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Ein zweites Gespräch

Jeremy Hogan wusste, dass es einen zweiten Anruf geben würde.

Die Einschätzung beruhte weniger auf Erkenntnissen der Psychologie als einem Instinkt, den er entwickelt und verfeinert hatte, indem er sich in seiner jahrzehntelangen Beschäftigung mit dem Verbrechen für das Warum interessiert hatte, statt sich wie die Polizei mit dem Wer, Was, Wo und Wann herumzuschlagen. Falls dieser Mörder von mir besessen ist, gibt er sich höchstwahrscheinlich nicht mit einem einzigen Anruf zufrieden – es sei denn, er hat alles schon bis ins Letzte geplant, und mein letztes Stündchen steht kurz bevor.

Er zermarterte sich das Hirn und ließ die Mörder unterschiedlichster Couleur vor seinem inneren Auge Revue passieren. Es war eine Galerie aus Narben und Tattoos, jede Ethnie war vertreten – neben Weißen, Schwarzen, Hispanos und Asiaten sogar ein Samoaner –, von blassen Jünglingen mit hochgezogenen Schultern, die Stimmen hörten, bis hin zu grauhaarigen Veteranen, die so kaltblütig zu Werk gingen, dass der Begriff »erbarmungslos« eine Untertreibung war. Ihm kamen Männer in den Sinn, die sich unter Heulkrämpfen wanden, wenn sie ihm gestanden, wieso sie getötet hatten; andere dagegen, die lauthals lachten, als wäre der Tod ein Witz. Er erinnerte sich an so emotionslos geschilderte Tathergänge, als ginge es um das Wegwerfen von Müll auf dem Gehsteig oder das Überqueren einer Kreuzung bei Rot. Er sah es wieder vor sich – das grelle Licht, die im Zementboden verbolzten grauen Stahlmöbel, die mehrfach verriegelte Tür. Er sah Männer, die beim Gedanken an die eigene Hinrichtung grinsten, und andere, die vor Wut die Beherrschung verloren oder aus Angst am ganzen Leibe zitterten. Manche hatten ihn mit dem unverhohlenen Wunsch angestarrt, ihn bei der Gurgel zu packen und zuzudrücken, während andere eine tröstliche Umarmung brauchten, ein Schulterklopfen oder ein freundliches Wort. Wie Gespenster zogen die Gesichter an ihm vorüber, doch die meisten waren unwiederbringlich verblasst.

Sie waren nicht wichtig.

Wichtig war, was ich über sie gesagt oder geschrieben habe.

Wie ein Asthmatiker schnappte er röchelnd nach Luft.

In der zweiten Person rügte er sich: Sobald du dein Gutachten fertig und deinen Bericht abgeliefert hattest, hast du sie aus dem Gedächtnis gestrichen.

Es ist falsch gewesen, das zu tun.

Einer von ihnen kommt zurück, und diesmal ohne Handschellen, ohne Zwangsjacke, ohne eine Injektion Lorazepam oder Haroperidol, um seine Psychose einzudämmen. Diesmal steht auch kein Muskelpaket von Wärter mit Schlagstock an der Tür, und kein Wachpersonal sitzt im Zimmer nebenan und beobachtet auf dem Monitor jede Regung des Delinquenten. Und im ganzen Haus gibt es keinen roten Alarmknopf unter der Tischplatte, der dich vor dem Schlimmsten bewahrt.

Folglich gibt es zwei Möglichkeiten: Er hat alle Vorkehrungen getroffen, um dich zur Strecke zu bringen, und zwar recht bald, denn dieser erste Anruf war der Auslöseimpuls, den er braucht, um die Sache zu Ende zu bringen. Oder aber er hat das Bedürfnis, dich zappeln zu lassen und die Qual in die Länge zu ziehen, er will deine Verunsicherung, deine Angst auskosten, die Macht, die er über dich hat, in vollen Zügen genießen, um dich erst zu töten, wenn er mit seinem Katz-und-Maus-Spiel den letzten Tropfen Angstschweiß aus dir herausgequetscht hat.

Er wird alles tun, um deinen Tod als einen bedeutungsvollen Akt zu überhöhen.

Für diese messerscharfe, wenn auch naheliegende Analyse hatte er mehrere Tage gebraucht. Doch nachdem sich die Angst ein wenig gelegt hatte und er wieder klar denken konnte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, und er begriff in Sekundenschnelle, dass in diesem Fall nur eine der beiden Möglichkeiten in Frage kam.

