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Ein einseitiges Gespräch:

»Überstürze nichts.«

»Du kannst dir deine ganze Zukunft versauen.«

»Die schnappen dich.«

»Meinst du etwa, ich könnte dich beschützen? Denk mal drüber nach. Das werde ich schön bleibenlassen.«

»Mord ist kein Kinderspiel, Timothy. Genauso wenig eine akademische Übung. Mord ist sehr real, abscheulich, und man muss schon sehr hartgesotten sein, um so was über sich zu bringen. Du hast nicht das Zeug dafür.«

»Meinst du allen Ernstes, du kannst diesem Mann in die Augen sehen und ihn abknallen? Die Frage solltest du dir erst mal selbst stellen. Das mag in Hollywood leicht aussehen, aber da fließt nur Schweineblut, Timothy, vergiss das nicht.«

»Meinst du wirklich, du kannst abdrücken?«

»Die Polizei ist nicht auf den Kopf gefallen, Timothy, und die haben jede Menge Zeit. Bei Mord gibt’s keine Verjährungsfrist, und die verfügen über Mittel und Wege, du würdest dir die Augen reiben.«

Weiter beharrliches Schweigen. Alle Bedenken, Ratschläge, Mahnungen, mit denen sie ihn bombardierte, schienen zu verpuffen.

»Nenne mir einen guten Grund, wieso ich, wenn ich morgen die Zeitung aufschlage und von einem Mord auf Key West lese, nicht augenblicklich zum Morddezernat der städtischen Kripo marschiere und sage: ›Ich weiß, wer das war …‹ Selbst wenn ich es nicht tue, früher oder später haben die ihr Puzzle zusammen. Vielleicht später, aber irgendwann haben sie es, und dann bist du dran. Also gut, meinetwegen, töte den Mann und genieß die letzten achtundvierzig Stunden in Freiheit, Timothy. Und mal dir aus, was du alles mit deinem Leben hättest anfangen können. Werden die kürzesten achtundvierzig Stunden deines Lebens sein – in denen du damit rechnest, dass es gleich an deiner Tür klopft. Und falls du mit dem Gedanken spielst, zu türmen – vergiss es, bringt nichts. Und wenn du dir den besten Strafverteidiger in ganz Miami nimmst, du wanderst in den Knast. Und weißt du, was sie da mit netten weißen Jungen machen, die wegen Mordes einsitzen? Los, Timothy, ein bisschen Phantasie! Wenn du dir dann das Schlimmste ausgemalt hast, multipliziere es mit Faktor zehn, und du hast es in etwa getroffen.«

Wieder eine Pause in Erwartung einer Antwort, die nicht kam.

»Timothy, bitte, sei kein Idiot. Du bist klug und gebildet. Dir steht die ganze Welt offen. Wirf das nicht alles weg, bloß weil du dir Rache geschworen hast.«

Ein Lächeln. Kopfschütteln. Eine so drückende Stille im Raum wie Sirenengeheul. Susan gab es auf, ihre zunehmende Frustration zu unterdrücken, als sie das schwerste Geschütz auffuhr:

»Und Andy reißt du mit ins Verderben, vielleicht auch mich, selbst wenn ich mich kooperativ zeige und gegen dich aussage. Diesmal kann ich meinen Job wirklich vergessen, wahrscheinlich ist meine ganze Karriere im Eimer. Ich könnte selbst in den Knast wandern, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was Andy erwartet. Willst du, dass sie für den Rest ihres Leben hinter Gitter kommt?«

Einmal tief durchgeatmet. Dann Moths schlichte, unmögliche Antwort: »Nein.«

Und wieder Schweigen. Susans letzte hilflose Frage: »Also?«

Eine Lüge: »Das lasse ich nicht zu. Auf Wiedersehen, Susan. Bis morgen Abend in der Redeemer One

Ein allerletzter, verzweifelter Versuch: »Andy, bitte! Lass das nicht zu!«

Und Andys Antwort, wie aus der Pistole geschossen: »Ich war noch nie gut darin, Moth irgendetwas auszureden, egal ob gut oder schlecht. Wenn er sich erst mal was in den Kopf gesetzt hat, ist er störrisch wie ein Esel.«

Ein Klischee, aber treffend.

