23

An diesem Abend setzte sich Susan Terry in der Redeemer One bewusst neben Moth. Als sie an die Reihe kam, lehnte sie es ab, etwas zu sagen. Sie wies auf Moth, der zum Staunen aller ebenfalls den Kopf schüttelte, so dass der Ingenieur drankam und die Gelegenheit nutzte, um systematisch zu schildern, wie er in seinem Kampf gegen Oxycontin vorging.

Als die Sitzung zu Ende war, legte Susan Moth die Hand auf den Arm und hielt ihn für einen Moment auf seinem Stuhl fest.

»Ich werde erwartet«, sagte Moth.

»Eine Minute«, beharrte Susan.

Sie sah den anderen hinterher, die nach und nach den Raum verließen.

»Du hast hier ein paarmal gefehlt«, sagte Susan.

»Ich war beschäftigt.«

»Ich auch, aber ich war hier. Du bist zu beschäftigt, um herzukommen und über deine Sucht zu sprechen?«

Das war direkt, ganz ihr Stil.

»Ich war verreist.«

»Wohin?«

»Norden.«

»Der Norden ist groß. Haben die da Bars?«

Sie hoffte, ihm mit ein wenig Sarkasmus die Zunge zu lösen. Sarkasmus macht die meisten Menschen wütend, und wenn sie wütend sind, machen sie die Klappe auf. Die Lektion hatte sie schon in ihren ersten Tagen bei der Staatsanwaltschaft gelernt, und sie hoffte, dass der Trick auch bei Moth verfing.

»Anzunehmen. Hab keine von innen gesehen.«

Susan nickte. »Klar doch«, sagte sie gedehnt. Jede Befragung, selbst zwischen Tür und Angel, setzte darauf, den anderen an einer empfindlichen Stelle zu treffen. Mit Moths größter Schwäche kannte sie sich aus eigener Erfahrung bestens aus. »Und was hat dich dann in die Weite des Nordens geführt?«

»Ich war mit einem Mann verabredet, der meinen Onkel von früher kannte.«

»Was für einem Mann?«, hakte sie weiter nach.

»Einem pensionierten Professor für Psychiatrie, bei dem mein Onkel studiert hat.«

»Wieso gerade dieser?«

Moth antwortete nicht.

»Verstehe«, sagte Susan. »Du bist also immer noch davon überzeugt, dass irgendwo da draußen ein mysteriöser Meisterverbrecher herumläuft?« Sie stichelte weiter, um dem wortkargen Moth etwas Konkretes zu entlocken. Dabei schwankte sie in Bezug auf den toten Onkel zwischen Zweifeln und Gewissheit: Zweifeln, mit denen sie selbst sich erst seit wenigen Tagen herumschlug und die sie so schnell wie möglich zerstreuen wollte, während Moths unbeirrbare und für Susan äußerst irritierende Überzeugung eine Gewissheit war, der sie sich stellen musste, ob es ihr passte oder nicht.

Moth reagierte mit einem trockenen Lachen. »Ja«, sagte er. »Allerdings halte ich mich mit Charakterisierungen lieber zurück. Du glaubst also, da gibt es so eine Art Professor Moriarty, der Sherlock Holmes den Kampf angesagt hat? Und darauf läuft meine Suche hinaus? Aber was wird aus den beiden? Am Reichenbachfall? Wie auch immer, die Titulierung ›Meisterverbrecher‹ scheint mir in diesem Fall etwas vorschnell zu sein.«

Lügen mit Wahrheiten garniert. Und »vorschnell« empfand Moth als eine treffende Wortwahl.

»Timothy«, sagte Susan. Sie wechselte mit der Taktik den Ton – ebenfalls eine altbewährte Methode, auch wenn ihr allmählich Zweifel daran kamen, ob der Griff in die alte Trickkiste auf Moth Eindruck machte. »Ich versuche doch nur, dir zu helfen. Ich denke, das weißt du. Ich habe dich von Anfang an davor gewarnt, dich Hals über Kopf in ein Abenteuer zu stürzen, bei dem du die Gefahren nicht abschätzen kannst und das am Ende doch nur in eine Sackgasse führt. Und? Hast du da oben im Norden bei deinem Besuch dieses Mannes, den dein Onkel vor Jahrzehnten einmal kannte, irgendetwas herausgefunden?«

Moth wurde es zu viel.

