15

Andy Candy hatte eine unruhige Nacht mit aufwühlenden Träumen, von denen sie immer wieder schweißgebadet erwachte.

Während des Tages zerfraßen sie – außer in den Stunden, die sie mit Moth verbrachte – Zweifel und Selbstvorwürfe. Unversehens hatte sie sich auf etwas eingelassen, das möglicherweise richtig war, vielleicht aber auch ein kolossaler Fehler. Wie sollte sie sagen, was von beidem zutraf? Dabei machte es die Situation nicht gerade leichter, dass sie von Zeit zu Zeit, ohne äußeren Anlass, wie aus heiterem Himmel, eine große Wut erfasste und sie hilflos ein ums andere Mal durchlebte, was ihr bei dieser Collegeparty zugestoßen war. Jedes Mal versuchte sie in selbstquälerischer Pedanterie herauszufinden, in welchem Moment sie noch in der Lage gewesen wäre, das Ruder herumzuwerfen und die schrecklichen Folgen abzuwenden.

Manchmal drängte sich ihr der Gedanke auf: An jenem Abend bin ich gestorben.

 

Die Musik war viel zu laut. Ohrenbetäubend laut.

Stücke, die sie nicht kannte, Rap-Texte, die sie nicht verstand, über Zuhälter, Nutten und Knarren. Bässe, die einem bis ins Mark gingen, stampfende, hämmernde Rhythmen. Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten. Um sich Gehör zu verschaffen, musste sie dem anderen so laut ins Ohr brüllen, dass sie nach kurzer Zeit heiser war. In dem Studentenwohnheim herrschte ein solches Gedränge, dass man sich nur mühsam Schritt für Schritt bewegen konnte. Schon nach kurzer Zeit herrschte eine unerträgliche Hitze.

Schweiß, gelallte Worte, kreisende Gestalten, flackerndes Discolicht, rot glühende Lampen. Plastikbecher mit Bier oder Wein, die über den Köpfen weitergereicht wurden. Vor Zigaretten- und Marihuanarauch, in den sich die Körperausdünstungen mischten, bekam man kaum Luft. Gelegentliche Ruhe, brüllendes Gelächter und sogar vereinzelte schrille Schreie – ob Jubel oder Panik, war nicht auszumachen –, die sich für einen Moment gegen die gnadenlose Musik behaupteten. Dutzende Flaschen Schnaps machten die Runde und wurden wie Wasser heruntergekippt.

Auf der Suche nach dem Jungen, der sie eingeladen hatte, kämpfte sie sich zu einem kleineren Raum durch, um dem viel zu dichten Gedränge der Körper zu entkommen und tief durchzuatmen, während eine warnende Stimme ihr die ganze Zeit sagte: Nichts wie weg, ist nur eine Frage der Zeit, bis die Bullen kommen. Doch sie hatte nicht auf ihren eigenen Rat gehört. Auch in diesem Nebenzimmer herrschte drangvolle Enge, doch hier standen die Studenten an den Wänden, um in der Mitte eine kleine freie Fläche wie die Arena für einen Gladiatorenkampf frei zu lassen. Sie hatte den Hals gereckt, um zu sehen, was für ein Schauspiel alle so in Atem hielt, und im selben Moment ein wildes, ungezügeltes Stöhnen gehört, das wie bei einem Sportereignis in Hochrufen unterging.

In der Mitte saß ein muskulöser, vollständig nackter Junge auf einem Metallklappstuhl. Er hatte die Beine weit gespreizt. Sie erinnerte sich, dass er an einem Arm ein Tattoo trug – das allgegenwärtige Tribal-Armband, das bei Jungen beliebt war, denen jegliche Phantasie abging oder die so zugedröhnt waren, dass ihnen nichts Originelleres einfiel, wenn sie in ein Tätowierstudio stolperten. Einen Moment lang hatte sie auf dieses Tattoo gestarrt, bevor ihr Blick auf das erigierte Glied des Jungen fiel. Es war beachtlich, und er hielt es wie ein Schwert.