Du kannst nicht weglaufen. Du kannst dich nicht verstecken. Das sind alberne Klischees. Du hast keine Ahnung, wie man sich in Luft auflöst, um einem Mörder zu entkommen. Das ist der Stoff, aus dem reißerische Krimis gemacht sind.

Aber du kannst auch nicht dasitzen und warten. Das war noch nie deine Stärke.

Dann hilf ihm, deine Ermordung zu genießen. Zieh es in die Länge und versuche ihn dabei aus der Reserve zu locken.

Das ist deine einzige Chance.

Natürlich hatte er sich noch keine Gedanken darüber gemacht, wie er die erkaufte Zeit am besten nutzen konnte.

Ein paar Schritte war er jedoch in seinen Überlegungen weitergekommen. Bescheidene Schritte, von denen er keineswegs sagen konnte, ob und wieweit sie ihn für den zweiten Anruf wappneten. Immerhin gaben sie ihm das Gefühl, etwas zu tun, statt schicksalsergeben herumzusitzen, während ein anderer seinen Tod plante. Er fuhr los und besorgte sich in einem nahe gelegenen Elektronikgeschäft eine Vorrichtung für sein Telefon, mit der er Gespräche mitschneiden konnte. Von einer zweiten Einkaufsfahrt brachte er mehrere linierte Notizblöcke mit sowie eine Schachtel Bleistifte, Härtegrad 2. Er würde die Anrufe aufnehmen. Er würde sich Notizen machen.

Bei dem Aufnahmegerät handelte es sich um eine Art selbstklebenden Saugnapf, der bei einem Telefonat beide Stimmen abfing. Diese Variante hatte einen einfachen Vorzug: Im Unterschied zu rechtmäßigen Mitschnitten verriet sich das Ding nicht durch den sattsam bekannten Piep.

Ob ihm eine Aufnahme weiterhelfen würde, konnte er nicht sagen. In Anbetracht der Tatsache, dass er über keine anderen Mittel zu seinem Schutz verfügte, erschien es ihm einfach naheliegend. Vielleicht wird er leichtsinnig und spricht eine unverhohlene, direkte Morddrohung aus, und ich kann damit zur Polizei gehen 

Jeremy bezweifelte, dass der Mann ihm den Gefallen täte. Er unterstellte dem Mörder, dass er zu klug war, um einen solchen Fehler zu begehen. Und selbst wenn … was kann die Polizei schon tun? Einen Streifenwagen vor dem Haus postieren? Und für wie lange? Dazu raten, eine Waffe und einen Pitbull anzuschaffen?

Worauf er sich verlassen konnte, war seine Fähigkeit, einer Zielperson möglichst viele Informationen zu entlocken. Diese Gabe war ihm in die Wiege gelegt. Andererseits hielt er sich vor Augen, dass seine früheren Befragungen immer nach dem Verbrechen und der Verhaftung des Tatverdächtigen stattgefunden hatten.

Begangene Straftaten verstand er. Doch hier ging es um einen Mord im Planungsstadium.

Irgendwelche Vorhersagen? Unmöglich.

Und wenn schon. Als er an dem kleinen Schreibtisch in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock saß und sich für den unausweichlichen zweiten Anruf eine Reihe von Fragen ausdachte, half ihm die Arbeit dabei, sich weniger ausgeliefert zu fühlen, und verschaffte ihm zumindest die Illusion, ein wenig Kontrolle zurückzugewinnen. Es war ein mühsames, zeitraubendes Geschäft, angefangen mit einem mehr als rudimentären Psychogramm. Ein paar Fragen sollten klären, ob der Anrufer zeit-, orts- und situationsorientiert war, um Schizophrenie oder mörderische Befehlshalluzinationen auszuschließen. Zwar wusste er schon, dass die Antwort nein lautete, doch der Wissenschaftler in ihm verlangte nach dem Ausschlussverfahren.

Versuche, so viele Geisteskrankheiten wie möglich abzuhaken.

Was seine Vorbereitungen vor allem in die Länge zog, war die Erkenntnis, dass er damit psychologisches Neuland betrat.

Die Methoden der Gefahreneinschätzung gehörten zum Arsenal der sozialen Dienste, die beispielsweise bedrohten Ehefrauen damit helfen wollten, sich besser vor ihren gewalttätigen Männern zu schützen. Entscheidend war dabei der situative Kontext, doch im vorliegenden Fall kannte er nur die eine Hälfte der Gleichung: meine. Worüber er etwas in Erfahrung bringen musste, war: seine.