»Ja«, sagte er, doch obwohl er mit gesenkter Stimme sprach, war die kurze Silbe von geballter Sprengkraft.

Einen Moment lang schwiegen sie beide. Susan Terry schüttelte ungläubig den Kopf.

»Und was, bitte schön?«, fragte sie im gebieterischen Ton der professionellen Anklagevertreterin.

»Dass ich richtiglag«, sagte Moth.

Im selben Moment stand er auf und eilte zum Ausgang, während sich bei der brüskierten Staatsanwältin, die er auf dem Sofa sitzen ließ, Wut und Neugier zu einer explosiven Mischung zusammenbrauten.

 

Unterdessen wartete Andy Candy im Wagen auf Moth und nutzte die Zeit mit einigen weiteren Telefonaten.

Als sich das Treffen dem Ende zuneigte, wählte Andy die Nummer eines Psychiaters in San Francisco. Er war der Dritte auf ihrer Liste der überlebenden Graduierten. Der Arzt führte offenbar eine Privatpraxis für Psychoanalyse und Psychotherapie. Auf der Rating-Liste im Internet gingen die Patientenmeinungen weit auseinander – die einen hoben ihn in den Himmel, die anderen hätten ihn am liebsten hinter Gittern gesehen oder zum Teufel geschickt. Andy vermutete, dass die meisten Seelenklempner eine solche Polarisierung schmeichelhaft fanden.

Sie war verblüfft, als sich der Arzt persönlich am Telefon meldete, und so geriet sie bei dem Sprüchlein zu Onkel Ed und dem Gedächtnisfonds, das sie längst auswendig kannte, ein wenig ins Stottern.

»Ein Gedächtnisfonds?«, fragte der Psychiater nach.

»Ja«, sagte sie.

Er überlegte. »Na ja, ich denke, ich kann einen kleinen Betrag beisteuern.«

»Das wäre wunderbar«, erwiderte sie.

Erneutes Schweigen. »Aber deswegen rufen Sie sicher nicht an«, sagte er ihr auf den Kopf zu.

Sie suchte fieberhaft nach einer Ausrede oder Erklärung, bevor sie einfach sagte: »Nein, nicht nur.«

»Warum sonst, wenn ich fragen darf?«

»Wir … ich … ehm, glaube nicht, dass Ed Selbstmord begangen hat. Wir gehen davon aus, dass es in seiner Vergangenheit, vor Jahrzehnten, einen Vorfall gab ...« Sie sprach den Satz nicht zu Ende.

»Einen Vorfall? Welcher Art?«

»Etwas, wodurch seine Vergangenheit seine Gegenwart überschattet hat«, antwortete Andy.

»Einfacher und präziser könnte man Psychiatrie nicht formulieren«, sagte der Seelenklempner mit einem entwaffnenden Lachen. »Und wo komme ich dabei ins Spiel?«

»Drittes Jahr an der Medizinischen Fakultät.«

Jetzt trat auf seiner Seite kurzes Schweigen ein.

»Das beste, schlimmste Jahr«, sagte er. »Wie heißt es so schön? Was dich nicht umbringt, macht dich stark. Wer so einen Blödsinn verzapft, hat nie in seinem Leben dreihundertfünfundsechzig Tage als Medizinstudent im dritten Jahr durchgemacht und mit Sicherheit keine Ahnung von Geisteskrankheit.«

»Erinnern Sie sich an Ed?«

»Ja, glaube schon. Ein bisschen. Der Junge war in Ordnung. Schlauer Kopf, scharfsinnig. Wenn ich mich recht entsinne, waren wir in ein, zwei Seminaren zusammen. Warten Sie, das ist richtig, wir hatten dieselbe Fachrichtung, mehr oder weniger dieselbe Berufsvorstellung. Aber darum geht es nicht, oder?«

»Nein.«

»Es ist eigentlich nicht meine Art, am Telefon über heikle Angelegenheiten zu reden.«

»Wir brauchen Hilfe«, platzte Andy heraus.

»Und wer ist ›wir‹?«, hakte der Arzt misstrauisch nach.