Vor ihm tanzte ein nacktes Mädchen.

Sie drehte und wendete sich in eindeutigen, erregenden Posen vor dem stöhnenden Jungen.

Andy Candy kannte das Mädchen nicht.

Was dem Jungen seine Muskeln, war dem Mädchen von vielleicht neunzehn, zwanzig Jahren die perfekte Modelfigur.

Flacher Bauch, große Brüste, lange Beine und eine dichte, dunkle Mähne, die sie im Takt zu den hämmernden Rhythmen schüttelte. In einer Hand hielt sie eine Flasche Scotch, aus der sie sich in Abständen ein paar Tropfen über die Brust goss, bevor sie sich die Finger ableckte und die Hüften nach vorne warf, als lade sie die Zuschauerrunde ein, ihr glatt rasiertes Geschlecht zu bewundern. Unter dem Grölen der Meute nahm sie erneut einen Schluck aus der Flasche und ging in einer anmutigen Bewegung, wie Andy Candy damals fand, vor dem Jungen auf die Knie. Sie senkte den Kopf und öffnete den Mund ein wenig, so dass ihr der Scotch zwischen den Lippen hervorquoll. Wieder stöhnte der Junge, der jetzt dem Mädchen seine Erektion entgegenstreckte. Um dem Publikum noch mehr einzuheizen, zeigte das Mädchen mit dem Finger auf sein Geschlecht und dann auf ihre Lippen, als stellte sie der Meute eine stumme Frage, die mit lauten Rufen beantwortet wurde: Ja! Mach schon! Besorg’s ihm! Jetzt trat ein dritter Student mit einer Videokamera dazu und umkreiste das Paar, als das Mädchen wie ein Star dem Mob zuwinkte und sich vorbeugte, um ihren Gespielen zu verschlingen. Einige Sekunden lang bewegte sich ihr Kopf rhythmisch auf und ab. Dann richtete sie sich auf und blickte in die Runde – etliche begeisterte Mädchen zwischen der überwältigenden Mehrheit der Jungen – und verbeugte sich unter tosendem Applaus. Eine Performancekünstlerin. In einer publikumswirksamen Geste verschränkte sie die Arme hinter dem Kopf, um ihre eigene Kraft zu unterstreichen, bevor sie eine schwungvolle Drehung vollführte und sich langsam auf dem Jungen niederließ.

In ihrem Gesicht spielte ein erregtes Lächeln, und sie gab lustvolle Laute von sich.

Die orgiastische Darbietung der jungen Frau und der Kussmund, den sie hinterherschickte, galten der Kamera und den Zuschauern im Raum. Mehr als mit dem muskulösen Jungen unter ihr trieb sie es mit dem Publikum.

Jeder Stoß, jedes Kreisen stachelte den Mob zu immer wilderem Gejohle an. Schließlich klatschten die Leute im Takt ihrer rhythmischen Bewegung.

Andy Candy wandte sich von der Show ab, bevor sie zu Ende war. Sie war nicht prüde, und dies war auch nicht die erste Party am College, die außer Kontrolle geriet; selbst Sexspektakel hatte sie schon gesehen, doch dies drohte in eine Hemmungslosigkeit auszuarten, die ihr Unbehagen bereitete. Vielleicht lag es daran, dass etwas Intimes so übertrieben theatralisch zur Schau gestellt wurde. Für einen Moment fragte sie sich, ob das drängende Glied und die glattrasierte Scham sich überhaupt mit Namen kannten.

Als sie sich gerade zum Gehen wandte, entdeckte sie den Jungen, der vorgegeben hatte, sie zu dieser Party einzuladen. Er kämpfte sich bis zu ihr durch und erhaschte über ihre Schulter hinweg einen Blick auf die Show im Nebenzimmer.

»Oha«, sagte er, »das geht ab«, und verzog das Gesicht zu einem breiten Grinsen.

