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Er hielt sich nicht für einen ausgesprochen grausamen Menschen, auch wenn es natürlich als Folge all dessen, was er vollbracht hatte, für die Kinder und anderen Angehörigen, vielleicht sogar die Freunde der Leute, die er getötet hatte, zunächst einmal hart war. Das lag auf der Hand, schließlich besaß er Mitgefühl. Aber so schlimm war’s nun auch wieder nicht. Beerdigungen mit Tränen, Trauerreden, feierlichem Schwarz. Das Leben musste weitergehen.

Bei dem Gedanken an Timothy Warner allerdings stieg ihm die kalte Wut hoch – er bekam Herzklopfen, ein rotes Gesicht, biss die Zähne zusammen, doch kurz vor dem Siedepunkt riss er sich jedes Mal zusammen.

Für wen hält sich dieser verdammte Grünschnabel, mich in eine solche Situation zu bringen? Ich hätte mit dem Töten abgeschlossen und endlich nach vorne schauen können.

Vollidiot! Wärst du nicht so neugierig, würdest du am Leben bleiben.

Vollidiot! Du reißt noch deine Freunde mit ins Verderben.

Vollidiot! Wärst du mir bloß nicht in die Quere gekommen!

Vollidiot! Mich zu jagen ist glatter Selbstmord.

Für Andrea Martine oder Susan Terry brachte er nicht denselben Hass auf. Das ließ sich nicht erzwingen. Was ihn nicht daran hindern sollte, sie zu töten. In einem spektakulären Coup.

Kollateralschaden nennt man so was beim Militär.

Die Sache brachte ihn auf Trab. In Eile besorgte er alles Nötige, plante so genau, wie es die Umstände gestatteten, die Dramaturgie. Was er sich für die Freundin, den Neffen und die Staatsanwältin überlegt hatte, war ausgefeilter als seine bisherigen Morde. Am Ende würde er ein Meisterwerk vollbringen, das beinahe mehr mit Kunst als mit Mord zu tun hatte, auch wenn wohl nur ein anderer Mörder seines Formats den Unterschied zu würdigen wüsste.

Wenn er in New York war, ging er manchmal in Late-Night-Shows oder wenig bekannte, schmuddelige Kunstgalerien im East Village und sah sich Performance-Künstler an, die versuchten, Theater und Malerei, Film und Skulptur zu einem Gesamtkunstwerk zu verschmelzen oder mit anderen experimentellen Mitteln eine einzigartige visuelle Erfahrung zu erzeugen. Sehr avantgardistisch, das musste man ihnen lassen. Einmal war er mit seinem Pick-up zum Massachusetts Museum of Contemporary Art gefahren und hatte sich, in verwaschenen Jeans, mit ungepflegtem Haar und erdverkrusteten Arbeitsstiefeln, angesehen, was innovative Künstler schufen.

Auf Key West ging er von Zeit zu Zeit zu einer der Transvestitenshows in der Duval Street, wo er bei einem Sunset Ale nicht nur den Varietégesang, die Broadway-Tanzeinlagen und exotischen Kostüme genoss, sondern auch die Fähigkeit dieser Leute, sich wie ein Chamäleon in einen völlig anderen Menschen zu verwandeln. Ob sie zu würdigen wüssten, was ich hier auf die Beine stelle?

Student Nr. 5 fuhr ein bisschen zu schnell, als er rings um Charlemont ein halbes Dutzend weit verstreute Baumärkte abklapperte, um überall dieselben Kanister und Flaschen zu kaufen. Jedes Mal in bar bezahlt. Als Nächstes würde er in einem Elektronikgeschäft einen altmodischen Kassettenrekorder besorgen. Danach standen auf seiner Liste Elektroschalter und Kabel, ein großer Standventilator, Sprühdosen, Geruchstilger, Bungee-Seile, Klettband und schließlich Angelschnur mit 30 Kilo Hubkraft – ein typischer Bedarf für jemanden, der hier draußen auf dem Lande lebte.