»Eds Neffe. Er ist mein Freund.«

»Verstehe. Ich weiß nur nicht, inwieweit ich Ihnen helfen kann.«

Andy Candy hatte den Eindruck, dass er weitersprechen würde, und schwieg. Sie hatte recht.

»Was wissen Sie über das dritte Jahr im Medizinstudium mit Schwerpunkt Psychiatrie?«, fragte der Arzt schnörkellos.

»Nicht viel. Ich meine, es ist das Jahr, in dem man sich für eine Richtung entscheiden ...«

»Ich unterbreche nur ungern«, sagte er abrupt. »Es ist ...« Er überlegte. »Es gab mal einen Film, der hieß Ein Jahr in der Hölle. Das beschreibt es treffend. So haben wir uns alle gefühlt.«

»Könnten Sie mir erklären, wieso?«, fragte Andy Candy in der Hoffnung, den Psychiater damit zum Reden zu animieren.

Kurze Pause, dann: »Zwei Dinge müssen Sie verstehen. Zunächst die Gesamtsituation. Das dritte Jahr. Dann das, was passiert ist – dieser Vorfall, den Sie erwähnten, auch wenn ich nicht sicher bin, ob ich darüber allzu viel weiß. Es gab Gerüchte, daran erinnere ich mich genau. Aber wir hatten alle keine Zeit, uns damit zu befassen. Wir waren bis unter die Halskrause mit Arbeit eingedeckt.«

»Verstehe.« Sie versuchte, seinen Redefluss in Gang zu halten.

»Jedem Medizinstudenten bereitet das dritte Jahr den größten Stress. Aber die Psychiatrie bedeutet eine besondere Art von Stress, weil sie von allen Fachrichtungen der Medizin die schillerndste ist. Sie haben es nicht mit Hautausschlag, mit Harnverhalten, mit Atemnot oder unerklärlichem Husten zu tun. Es geht vielmehr darum, ungewöhnliche Verhaltensweisen richtig zu deuten. Im dritten Jahr waren wir physisch erschöpft und selber nicht weit von der Psychose entfernt. Für viele der Krankheiten, die wir studierten, waren wir selber anfällig. Lähmende Depressionen. Zweifel. Schlafentzug und Halluzinationen. Wie gesagt, eine höllische Zeit. Die Anforderungen waren erbarmungslos und die Angst, durchzufallen, begründet.«

»Und …«

»Ich hab dieses Jahr zugleich gehasst und geliebt. Im Nachhinein erkennt man, dass dieses Jahr das Beste und das Schlimmste in einem hervorbringt. Eine Weichenstellung fürs Leben.«

»Haben Sie auch Vorlesungen bei Professor Jeremy Hogan besucht?«

Wieder zögerte der Psychiater, bevor er antwortete.

»Ja, seine Vorlesungsreihe über forensische Psychiatrie. Wir hatten einen tollen Spitznamen dafür. Killerlesung. Es war faszinierend, wenn auch nicht meine Richtung.«

»Ed Warner hat die Vorlesung auch gehört, und dann muss irgendetwas passiert sein, was Professor Hogan mit Ed und einigen anderen Studenten in Verbindung brachte ...« Sie las ihm die Namen der übrigen toten Psychiater vor.

Es dauerte einen Moment, bis sich der Arzt aus San Francisco wieder meldete. »Wenn mich meine Erinnerung nicht trügt – wie gesagt, das alles liegt Jahrzehnte zurück –, muss es sich bei diesen Leuten wohl um die Mitglieder der Studiengruppe Alpha handeln. Ich kann das aber nicht beschwören, verstehen Sie? Wie gesagt, es ist alles eine Ewigkeit her. Im dritten Jahr gab es in der Psychiatrie drei Studiengruppen, Alpha, Beta und Zeta – ein kleiner Witz auf Griechisch, erste, zweite, letzte. Je fünf von uns wurden nach dem Zufallsprinzip einer der Gruppen zugeordnet. Eine gewisse Rivalität war vorprogrammiert – jede Gruppe strebte nach der besten Gesamtnote, der besten Facharztausbildung am Match Day. Aber in der Alpha hatten sie ein Problem.«

»Ein Problem?«

»Einer der Studenten schien tief in einer Psychose zu stecken, zumindest machte das die Runde. Natürlich waren unter dem immensen Druck, den endlosen Seminaren und dem Lesepensum und der Angst vor einer Fehldiagnose in jeder Gruppe Leute am Rande ihrer Kräfte. Nervenzusammenbrüche waren nichts Ungewöhnliches ...«

Der Psychiater hielt inne.