Bis dahin hatte sie den Jungen eigentlich recht nett gefunden, zuvorkommend und höflich. Sogar sensibel. Als sie wegen einer Magenverstimmung das Seminar über Große Erwartungen verpasste, hatte er ihr seine Notizen zum Charles-Dickens-Kurs geliehen. Er kam aus einem reichen Vorstadtviertel. Sein Vater war ein staubtrockener Anwalt für Körperschaftsrecht und von seiner freigeistigen Mutter geschieden, die mit ihrer neuen Familie auf eine Avocadofarm in Kalifornien gezogen war. Einmal hatte der Junge sie zum Essen ausgeführt, nicht etwa in eine Pizzeria, sondern in ein chinesisches Restaurant, in dem sie bei einem köstlichen Moo Shu über den Creative-Writing-Kurs geredet hatten, den sie beide im letzten Semester ihres Abschlussjahrs belegen wollten. Er gestand ihr seine Liebe zur Poesie. Als er sie zu Hause absetzte, gab er ihr ein Küsschen und fragte sie, ob sie vielleicht Lust hätte, am Wochenende mit ihm zu einer Party zu gehen. Über die näheren Einzelheiten schwieg er sich aus, doch soweit sie den Jungen bis dahin kannte, wirkte er vertrauenswürdig und harmlos.

»Ich möchte jetzt gehen«, hatte sie gesagt.

»Klar, kein Problem. Nichts wie raus hier. Scheint alles ein bisschen außer Kontrolle zu geraten. Aber du siehst aus, als könntest du vorher etwas Stärkeres vertragen.«

Sie nickte.

War das der Anfang vom Ende? Nein. Es war schon falsch gewesen, sich überhaupt zu dieser Party einladen zu lassen.

»Hier, nimm erst mal meinen. Ich besorg mir nachher einen neuen Drink. Braucht eine Weile, bis man sich zur Bar durchgekämpft hat.«

Meinen, hatte er gesagt. Aber es war nicht seiner. Dieser Drink war von Anfang an für mich und nur für mich bestimmt gewesen.

Er hatte ihr einen großen Plastikbecher mit Ginger-Ale und reichlich billigem Scotch auf Eis in die Hand gedrückt – wahrscheinlich dieselbe Marke, die das nackte Mädchen trank.

Dabei fand ich Scotch schon immer abscheulich. Wieso habe ich ihn genommen? Vertrauen.

Sie hatte die erste Regel für Collegepartys missachtet: Trink grundsätzlich nichts, das nicht vor deinen Augen geöffnet und eingeschenkt wird.

Durstig, wie sie war, hatte sie das Zeug in einem Zug heruntergekippt.

Diese Hitze. Ich hatte schrecklichen Durst. Ich hätte nicht so gierig trinken sollen. Hätte ich wenigstens nur einen kleinen Schluck genommen und ihm den Rest zurückgegeben.

Der Junge hatte gelächelt.

Der Vergewaltiger. Wie sieht ein Vergewaltiger aus? Wieso tragen sie nicht ein besonderes Hemd oder irgendein anderes Erkennungszeichen? Wie wär’s mit einem scharlachroten V? Oder mit einer auffälligen Narbe, meinetwegen auch einer Tätowierung – irgendeiner Warnung vor dem, was mir bevorstand, sobald ich bewusstlos war.

»Also«, sagte er. »Fürs Erste gestärkt. Du siehst ein bisschen blass aus. Komm, deine Jacke liegt oben in meinem Zimmer. Lass uns hochgehen und dann von hier verschwinden, vielleicht irgendwohin auf einen Kaffee.«

Kaffee? Kaffee hatte er in dieser Nacht von Anfang an nicht eingeplant.

Nach einigen Minuten hatten sie sich durch die schwitzende Menge gewühlt, und als sie die Treppe erreichten, wurde ihr zum ersten Mal flau. Die Musik kam ihr noch lauter vor, dröhnende E-Gitarren, hämmerndes Schlagzeug, wildes Kreischen.

»Hey, alles in Ordnung?«, fragte sie der nette Junge, der sie eingeladen hatte, auf der Treppe.