Student Nr. 5 war besorgt, dass er für seine Vorbereitungen nicht genügend Zeit einkalkuliert hatte, daher ging er, während er seine Liste abhakte, Unterhaltungen aus dem Weg und verkniff sich die üblichen Nettigkeiten. Mit der Baseballkappe tief in der Stirn und der Sonnenbrille mochte ihn ruhig eine Überwachungskamera filmen, doch ansonsten legte er größten Wert darauf, es mit der Vorsicht lieber zu übertreiben, als sich eine einzige Nachlässigkeit zu erlauben. Er konnte es sich nicht leisten, irgendein winziges Detail außer Acht zu lassen und den ganzen Plan zu gefährden.

In einem Outdoorshop erstand er einen gebrauchten Einerkajak. Das orangefarbene Boot passte bequem zusammen mit der übrigen Ausrüstung auf die Ladefläche seines Pick-ups. In einem Jagdgeschäft kaufte er sich das billigste Modell einer Schrotflinte, das er im Angebot fand, und musste schmunzelnd an Professor Hogan denken, der sich völlig umsonst ein Spitzengewehr zugelegt hatte.

Er buchte einen Flug. Er mietete einen Leihwagen – den kleinsten, den es gab, bei einer Firma, die mit dem Spruch warb: »Wir holen Sie ab.«; er versprach, den Wagen am Flughafen stehen zu lassen.

Wie lange wird es dauern, bis sie hier sind? Das war die eine Frage, die ihm zu schaffen machte.

Und die zweite Herausforderung: In meinem Wohnwagen muss ich ihnen als ein anderes Ich entgegentreten, und dieses Ich müssen sie als ihr Geheimnis in die ewigen Jagdgründe mitnehmen.

Die Antwort auf die Frage Wann? lautete Bald. Er hatte in Miami genügend Bröckchen ausgestreut, um sie nach Westmassachusetts zu lotsen. Ein Kinderspiel, den Führerschein, die Baseballkappe und die Telefonvorwahl zusammenzubringen. Seine Spur zielte darauf ab, Angst zu erzeugen, und zwar so, dass die Betroffenen nicht schreiend vor der Gefahr davonliefen, sondern ihr nicht widerstehen konnten.

Du zeigst jemandem eine Tür und bittest ihn herein. Simple Psychologie. Hypnotischer Zwang.

Er baute darauf, dass Timothy Warner, je näher er kam, der Versuchung erliegen und die Konfrontation suchen würde. Wiege dich in dem Glauben, du könntest mich zur Strecke bringen, und hinter dieser Tür fändest du die Antwort auf all deine Fragen. Halte immer schön an dem Irrsinn fest, du müsstest um jeden Preis da rein, und das Ziel sei zum Greifen nahe.

Ist es auch.

Nur etwas anders, als du denkst.

Ein einziges Element seines Plans war weniger berechenbar als der Rest. Sein Alter Ego stellte definitiv eine Herausforderung dar. Immerhin wusste er, wo er nach einem Doppelgänger zu suchen hatte.

 

Keiner von ihnen packte mehr als das Nötigste ein: eine Garnitur Unterwäsche, zwei, drei Paar Socken, eine Handfeuerwaffe.

Am internationalen Flughafen Miami kam Moth der seltsame Gedanke, dass er auf den Spuren seiner Zielperson wandelte. Vielleicht hatte er am selben Check-in-Schalter Schlange gestanden und auf die Frage, ob er etwas aufzugeben hätte, mit mehr oder weniger demselben Scherz geantwortet: Nein, nichts außer meiner Vernunft und meinem Verstand. Andy Candy hingegen bedrückte das Gefühl, weit mehr als eine Stadt zurückzulassen und mit jedem Schritt tiefer in ein undurchdringliches Dickicht zu geraten.

Susan Terry ging es, nachdem sie sich frisch gemacht und wieder Fasson angenommen hatte, praktisch an: Sie zückte ihre Dienstmarke, um zu erklären, wieso sie zwei Waffen in ihrem kleinen Reisekoffer hatte – Moths Magnum Kaliber .357 und ihre eigene Halbautomatik .25. Ungläubig hatte sie zur Kenntnis genommen, wie Moth seine Waffe aus New Jersey nach Miami eingeschleust hatte. Die Kleinigkeit, dass Susan suspendiert und ihre Dienstmarke somit nicht gültig war, behielt sie für sich, und zu ihrer Erleichterung flog sie auch bei der routinemäßigen Computersuche nicht auf.