Jeremy Hogan saß im schummrigen, letzten Abendlicht an seinem Schreibtisch, auf dem sich Papiere, akademische Studien, Fachzeitschriften und Lehrbücher häuften, die er seit Jahren nicht aufgeschlagen hatte, dazu eine Reihe Computerausdrucke mehrerer Websites, die sich mit dem Thema der Risikoeinschätzung befassten.

Inzwischen war es Nacht. Eine Schreibtischlampe und sein Computerbildschirm waren die einzigen Lichtquellen im Raum. Er warf einen Blick aus dem Fenster und starrte in die tintenschwarze Abgeschiedenheit. Er erinnerte sich nicht, ob er in der Küche oder im Wohnzimmer das Licht ausgemacht hatte, bevor er nach oben ging.

Ich bin ein alter Mann geworden, dachte er. Der zähe, graue Nebel des Älterwerdens weicht dem nächtlichen Dunkel.

Ein weitaus poetischeres Bild, als es seinem nüchternen Temperament entsprach.

Jeremy wandte sich wieder seinen Nachforschungen zu. Auf einem seiner linierten Blöcke notierte er:

 

Erscheinungsbild

Einstellung

Verhalten

Gemütszustand

Sprachduktus

Denkweise

Denkinhalte

Wahrnehmung

Kognition

Einsicht

Urteilsvermögen

 

Unter normalen Umständen würde er versuchen, sich der Persönlichkeit eines Delinquenten mit Hilfe dieses Rasters anzunähern, bevor er ein Profil erstellte. Das Profil eines Angeklagten, korrigierte er sich. In diesem Fall bin allerdings ich derjenige, der unter Anklage steht.

Und so strich er die meisten seiner Kriterien aus seiner Liste. Das Erscheinungsbild konnte er nicht am Telefon bestimmen; dazu musste er den Anrufer leibhaftig vor sich sehen. Folglich beschränkten sich die Möglichkeiten seiner Analyse auf die wenigen Merkmale, die er dem Sprachduktus, der Wortwahl und der Art und Weise entnehmen konnte, wie der Anrufer seine Botschaft übermittelte.

Die Sprache ist das Schlüsselelement. Jedes Wort muss dir etwas sagen.

Und danach seziere seine Art zu denken. Wie ist der Entschluss, mich umzubringen, entstanden, woher rührt die Antriebskraft, und wie rechtfertigt er meine Ermordung?

Achte auf die kleinsten Signale, die dir verraten, was ihm ein Mord bedeutet. Wann lacht er? Wann senkt er die Stimme? Wann redet er schneller?

Er stellte sich seine Vorgehensweise wie ein Dreieck vor. Wenn Sprechweise und Denken zwei Seiten bildeten, worin bestand dann die dritte Seite? Wenn er darauf eine Antwort fand, hatte er eine Chance. Wenn du erst einmal weißt, was er ist, besteht die Chance, herauszubekommen, wer er ist.

Das hier ist ein Spiel, sagte sich Jeremy Hogan. Sieh verdammt noch mal zu, dass du es gewinnst.

Er wippte auf seinem Schreibtischstuhl, spielte mit dem Bleistift, während er auf seine Notizen starrte, schärfte sich ein, den Wissenschaftler wie den Künstler in ihm zum Zuge kommen zu lassen, und stellte fest, dass er bei Lichte betrachtet nicht wirklich verängstigt war.

Es war eine Herausforderung, und er war bereit, sich ihr zu stellen.

Unwillkürlich verzog er das Gesicht zu einem Schmunzeln.

Na schön. Du hast den ersten Zug gemacht, Mister Wer-ist-schuld. Ein kurzer, rätselhafter Anruf, und wie ein dämlicher Anfänger habe ich panisch reagiert. Weißer Bauer auf e4. Die spanische Partie. Wahrscheinlich die stärkste Spieleröffnung, die es gibt.

Aber ich bin auch nicht schlecht.

Gegenzug mit: schwarzer Bauer auf c5. Sizilianische Verteidigung.

Und ich schiebe keine Panik mehr.

Selbst wenn es dir mit meinem Tod blutiger Ernst ist.

 

Als das Telefon tatsächlich klingelte, riss es ihn aus den Nebelschwaden zwischen Tiefschlaf und unruhigen Träumen, und er brauchte ein paar Sekunden, um aus der verschwommenen Unterwelt in die Realität aufzutauchen. Das beharrliche Klingeln in der nächtlichen Stille passte besser zu einem Alptraum als zum Wachzustand.