Fürsorglich, aber nicht überrascht. Das hätte mich stutzig machen sollen.

»Mir ist ein bisschen schwummrig«, sagte sie. »Fühl mich irgendwie seltsam. Muss wohl die Hitze und die schlechte Luft sein.«

Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon eine schwere Zunge, obwohl ich nicht betrunken war. Daran erinnere ich mich ganz genau.

Sie hatte sich am Geländer festgehalten.

»Du brauchst dringend frische Luft«, sagte er. »Komm, lass dir helfen.«

Nett, höflich, wie ein wahrer Gentleman. Er hat gesagt, er liebe Poesie. Er nahm sie am Arm, um ihr zu helfen, nur dass sie nicht nach draußen gingen, sondern nach oben in sein Zimmer. Sie lechzte nach frischer Luft.

Doch das musste warten. Jedenfalls für einige Zeit.

 

Ich hätte ihn hinter Gitter bringen sollen. Den Campus-Wachdienst informieren. Zur Polizei gehen, Anzeige erstatten. Mir einen Anwalt nehmen.

Und warum hast du es nicht getan?

Keine Ahnung. Ich wusste nicht weiter. Ich war überfordert. Völlig verwirrt. Ich hatte nicht mal klar erkannt, was mit mir passiert war.

Und so hast du ihn vom Haken gelassen.

Ja. Kann man wohl so sehen.

 

Umso besser konnte sie sich an den nächsten Morgen erinnern: Sie litt unter entsetzlicher, schwindelerregender Übelkeit, heftigem Erbrechen, bis die reine Galle kam. Und dann, nach etwas über einem Monat, das Ganze von vorne. Erbrechen ohne Ende.

Noch etwas sah sie so deutlich vor sich, als wäre es gestern gewesen: Die Schwester in der Klinik sagte die ganze Zeit »Liebchen« zu ihr, als sie ihr auf den Untersuchungsstuhl half. Die Instrumente waren aus Edelstahl, blitzten jedoch so heftig in dem gleißenden Licht an der Decke, dass sie das Bedürfnis hatte, die Hand über die Augen zu legen. Sie hatten sie beruhigt und ihr versichert, sie würde keine Schmerzen spüren, und sie dann in Narkose versetzt.

Das heißt, sie spürte keine physischen Schmerzen.

Die andere Art blieb.

Die Schuldgefühle brachten sie zum Weinen. Mit der Zeit wurde es besser, doch immer wieder traten ihr ohne irgendeinen Anlass die Tränen in die Augen. Die Grenzen zwischen Recht und Unrecht verschwammen und ballten sich tief in ihrem Innern zu einer unvorstellbaren Ladung zusammen, und obwohl sich die Anspannung nach und nach legte, würde sie der Konflikt noch lange begleiten. Gab es nicht irgendeine Abkürzung aus dem Wirrwarr der Gefühle, in dem sie sich verfangen hatte?

Ja, dachte Andy Candy. Vielleicht sollte ich einfach zur Uni fahren und den Burschen zur Strecke bringen. Vielleicht hilft mir Moth dabei, wenn er erst einmal den Kerl getötet hat, hinter dem er her ist.

Und der Gerechtigkeit wäre Genüge getan.

 

Moth wartete draußen vor seiner Wohnung auf sie. Er wirkte unsicher, als versuchte er, sich über etwas klarzuwerden und die richtigen Konsequenzen zu ziehen.

Als sie neben ihm anhielt, stieg er nicht sofort ein, sondern wartete, bis sie die Scheibe heruntergekurbelt hatte, und lehnte sich zu ihr herein. Sofort drang ein Schwall heiße Luft durchs Fenster.

