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Andy Candy fühlte sich, als seien sie beide unversehens in eine bizarre Parallelwelt geraten. Sie standen in der strahlend hellen Morgensonne, es war warm, und die Palmwedel tanzten anmutig im Takt einer milden Brise.

Und nun war es Mord, was sie miteinander verband.

Und Angst, dachte sie. Doch sie war außerstande, ihre Empfindungen zu einem Paket zu schnüren und sie Moth so präzise zu beschreiben, wie sie Moth am Abend zuvor das Gespräch mit dem Psychiater von der Westküste wiedergegeben hatte. Nachdem sie geendet hatte, kam sie sich wie eine Art Sachbearbeiterin für Tötungsangelegenheiten vor. Nach dem Telefonat hatte ihr der Kopf geraucht, und sie hatte versucht, die Flut der Eindrücke auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen: Du gehst auf eine Party in einem Studentenwohnheim, und es läuft auf den Tod hinaus. Du bekommst einen Anruf von deinem alten Highschool-Freund, und es läuft auf den Tod hinaus. Du fliegst nach New Jersey, um mit einem alten Psychiater zu sprechen, und es läuft auf den Tod hinaus.

Was kommt als Nächstes?

In ihrem Kopf vermengten sich die Ereignisse in einer Weise, dass sie den Boden unter den Füßen verlor und die Grenzen zwischen Fakten und Befürchtungen, zwischen dem, was gewesen war, und dem, was ihnen noch bevorstand, fließend waren.

Tote Affen in einem psychiatrischen Labor vor dreißig Jahren.

War das Fakt?

Namen von Toten auf einem Blatt Papier. Unfall, Unfall, Selbstmord.

Fakt?

Das Baby, das sie abgetrieben hatte.

Fakt?

Andy spähte zu Moth hinüber. Nein, dachte sie plötzlich. Es ist keine Parallelwelt. Es ist absurdes Theater, und wir warten beide verzweifelt auf Godot.

»Hast du Hunger, Andy?«, rief Moth.

Er stand an einer Theke und besorgte zwei Becher kubanischen Kaffee.

Sie waren zu einem Büfett-Restaurant auf der Calle Ocho, der Hauptverkehrsader durch Little Havana, gefahren und frönten einer ehrwürdigen Tradition von Miami: sich mit Kaffee, so stark, dass der Löffel darin stand, auf einen Schlag wach zu machen. Männer und Frauen, von Geschäftsleuten in Kostüm oder Anzug bis zu Mechanikern in ölverschmierten Overalls, saßen in einer Reihe nebeneinander und tranken zu süßem Gebäck das schäumende Elixier aus kleinen Tassen. Andy und Moth waren schon bei der zweiten Runde – genug Koffein für die nächsten Stunden.

»Nein, danke«, antwortete sie. Sie wartete, bis er sich zu ihr auf die kleine Steinbank setzte.

Moth fühlte sich nicht zum Ermittler berufen. Seine bescheidenen Kenntnisse der Polizeiarbeit verdankte er Fernsehkrimis, die von haarsträubend phantastischer Unglaubwürdigkeit bis zu nüchterner Wirklichkeitsnähe alles boten, was sich mit einer gehörigen Portion eingestreuter Banalitäten verbinden ließ. Er überlegte, wie er diesen Mangel beheben sollte, und dachte dabei wie der typische Student: Er müsste lesen. Kriminalromane und sinnvollerweise vielleicht auch Sachbücher über wahre Verbrechen. Er durchforstete das Internet nach wissenschaftlicher Literatur über DNA-Tests sowie Websites über Forensik nach Klassifizierungen von Mörderprofilen. Sie reichten von geistesgestörten Müttern, die ihre Kinder ertränkten, bis zu kaltblütigen Serienkillern.

Nichts von alledem schien von irgendwelcher Hilfe zu sein.

Alles, was er bisher unternommen hatte, war rückwärtsgewandt. Cops dagegen fangen bei kleinen Beobachtungen an, die Fragen aufwerfen, sie finden die Antworten, die ihnen ein klares Bild von einem Verbrechen liefern. Bei mir war der Ausgangspunkt eine feste Überzeugung, und jetzt bin ich an einem Punkt, an dem ich bei meinen Nachforschungen mehr statt weniger lose Enden in der Hand halte. Die Cops schließen eine Variable nach der anderen aus und gewinnen Klarheit. Meine fördern mehr Fragen als Antworten zutage und stiften nur Verwirrung.

Andy Candy sah, dass ihn etwas bedrückte.

»Moth«, sagte sie, als ihr eine Idee durch den Kopf schoss. »Wir sollten uns einen Film ansehen.«

»Was?«

»Na ja, vielleicht ist es auch nicht nötig, den Film zu sehen. Erinnerst du dich an den Text, den wir in Englisch in der zehnten Klasse bei Mrs. Collins durchgenommen haben?«

»Was?«

»Ja, der Lesestoff fürs Wintersemester. Ich weiß, dass ihr dasselbe gemacht habt, auch wenn wir nicht in derselben Klasse waren, weil sie jahrein, jahraus immer dasselbe durchgenommen hat.«

»Andy, was willst du …«

»Ich mein’s ernst, Moth.«

»Okay, aber worauf willst du …?«

Mit einer wegwerfenden Handbewegung unterbrach sie ihn erneut.