»Sein Fall aber schon.«

 

 

Ein kurzes, aber gefährliches Gespräch, das tatsächlich stattfand:

 

»Dr. Hogan, tut mir leid, Sie zu stören …«

»Was gibt’s, Mister, ehm … Warner, richtig?«

»Ja, Sir. Ich komme im Auftrag der Kommilitonen in meiner Studiengruppe ...«

»Ich gebe gleich ein Seminar und habe nicht viel Zeit. Können Sie sofort zur Sache kommen?«

Ed Warner: atmet einmal tief durch. Sortiert schnell seine Gedanken. Scharrt mit den Füßen, verdrängt die Zweifel.

»Vier Mitglieder der Studiengruppe Alpha sind wegen bestimmter Verhaltensmuster des fünften Mitglieds alarmiert. Wir sind fest davon überzeugt, dass er eine ernste Gefahr darstellt, für sich selbst oder möglicherweise auch für uns.«

Jeremy Hogan: wippt nachdenklich auf seinem Stuhl. Tippt sich mit dem Bleistift an die Zähne. Das anstehende Seminar muss warten.

»Gefahr welcher Art?«

»Physische Gewalt.«

»Das ist eine schwere Anschuldigung, Mister Warner. Ich hoffe, Sie können mir gewichtige Gründe dafür nennen.«

»Ja, Sir, und dieser Schritt war für uns alle der letzte Ausweg.«

»Ihnen ist klar, dass eine solche Anschuldigung sich für Sie alle nachteilig auf Ihre berufliche Laufbahn auswirken kann?«

»Ja, das haben wir bedacht.«

»Und weshalb kommen Sie damit zu mir?«

»Weil Sie Experte für explosive Persönlichkeitsstörung sind.«

»Sie glauben also, Ihr Kommilitone sei möglicherweise kurz davor ... kurz vor was, Mister Warner?«

»Im Lauf der letzten Wochen ist das Verhalten dieses Kommilitonen immer unberechenbarer geworden, und ...«

»Die Examina rücken heran, viele Studenten sind gereizt.«

Ed Warner: wieder tief Luft geholt. Ein kurzer Blick auf die mehrseitigen Beobachtungen und Einschätzungen von jedem Mitglied der Gruppe.

»Letzte Woche hat er vor unser aller Augen eine Laborratte erdrosselt. Ohne eine emotionale Regung zu zeigen. Als wollte er demonstrieren, dass er ohne Reue töten kann. Er führt ständig Selbstgespräche, zusammenhangslos, meist unverständlich, aber häufig mit kaum verhohlenem Ärger, besonders in Bezug auf den Druck von Seiten seiner Familie und gegenüber uns. Er wirkt bedrohlich. Er behauptet, Waffen zu besitzen. Schusswaffen. Alle unsere Bemühungen, ihn einzubinden, die Situation zu entschärfen, unser Rat, psychologische Hilfe zu suchen, wurden zurückgewiesen. Manchmal ist sein Gesichtsausdruck fahrig und geistesabwesend, ohne erkennbaren Realitätsbezug – im einen Moment bricht er in unangemessenes Lachen aus und eine Sekunde später in Tränen. Letzte Woche hat er ein Skalpell aus einem OP-Saal entwendet und sich bei einem Gruppentreffen zur Vorbereitung für die Prüfungen vor uns allen das Wort Töten in den Unterarm geritzt. Ich bin mir nicht sicher, ob er in dem Moment eine Schmerzempfindung hatte oder sich seiner Handlungsweise bewusst war. Wenn jemand aus der Gruppe versucht, etwas richtigzustellen, auf eine Meinungsverschiedenheit hinzuweisen, oder auch nur eine andere Antwort auf eine Prüfungsfrage vorschlägt, ist damit zu rechnen, dass er demjenigen ins Gesicht brüllt oder ihn hasserfüllt anstarrt. Manchmal trägt er unsere Namen, das Datum und eine Beschreibung des Streits in ein Notizbuch ein – als würde er sich keine Notizen für die Seminare machen, sondern über uns. Ich denke, für eine Art Anklageschrift, um einen Akt der Gewalt vor sich selbst zu rechtfertigen ...«

Jeremy Hogan: Kopfnicken. Ein Blick aufrichtiger Sorge.