»Hey«, sagte sie leise. »Wo soll’s heute hingehen?«

Er schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.« Dann fügte er hinzu: »Ich kann nicht mal sagen, ob ich überhaupt weiterkomme.«

 

Sie liefen Seite an Seite. Den Passanten mussten sie wie ein junges Paar erscheinen, das über eine wichtige Entscheidung diskutierte, die erste gemeinsame Wohnung oder der erste Besuch des einen bei den Eltern des anderen. Dabei hätte der flüchtige Beobachter übersehen, dass sie zwar dicht nebeneinanderliefen, sich jedoch nicht berührten.

Moth klang ratlos. Er wirkte bedrückt und pessimistisch. Nach der Energie, die sie beide in den ersten Tagen ihrer Nachforschungen beflügelt hatte, schien es, als wäre an diesem Morgen plötzlich die Luft raus.

»Komm, sag schon«, brach sie in einem sanften Ton das Schweigen, mit dem man eher einen Liebhaber zu trösten versuchte als einen Ex. »Was ist los?«

Mitten im strahlenden Sonnenschein von Miami sah Andy Candy Moth wie hinter einer dichten Nebelwand, unnahbar und verschlossen. Sie wollten in einen kleinen Park, um unter den Bäumen etwas Schatten zu finden. Auf einem nahe gelegenen Spielplatz tummelten sich die Kinder auf Schaukeln und Klettergerüsten. Sie waren laut und übermütig, und das ungetrübte Vergnügen der Kinder stand in umso schärferem Kontrast zu Moths entmutigter Miene.

»Ich stecke fest«, sagte er gedehnt.

Sie spürte, dass er noch mehr auf dem Herzen hatte, und so lief sie schweigend neben ihm her. Moth blieb stehen und trat gegen einen vertrockneten braunen Palmwedel, der auf dem Fußweg lag. Sie fanden eine kleine Bank und setzten sich hin.

Als er endlich den Mund aufmachte, klang es wie der gequälte Monolog eines jungen Professors bei seiner Antrittsvorlesung über ein Thema, an das er sich gerade erst herantastete.

»Wenn sich ein Historiker mit Mord befasst, geht es entweder darum, den politischen Kontext zu analysieren, klassisches Beispiel: der Mord von Sarajevo, der im Dominoeffekt den Ersten Weltkrieg ausgelöst hat. Oder um die gesellschaftlichen Implikationen, zum Beispiel, als Robert Ford Jesse James von hinten erschoss, während der Bandit gerade dabei war, in seinem Haus ein Bild aufzuhängen. In unserem Fach sehen wir uns eiskalt die Sachlage an und dekonstruieren sämtliche Faktoren, um die Hintergründe des Mordes zu verstehen. A Quadrat plus B Quadrat gleich C Quadrat. Eine Gleichung des Todes. Selbst wenn wir dazu elftausend Dokumente analysieren müssten. Aber der Tod von Onkel Ed – da müssen wir sozusagen rückwärts denken, ich weiß auch nicht, wie ich es ausdrücken soll. Ich sehe die Antwort – er ist tot –, aber nicht die Gleichung, die zu diesem Ergebnis führt. Und ich habe keine Ahnung, wo ich nach den dazugehörigen Faktoren suchen soll.«

»Doch, das wissen wir«, antwortete Andy Candy nachdenklich. Am liebsten hätte sie Moth bei der Hand genommen und sie gedrückt, doch sie unterließ es. »Die Faktoren liegen in der Vergangenheit.«

»Sicher. Leicht gesagt. Fragt sich nur, wo?«

»Was sagt dir die Logik?«

»Das ist es ja gerade, ich kann in dem Ganzen keine Logik erkennen. Andererseits wirkt alles, als hätte es jemand mit messerscharfer Logik geplant.«

»Komm schon, Moth.«

Er zögerte. »Ich weiß nicht, wo ich suchen soll und wie.«

»Das sehe ich anders«, erwiderte Andy Candy. »Wir suchen nach Hass. Grenzenlosem, völlig außer Kontrolle geratenem Hass. Einer Art Hass, die jahrelang weiterschwelt.« Wird mir das auch so gehen? Werde ich auch jahrelang einen solchen Hass ausbrüten?, fragte sie sich plötzlich.