Während er die Beine über die Bettkante schwang, holte Jeremy mehrmals tief Luft.

Er fröstelte, was nicht an der Raumtemperatur liegen konnte.

Reiß dich zusammen!, schrie er sich innerlich an. Leichter gesagt als getan, räumte er ein, aber überlebensnotwendig. Mit einer Hand griff er zum Telefon, mit der anderen drückte er die Aufnahmetaste.

Auf dem Display stand: unbekannte Nummer. Er warf einen Blick auf die Nachttischuhr. Kurz nach fünf.

Clever, dachte er. Natürlich hat sich der Kerl stundenlang mental auf den Anruf vorbereitet, während er mich aus dem Bett holt und überrumpelt.

Noch ein tiefer Atemzug. Gib dich schlaftrunken, noch nicht ganz da. Aber sei hellwach und geistesgegenwärtig.

Er räusperte sich ein paarmal, bevor er etwas sagte, und redete mit schwerer Zunge. Er wollte gebrechlich und unsicher klingen. Zittrig vor Angst. Doch seine Wortwahl sollte sich nicht von der unterscheiden, mit der er sich in früheren Jahren als Arzt gemeldet hatte, wenn er wegen eines Notfalls einen nächtlichen Anruf bekam. »Ja, Dr. Hogan am Apparat. Wer spricht da bitte?«

Kurzes Schweigen.

»Wer ist schuld, Doktor?«

Jeremy bekam eine Gänsehaut. Er brauchte ein paar Sekunden, bis er sich gefasst hatte. »Ich weiß, dass Sie glauben, ich sei schuld, woran auch immer. Am besten lege ich einfach auf. Wer sind Sie?«

Verächtliches Schnauben. Als sei die Frage eine Beleidigung. »Sie wissen doch bereits, wer ich bin. Beantwortet das Ihre Frage?«

»Nein, offen gesagt nicht. Ich verstehe nicht, was das Ganze soll. Ich verstehe rein gar nichts. Mir ist absolut schleierhaft, wieso Sie mich umbringen wollen. Seit wann ...«

Der andere fiel ihm ins Wort.

»Ich denke schon seit Jahren an Sie, Doktor, seit etlichen Jahren«, fuhr ihm der Anrufer dazwischen.

»Und wie viele Jahre wären das bitte schön?«

Verdammt! Für die plumpe Frage hätte er sich ohrfeigen können. Frag ihn doch gleich, wie er heißt und wo er wohnt! Sprechen Sie Ihren Namen und Ihre Nummer deutlich auf Band, ich rufe so schnell wie möglich zurück. Zugleich horchte er angestrengt auf die Stimme am anderen Ende der Leitung. Sie klang schroff – wie aus einer beängstigenden Erinnerung herausgeschnitten und mit einem stumpfen, rostigen Messer angespitzt. Wahrscheinlich hat der Bursche eine stimmverzerrende Vorrichtung installiert; Akzent, Satzmelodie und Tonfall können wir damit streichen.

»Wenn ich für ein Unrecht sterben soll, das ich mutmaßlich begangen habe ...«

Er wechselte in einen Tonfall zwischen Empörung und Dozieren und sog begierig jede Antwort auf seine Fragen auf.

»Mutmaßlich – ein großes Wort gelassen ausgesprochen … Klingt nach Anwaltsjargon ...«

Jeremy setzte den Stift auf den Notizblock.

Gebildet.

Doppelt unterstrichen.

Und eine zweite Bemerkung:

Keine Knasterfahrung. Nicht auf der Straße aufgewachsen.

Er ging aufs Ganze. »Demnach sind Sie entweder ein ehemaliger Student oder ein ehemaliger Patient von mir. Was habe ich Ihnen angetan? Hab ich Sie durchfallen lassen? Oder ist es ein Gerichtsgutachten, und Sie geben mir die Schuld dafür, dass Sie in die Geschlossene eingewiesen wurden?«

Komm schon. Sag etwas, das mir weiterhilft.

Der Anrufer dachte nicht daran.

»Ist das Ihr Ernst, Doktor? Außer diesen beiden Personenkreisen fällt Ihnen niemand ein, der einen Groll gegen Sie hegen könnte?«

Der Anrufer lachte.