»Moth, komm schon, das Buch, das wir in dem Herbst …«

Moth hob seine kleine Tasse, sog das Kaffeearomaroma ein und lächelte.

»Der Graf von Monte Christo. Alexandre Dumas.«

»Richtig«, antwortete Andy mit einem schwachen Grinsen. »Und worum geht es in dem Roman?«

»Na ja, eine ganze Menge, aber vor allem um späte Rache.«

»Und dein Onkel?«

»Späte Rache.«

»Sieht ganz so aus.«

»Richtig, danach sieht’s aus.«

»Demnach wäre der nächste logische Schritt, bei der Medizinischen Fakultät den Namen von damals rauszukriegen – von dem fünften Studenten in dieser Gruppe Alpha. Und dann spüren wir den Kerl auf.«

»Edmond Dantès«, sagte Moth.

Andy Candy lächelte. »Genau«, sagte sie. »Sollte nicht allzu schwer sein. Die Institute führen Archive. Jedenfalls finden wir ihn. Mensch, Moth, wir könnten uns bei einer von diesen Websites Was ist aus Ihren Schulfreunden geworden? registrieren, und die würden uns die meiste Arbeit abnehmen. Ich weiß, wir schaffen das.«

»Ich dachte immer, die existieren nur, damit die Leute ihren alten Schwarm von der Highschool wiederfinden und erwachsenen Sex miteinander haben«, sagte Moth. »Aber du hast recht. Finden wir den Namen raus. Das ist ganz offensichtlich der nächste Schritt, und dann ...«

Andy Candy nickte und fügte hinzu:

»Dann müssen wir eine Entscheidung treffen.«

»Und die wäre?«, fragte Moth.

»Ob wir einen Schlussstrich ziehen oder ob es erst losgeht.«

Moth nippte an seinem Kaffee. »Mein Gefühl sagt mir, dass sich so schnell kein Cop hier in Miami an so was die Finger verbrennen will. Aber wer weiß? Ich mag mich täuschen. Ich packe das alles zusammen, mache ein Schleifchen drum und serviere es Susan Terry auf dem Silbertablett. Die wird ja wohl wissen, was sie damit macht ...«

»Nur dass ich seltsamerweise das Gefühl habe, sie winkt nur müde ab, wenn wir versuchen, es ihr zu erklären.«

Moth stieß ein trockenes Lachen aus.

Und Andy Candy fiel ein.

Die bittere Ironie, die Absurdität ihrer Situation traf sie wie ein Magentiefschlag, während der starke Kaffee ihnen ins Blut ging.

 

Sie hatte wir gesagt, aber ich gemeint. Andy Candy hatte ihren Ton bei Telefonaten mit Sekretariaten und Alumnibüros perfektioniert. Moth hörte ihr zu, wie sie wählte, wartete, auflegte, es wieder versuchte, Fragen stellte, nachhakte, flehentlich um Hilfe bat und den Gesprächspartner am anderen Ende schließlich um den Finger wickelte. Er beobachtete, wie ihre Miene von Lächeln zu Stirnrunzeln, von eindringlichem Bitten zu siegesbewusstem Grinsen wechselte. Die geborene Bühnendarstellerin – mit der Gabe, in kurzer Abfolge eine ganze Skala an Gefühlen präzise wiederzugeben.

Als sie den Namen hatte, sagte ihre siegesbewusste Miene: Kinderspiel. Doch während sie weitere Einzelheiten notierte, wechselte ihr Ausdruck. Es war nicht die alte Angst, die er in ihren Augen sah, und auch ihre wackelige Stimme musste einen anderen Grund haben. Irgendetwas, das sie am Telefon gehört hatte, machte sie betroffen.

Er hätte ihr gern den Arm um die Schulter gelegt, hielt sich jedoch zurück.

Sie trennte die Leitung. Einen Moment lang starrte sie auf ihre Notizen. »Ich habe den Namen«, sagte sie mit dünner Stimme. »Studiengruppe Alpha. Student Nr. 5. Hat sich mitten im dritten Jahr von der Uni beurlauben lassen. Ist nie zurückgekommen. Hat keinen Abschluss gemacht.«

»Ja. Das ist der Kerl. Und der Name?« Moth war sich bewusst, dass er übereifrig klang.

»Robert Callahan junior.«

Moth schnappte nach Luft. »Na bitte, geht doch. Jetzt wissen wir, nach wem wir suchen müssen ...«

Als er sah, wie Andy Candy den Kopf schüttelte, sprach er nicht weiter.

»Er ist tot«, sagte sie.