»Außer Kontrolle geraten? Ich weiß nicht«, antwortete Moth. »Irgendwie schon, derjenige ist von seinem Hass getrieben, andererseits dazu fähig, seine Rache über viele Jahre aufzuschieben. Ich frage mich, wie das zusammengeht.« Er verstummte und lächelte schwach. »Fragen, Fragen, Fragen. Wäre ganz nett, zur Abwechslung einmal Antworten zu finden«, sagte er.

Sie erwiderte sein Lächeln und folgte seinem Blick über den Park zu den spielenden Kindern.

»Ich habe darüber nachgedacht, wann und warum ich trinke. Es sind immer Situationen wie jetzt gewesen. Solange ich einen Abgabetermin für ein Referat hatte oder eine Hausarbeit, was auch immer, ging es mir gut, egal unter welchem Stress ich stand. Erst wenn ich unsicher war, wenn ich nicht wusste, wie es weitergehen sollte, oder gezweifelt habe, ob das Ganze überhaupt Sinn macht, habe ich zu einem Drink gegriffen. Oder auch zehn. Oder mehr. Denn dann hörst du ziemlich schnell mit dem Zählen auf.«

Moth lachte, doch es klang eher hilflos als amüsiert. »Erst kommen die Zweifel, dann der Alkohol. Ziemlich einfache Gleichung, Andy, bei Lichte betrachtet. Onkel Ed hat mir mehr als einmal gesagt, es gäbe viele Dinge im Leben, mit denen die Leute nicht zurechtkämen, aber Ungewissheit wäre vielleicht das Schlimmste.«

Moth drehte sich zu Andy Candy um.

»Was ist mir dir?«, fragte er in eindringlichem Ton. »Bist du dir bei dieser Sache, die wir hier durchzuziehen versuchen, auch so unsicher wie ich?«

Sicherheit war für Andy Candy in diesem Moment ein Fremdwort, doch sie schüttelte den Kopf. »Du meinst, ob mir bei dem, was wir hier tun, Zweifel kommen?«

»Ja.«

Andy Candy war sich bewusst, dass ein Ja ebenso wie ein Nein gelogen wären. »Moth, derzeit gibt es in meinem Leben überhaupt gar nichts, worin ich mir sicher wäre, außer vielleicht, dass die Hunde meiner Mutter mich immer noch lieben. Und meine Mutter wahrscheinlich auch. Obwohl wir uns momentan eher aus dem Weg gehen. Und wenn mein Dad noch am Leben wäre, würde auch er mich noch lieben. Da stehe ich also. Und ich bin immer noch da.«

Moth nickte. »Und was nun?«

»Wo in aller Welt kann jemand einen solchen Hass auf einen anderen entwickeln?«

Bei ihren eigenen Worten kam ihr der Junge aus dem Studentenheim in den Sinn. Wieso habe ich sein Lächeln nicht durchschaut? An Moth gewandt, sagte sie: »Im College. An der Medizinischen Fakultät. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil wir in Eds späteren Lebensabschnitten niemanden finden konnten, der einen mörderischen Hass auf ihn hatte, außer vielleicht seine Ex, aber die scheint mir zu sehr von Gucci in Beschlag genommen, um sich die Zeit zu nehmen.«

Moth lachte. »Wo du recht hast, hast du recht.«

Er überlegte. »Adams House«, sagte er. »Adams House in Harvard, da hat er sein Erststudium abgeschlossen. In dem Studentenheim hatte er zwei Mitbewohner. Vielleicht rufen wir mal bei denen an. Aber beim Stichwort Medizinstudium kommt mir gerade ein Gedanke ...«

Für einen Moment versagte ihm die Stimme, dann hatte er sich wieder gefasst. »Wäre eine Überlegung wert«, sagte er. »Gib mir ein bisschen Zeit, ich glaube, ich hab da eine Idee.« Andy Candy sah ihn neugierig von der Seite an. Plötzlich saß er kerzengerade auf der Parkbank und schlug sich mit der rechten Faust in die linke Hand.