»Offenbar sind Sie davon überzeugt, ein vorbildliches Leben geführt zu haben. Ein Leben ohne Makel. Ritter ohne Fehl und Tadel.«

Der Anrufer ließ ihm keine Zeit, etwas zu erwidern, sondern fügte im selben Atemzug hinzu: »Da bin ich anderer Meinung.«

»Wieso ich?«, platzte Jeremy heraus. »Und wieso bin ich der Letzte auf irgendeiner Liste?«

»Weil Sie nur eine von mehreren Größen in der Gleichung sind, die mein Leben zerstört hat.«

»Sie klingen gar nicht wie jemand, dessen Leben zerstört ist.«

»Weil ich es wieder instand gesetzt habe. Immer einen Tod nach dem anderen.«

»Der Tote in Miami soll Selbstmord begangen haben …«

»Mutmaßlich …«

»Aber Ihren Andeutungen nach irrt die Polizei.«

»Ein klares Ja.«

»Also Mord.«

»Messerscharf geschlossen.«

»Und wenn ich Ihnen nicht glaube? Sie klingen paranoid, Sie phantasieren sich das alles zusammen. Vielleicht bilden Sie sich nur ein, Sie hätten etwas mit diesem Todesfall zu tun. Ich denke, ich lege dann mal auf.«

»Wie Sie wollen, Doktor. Nicht besonders klug für jemanden, der sein Leben lang Informationen gesammelt hat. Aber egal – wenn Sie meinen, dass Sie sich dann besser fühlen …«

Jeremy legte nicht auf. Er fühlte sich ausmanövriert. Sein Blick fiel auf seine Liste psychologischer Persönlichkeitskriterien. Für die Katz, stellte er fest.

»Und meine Ermordung, der krönende Abschluss, wenn ich Sie recht verstehe?«

»Das haben Sie gesagt.«

Nicht paranoid, notierte Jeremy. Ein Psychopath?

Und er dachte: Anders als sämtliche Soziopathen, mit denen ich je zu tun gehabt habe – das heißt, soweit ich mich entsinne.

»Ich habe die Polizei gerufen. Die haben das ganze Haus ...«

»Doktor, wieso lügen Sie mich an? Und wenn Sie schon lügen, wieso lassen Sie sich nichts Besseres einfallen? Die Polizei ist hier und hört diesen Anruf mit. Sie verfolgen ihn zurück, in wenigen Sekunden sind Sie umstellt … Die bessere Version, geben Sie’s zu.«

Jeremy kam sich wie ein Idiot vor. Wie kann er das wissen? Beobachtet er mich? Die kalte Angst traf ihn wie ein Stromschlag. Er fuhr herum, als fürchtete er, der Anrufer stünde in seinem Rücken. Der ungerührte, ironische Ton des Mannes brachte ihn zur Vernunft, und er konzentrierte sich wieder auf das Gespräch.

»Vielleicht sollten Sie tatsächlich die Polizei einschalten. Zu Ihrer Sicherheit. Natürlich reine Illusion, aber wenn Sie nur fest daran glauben, gibt es Ihnen vielleicht ein gutes Gefühl. Was meinen Sie? Wie lange hält das Gefühl wohl vor?«

»Sie sind geduldig.«

»Wer es damit eilig hat, seine Schulden einzutreiben, lässt sich mit weniger abspeisen, als ihm zusteht, nicht wahr, Doktor?«

Keine Angst vor der Obrigkeit, notierte Jeremy. Dem sollte er weiter nachgehen, sagte ihm seine Intuition.

»Was die Polizei betrifft – wenn die Sie nun schnappen …«

Erneutes höhnisches Lachen. »Wohl kaum, Doktor. Sie unterschätzen mich. Das ist nicht ratsam.«

Nach kurzem Zögern notierte Jeremy: eingebildet. Für einen kurzen Moment schloss er die Augen und dachte angestrengt nach. Dann beschloss er, noch einen kühnen Vorstoß zu wagen, diesmal seinerseits mit spöttischem Unterton.

»Also, Mister Wer-ist-schuld, machen wir’s kurz: Wie viel Zeit bleibt mir noch?«

Schweigen.

»Der Name gefällt mir. Klingt gut und passt zu mir.«

»Wie lange?«

»Ein paar Tage. Wochen. Monate? Vielleicht, vielleicht auch nicht, wer weiß das schon so genau? Und gilt das nicht für uns alle?«

Dann ein kurzes Zögern, dasselbe trockene Lachen wie zuvor.

»Wer weiß, Doktor, vielleicht schleiche ich ja in diesem Augenblick irgendwo draußen um Ihr Haus herum?«