Sie gingen an Bord und saßen schweigend nebeneinander. Moth fand es aufschlussreich, dass sie alle drei weder zum Reden noch zum Lesen oder zum Fernsehen auf den kleinen Monitoren an der Rückenlehne vor ihnen aufgelegt waren. Keiner von ihnen verspürte das Bedürfnis, sich von den Gedanken abzulenken, die ihnen im Kopf herumschwirrten.

Andy starrte den gesamten Flug hindurch aus dem kleinen Fenster in die Nacht, deren unergründliches Dunkel ihrer Gemütsverfassung entsprach. Gelegentlich griff sie neben sich nach Moths Hand, als wollte sie sich vergewissern, dass er noch an ihrer Seite war. Irgendwo auf halber Strecke wurde ihr klar, dass sie nicht die Nacht, sondern die Zweifel bedrohlich fand, die sie belagerten.

 

Mehr oder weniger zur gleichen Zeit hockte Student Nr. 5 auf einer kleinen Anhöhe mit Blick über den Parkplatz eines Schnellrestaurants. Am hinteren Ende des Platzes führte eine schmale Straße zu einem Supermarkt. Dort, wo sie die Hauptstraße kreuzte, befand sich eine kleine Verkehrsinsel mit einer Ampelanlage.

Die Insel zog die Gestrandeten der Gegend an, von Arbeits- und Obdachlosen bis zu Alkoholikern und Junkies, die handgeschriebene Pappschilder hochhielten: Ich kann zupacken. Jede noch so kleine Hilfe. Obdachlos und allein. Gott segne Sie.

An diesem Abend war nur ein einziger Mann auf dem Posten, der den vorbeifahrenden, mit Lebensmitteln beladenen Autos sein Pappschild entgegenreckte. Student Nr. 5 beobachtete ihn genau. Die meisten ignorierten ihn. Einige kurbelten die Scheibe herunter und reichten ihm ein paar Münzen oder auch einmal einen Dollarschein heraus.

In jeder Stadt in jedem Land rund um den Globus gibt es solche Verkehrsinseln, dachte er.

Student Nr. 5 wartete, bis der Fahrzeugstrom vom Supermarkt versiegte. Der Tag ging zur Neige, doch was er dem Mann vorschlagen wollte, erschien ihm immer noch plausibel. Er kehrte zu seinem Pick-up zurück. Auf dem Boden vor dem Beifahrersitz klemmten zwei Flaschen seitlich am Sitz – eine mit Scotch, eine mit Gin; außerdem ein Kasten mit dem billigsten Bier, das er hatte auftreiben können. Er fuhr zu dem Mann hinunter, der gerade sein Schild sinken ließ, als gäbe er für diesmal auf und überlegte, wo er ein warmes Plätzchen zum Schlafen finden würde.

Student Nr. 5 kurbelte die Scheibe herunter und sagte zu dem Mann: »Hey, Lust, dir fünfzig Dollar zu verdienen?«

»Und ob«, erwiderte der Obdachlose eifrig. »Was soll ich dafür machen?«

Die Arbeitswilligkeit des Mannes reichte vermutlich vom Rasenmähen bis zum Blowjob. Student Nr. 5 hatte bei jemandem, der bereits ein Opfer war – der Gesellschaft, seiner eigenen Sucht, psychischer Erkrankung oder auch einfach nur seines Schicksals –, mit solchem Enthusiasmus gerechnet. Seine Not machte ihn verwundbar.

»Hab Schnittholz auf meinen Truck zu laden. Ich bin schon den ganzen Tag damit zugange, aber meine Schultern wollen nicht mehr. Nur noch ein, zwei Ladungen, dann ist es geschafft. Du lädst auf und kriegst von mir die fünfzig. Okay?«

»Alles klar, Boss«, sagte der Mann. Er warf sein Schild weg, riss die Beifahrertür auf und sprang hinein. Student Nr. 5 sah, wie der Mann den Alkohol erspähte und große Augen machte.

Er blickte sich kurz um und stellte fest, dass sie alleine waren. An dieser Kreuzung gibt es keine Überwachungskameras. Weit und breit niemand zu sehen, der sich für die kleine Aktion interessieren könnte. »Hey, Lust auf ’n Bier oder auch zwei? Greif zu, solange der Vorrat reicht«, sagte Student Nr. 5 jovial.