Susan blickte von einem zum anderen. Plötzlich erschienen sie ihr sehr jung. »Also dann, scheiß drauf«, sagte sie und wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte sie sich noch ein letztes Mal um: »Sagt nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.« In Sekundenschnelle versuchte sie abzuschätzen, was sie sich selbst mit der Geschichte einhandelte. Nicht wenig. Mitwisserschaft. Beihilfe vor der Tat, so viel stand fest. Beihilfe nach der Tat – mit hoher Wahrscheinlichkeit. Eine Reihe von Tatvorwürfen, die sie selbst gegen jemanden in ihrer Situation vorgebracht hätte, stürmten auf sie ein. Ihr standen die entsprechenden Paragraphen im Strafgesetzbuch vor Augen, sie hätte sie notfalls sogar wortwörtlich zitieren können. Die Anwältin in ihr spielte mit dem Gedanken, rasch eine kurze Erklärung aufzusetzen, die sie von sämtlichen kriminellen Handlungen freisprach. Doch dafür war es zu spät, denn Moth hielt ihr die Tür auf und wiederholte: »Auf Wiedersehen, Susan.«

Ihr juckte es in den Fingern, ihm eine schallende Ohrfeige zu verpassen, um ihn zur Vernunft zu bringen, doch sie trat auf den Flur, und als sich die Tür hinter ihr schloss, fühlte sie sich so einsam wie nie zuvor.

 

Moth nahm das Führerscheinfoto von Stephen Lewis, wohnhaft Angela Street, Key West, und ging zu seinem Laptop. Ein paar Mausklicks, und was auch immer es zu diesem Namen an Informationen gab, wäre schnell ausfindig gemacht. Die Finger über der Tastatur, sagte er: »Sie hat natürlich recht.«

»Recht womit?«, stellte sich Andy Candy dumm.

»Mit allem«, erwiderte Moth. »Dem Risiko. Dem Dilemma. Den Folgen. Ich sollte mir nichts vormachen.« Es klang nicht überzeugend.

Er überlegte, bevor er hinzufügte: »Und mit uns. Auch da lag sie richtig. Ich darf dich nicht weiter um Hilfe bitten. Du musst gehen, sofort. Egal was passiert, das ist ganz allein meine Sache. Susan hat uns gewarnt, nicht unsere Zukunft wegzuschmeißen – sie hat kein Argument ausgelassen, und jedes davon war vernünftiger als das, was ich vorhabe. Oder wozu ich fähig bin – auch das hat sie durchschaut.« Er schüttelte den Kopf. »Aber ich muss es wenigstens versuchen.«

Andy Candy wusste, dass sie sich bei ihrer nächsten Entscheidung vom gesunden Menschenverstand leiten lassen sollte und sonst gar nichts, begriff jedoch im selben Moment, dass die Entscheidung längst gefallen war.

»Moth«, sagte sie leise. »Ich lass dich jetzt nicht allein.« Das war die beste und schlimmste Entscheidung zugleich. Was ist Recht, und was ist Unrecht?, dachte sie. Ein Unrecht kann richtig sein, das Richtige unrecht, beides in einem. Ganz sicher traf das auf ihr Vorhaben zu.

»Wenn ich eine Zukunft hatte«, sagte Moth bedächtig, »dann nur dank Onkel Ed. Wenn wir das hier alles der Polizei übergeben, verschwindet der Mörder wieder, bevor sie ihn schnappen. Vielleicht hat er ja noch irgendwo eine andere Identität, vielleicht auch zehn, und egal wie viel Druck Susan macht und wie viele Fahndungshandzettel das FBI rausgibt, die werden ihn nicht finden. Alle naselang tauchen in den USA Leute ab, und wenn so einer dann nach zwanzig, dreißig Jahren den Cops mehr oder weniger zufällig ins Netz geht, steht’s groß in der Zeitung. Radikale aus den Sechzigern sind über Jahre verschwunden. Und was ist mit diesem Kerl, diesem Boston-Gangster? Das Gesicht hing in jeder Postfiliale, und bei den Meistgesuchten des FBI war er unter den Top Ten, aber gefunden haben sie ihn erst Jahrzehnte später, und auch das nur durch Zufall. Unser Mann hier scheint aber jemand zu sein, der nichts im Leben dem Zufall überlässt.«

Andy Candy wollte pragmatisch sein.

»Er wird uns umbringen, Moth, so viel steht fest. Vielleicht nicht heute oder morgen, aber irgendwann schlägt er zu. Wenn ihm danach ist.« Das war nicht neu, doch als sie es laut aussprach, versetzte es sie in Panik. »Mein Gott ...«

Moth nickte.

»Also was? Gibt es einen Plan?«, fragte sie. Vielleicht haben wir Glück, und er ist gerade nicht auf Key West, und widersprach sich im selben Moment: Vielleicht wäre das unser Pech.

»Ja«, antwortete er, als er sich wieder seinen Internetrecherchen zuwandte. Und schickte die Einschränkung hinterher: »So was in der Art.«