»Nein. Sie müssen Ihre Situation dem Dekan melden und ihn über alles unterrichten, was Sie mir gerade vorgetragen haben. Unverzüglich. Ich gebe Ihnen absolut recht. Ihr Kommilitone scheint in ernsten Schwierigkeiten zu stecken. Möglicherweise erfordert sein Zustand einen Anstaltsaufenthalt.«

Und dann der kurze Wortwechsel, der den Ball ins Rollen bringt:

»Können wir auf Ihre Hilfe hoffen?«

»Für ihn?«

Ed Warner: kämpft mit sich, entschließt sich zu einer aufrichtigen Antwort.

»Nein, uns.«

»Ich rufe sofort den Dekan an und sage ihm, Sie seien auf dem Weg zu seinem Büro. Er wird schlüssige Belege von Ihnen fordern. Sie haben recht, Mister Warner. Die Symptomatik, die Sie schildern, deutet auf bestimmte Formen einer gefährlichen Explosivität hin. Ich denke, hier muss schnellstens gehandelt werden.«

»Sollen wir den Campus-Wachdienst verständigen?«

»Noch nicht. Das überlassen Sie besser dem Dekan.«

Und Jeremy Hogan griff etwa mit derselben Bewegung zum Telefon auf seinem Schreibtisch wie dreißig Jahre später in den letzten Sekunden vor seinem Tod.

 

Andy Candy wartete, bis der Psychiater aus Kalifornien fortfuhr. Er holte tief Luft.

»Wir hatten einen Arzt an unserem Institut – arbeitete an einem Forschungsprojekt über frühkindliche Bindungsstörungen. Er arbeitete viel mit Rhesusaffen. Fördermittel vom National Institute of Health, nicht dass das wichtig wäre.«

»Affen?«

»Ja. Ideale Forschungsobjekte für psychologische Studien. Unterscheiden sich in ihrem Sozialverhalten nur wenig von Ihnen und mir, auch wenn das die meisten Kirchgänger hierzulande nicht gerne hören.«

»Aber was …«

Er unterbrach sie. »Nur so ein Gerücht, versteckte Anspielungen. Was damals im Einzelnen passiert ist, hat die Universitätsleitung sehr schnell unter den Teppich gekehrt; wollten schließlich im Ranking nicht heruntergestuft werden. Aber so eine Geschichte vergisst man nicht, auch wenn ich jahrelang nicht mehr dran gedacht habe. Hat mich ja auch keiner danach gefragt. Und Sie dürfen nie vergessen, dass keiner von uns die Zeit hatte, die Sache zu verdauen, geschweige denn ihr nachzugehen, egal wie skandalös sie war. Wir hatten andere Sorgen.«

»Verstehe«, erwiderte sie, auch wenn sie keine Ahnung hatte, worauf der Doktor mit seiner Geschichte hinauswollte.

»Eines schönen Morgens kommt unser Forscher in sein Labor. Sieht, dass die Tür aufgebrochen wurde. Findet fünf Affen wie in einer Kunstschwimmerformation im Kreis auf dem Boden. Mit aufgeschlitzter Kehle.«

Andy schnappte nach Luft.

»Aber was …«

»Tot. Und zwar abgeschlachtet

Der Psychiater brauchte einen Moment, um seinen Faden wieder aufzunehmen. »Und nun zu der Frage, ob dieser Vorfall irgendetwas mit den Problemen in der Studiengruppe Alpha zu tun hatte. Es wurde nie nachgewiesen, jedenfalls nicht dass ich wüsste. Und dieser Forscher war kein Engel; hatte einer Reihe von Leuten ans Bein gepinkelt, seine Assistenten mies behandelt, sie ständig angeschnauzt, sogar einige gefeuert und ihnen die Zukunft versaut. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, dass es ihm einer von denen heimzahlen wollte.«

»Aber Sie glauben nicht, dass es so war?«

»Ich wusste nie, was ich davon halten sollte, und ließ es – Sie erinnern sich, wir sind im gottverdammten dritten Jahr! – auf sich beruhen«, erzählte der Psychiater weiter. »Nur eines kam mir immer wieder in den Sinn.«

»Was denn?«, fragte Andy, obwohl sie die Antwort nicht hören wollte.

