, beide die gleiche Baseballkappe der University of Florida auf dem Kopf, auch wenn der Hund sich damit nicht ganz wohl zu fühlen schien. Das Bild fiel bei dem jungen Mädchen unter die Kategorie »süß«. Darunter die spaßige Bemerkung: Ich und mein neuer Freund Bruno bei einer Erstsemesterveranstaltung Herbst 2010.

Unschuldig, dachte er.

Er ging noch näher an den Computerbildschirm heran. »Was hattest du bei Professor Hogan zu suchen, junge Dame?«, fragte er im gestrengen Ton eines Schuldirektors, der sich mit erhobenem Zeigefinger einen rüpelhaften Schüler vorknöpft. »Was hast du gesehen? Was hast du gehört? Was hast du jetzt vor?« – als erwartete er von einem der Fotos eine ehrliche Antwort. »Begreifst du nicht, was das heißt?« Stille. »Möglicherweise zwingst du mich, dich zu töten.«

Student Nr. 5 verließ die Seite des Mädchens und nahm sich Timothy Warner vor. Im sozialen Netzwerk tauchte er nicht auf, doch es gab andere Informationsquellen, zum Beispiel eine Datenbank, auf der seine Polizeiakte einzusehen war.

Timothy Warner war zweimal wegen Alkohols am Steuer auffällig geworden. Es gab ein Urteil des Bezirksgerichts mit Bewährung ohne Auflagen und dem Entzug des Führerscheins.

Darüber hinaus fand er einige Google-Einträge zu Timothy Warner: Masterabschluss magna cum laude in amerikanischer Geschichte an der University of Miami, eine prestigeträchtige Auszeichnung für seinen Bachelorabschluss in Geschichte. Dankenswerterweise enthielt die entsprechende Pressemitteilung der Universität nicht nur ein Foto des Geehrten, sondern auch die Information, Timothy Warner sei weiterhin an der Universität und arbeite an seiner Promotion im Spezialgebiet Jefferson-Studien.

Er fixierte das Bild. »Hallo, Timothy«, sagte er. »Ist mir eine Ehre, bald deine persönliche Bekanntschaft zu machen.«

Im Miami Herald erschien Timothy Warner in der Liste der Hinterbliebenen in der Todesanzeige zum Selbstmord seines Onkels. Noch ein paar Klicks auf der Tastatur, und binnen weniger Sekunden hatte er die Adressen und Telefonnummern sowohl von Andy Candy als auch vom Neffen Timothy.

Wie ein Spieler auf der Ersatzbank, der seiner Einwechslung entgegenfiebert, wippte Student Nr. 5 unruhig mit den Beinen.

Er wusste, wie sie aussahen und wo er nach ihnen Ausschau halten sollte. Es würde kein großes Problem darstellen, auf seiner Pro-und-contra-Liste zur Frage Muss ich die beiden töten? die letzten Leerstellen zu füllen.

Er teilte seinen Bildschirm, öffnete die beiden Browserfenster mit dem Foto von Andy und ihrem »Ex« und dem Bild von Timothy Warner in der Universitätsmitteilung nebeneinander. Das war interessant. Hat sie die Liebe wieder zusammengebracht?

Er schüttelte den Kopf.

Wohl eher der Tod.