»Es war die Zahl. Fünf – fünf tote Affen. Die zwölf übrigen hatte der Einbrecher nicht angerührt. Wenn man eine gestörte Verhaltensweise unter die Lupe nimmt, besonders bei einem Gewaltakt, muss man Verbindungslinien ziehen. Wieso wurden nicht alle Affen getötet? Oder nur einer?«

Andy Candy versuchte, eine kurze Bemerkung einzuwerfen, doch sie brachte nur ein paar Krächzlaute heraus statt einer Frage. Das einzige verständliche Wort, das sie artikulieren konnte, war: »Und ...«

»Und das war’s auch schon. Aber ich bin nie das Gefühl losgeworden, dass dieser Vorfall im Labor etwas mit diesem psychotischen Studenten zu tun hatte. Vermutlich wegen des zeitlichen Zusammenhangs. Eine Vorladung. Ein Ausschluss. Die Rücklichter eines Krankenwagens auf dem Weg zu einer psychiatrischen Privatklinik. Tschüs, man sieht sich, und das war’s. Kein offensichtlicher Zusammenhang mit diesem Labor. Er hatte auch nicht bei dem Professor studiert, der das Projekt leitete. Aber wie wir alle wusste er natürlich davon, und er wusste, wie man rein- und rauskommt. Gut möglich, dass der Freudianer in mir eine Verbindung herstellt, wo ein Polizist keinerlei Zusammenhang sehen würde.«

»Wieso nicht?«

»Vier Leute haben bei diesem Treffen mit dem Dekan gegen ihn ausgesagt – die vier Mitglieder der Studiengruppe. Aber es waren fünf tote Affen – fünf, nicht vier … was meine Theorie über den Haufen wirft.«

»Was ist mit Professor Hogan?«

»Der war bei dem Treffen nicht mit von der Partie. Er hatte nur getan, was jedes andere Mitglied der Fakultät getan hätte – er hat beim Dekan angerufen. Alles Weitere war Sache der Alpha-Studenten. Daher kann ich eigentlich nicht erkennen, was er mit der Sache zu tun haben sollte.«

»Verstehe …«, sagte Andy Candy, wenn auch in einem anderen Sinn, als ihr Zeuge am Telefon hätte ahnen können.

»Ich kann nur nochmals betonen, dass es sich bei der ganzen Geschichte um Mutmaßungen handelt. Klingt ein bisschen zu stark nach Hollywood, wenn Sie mich fragen. Wir konnten vor Stress und Übermüdung kaum noch klar denken, und in einer solch überspannten Atmosphäre brodelt dann die Gerüchteküche wie beim Tratsch über Dates an der Junior Highschool. Aber diese toten Affen, die waren real.«

Andy Candy bekam einen trockenen Mund, und nur mühsam würgte sie ihre letzte Frage heraus: »Können Sie sich an den Namen dieses Studenten erinnern?«

Der Arzt musste überlegen. »Interessant. Man sollte annehmen, dass einem bei der Erinnerung an den Affenmord automatisch der Name wieder einfällt, aber … nein, Totalblockade. Spricht Bände, oder? Vielleicht kommt er mir wieder hoch, wenn ich eine Weile überlege, aber im Moment ... Fehlanzeige.«

Andy Candy schienen noch hundert Fragen auf der Zunge zu liegen, doch sie musste passen. Sie warf einen Blick aus dem Beifahrerfenster und sah, dass die ersten Leute aus der Kirche kamen. Erst jetzt bemerkte sie, wie feucht die Hand war, in der sie das Handy hielt.

»Tut mir leid, ich weiß nicht, ob ich Ihnen helfen konnte oder nicht«, sagte der Arzt in diesem Moment. »Das ist alles, woran ich mich erinnere – oder auch, woran ich mich erinnern will. Sie geben mir noch durch, wohin ich diese Spende zum Gedächtnisfonds überweisen soll.«

Der Psychiater legte auf.