ZWEITER TEIL
Wer ist die Katze und wer die Maus?
20
Moth log.
In gewisser Weise. Er entwickelte bei seinen Antworten eine Methode, eine Unwahrheit so geschickt mit Halbwahrheiten zu garnieren, dass sie glaubhaft klang. Zu seiner eigenen Überraschung ging ihm diese Mischung glatt über die Lippen. Wenn er bedachte, wie sehr seine Abstinenz von seiner rückhaltlosen Ehrlichkeit sich selbst und seinen Mitmenschen gegenüber abhing, war dieses Talent ein zweischneidiges Schwert.
Im Haus des toten Professors wimmelte es von Polizisten und Rettungssanitätern. Die Cops hatten Moth und Andy Candy in getrennte Zimmer gebracht, um sie einzeln zu befragen. Von dort aus konnte man den Leichnam des Psychiaters nicht mehr sehen.
»Also noch einmal«, sagte der Detective. »Was hat Sie hergeführt?«
»Vor kurzem ist mein Onkel gestorben – in Miami, Selbstmord«, antwortete Moth. »Wir haben uns sehr nahegestanden. Doktor Hogan war einer seiner wichtigsten Lehrer an der Medizinischen Fakultät. Ich versuche, diesen Entschluss meines Onkels irgendwie zu verstehen, und habe deshalb mit verschiedenen Leuten aus seinem früheren oder späteren Umfeld Kontakt aufgenommen. Mit dem Professor habe ich gestern telefoniert. Er hat mich zu sich eingeladen, um persönlich mit mir zu sprechen. In seinem Alter reiste er wohl nicht mehr gerne, und er sagte, ein solches Gespräch könne man schlecht am Telefon führen.«
»Hat er Ihnen gegenüber erwähnt, dass er irgendjemanden ...?«, begann der Detective, doch bevor er seine Frage aussprechen konnte, schnitt ihm Moth das Wort ab.
»Na ja«, fuhr er nachdenklich fort, »wir wollten über meinen toten Onkel sprechen – ich hatte das Gefühl, dass er mir helfen wollte, darüber hinwegzukommen. Schließlich war er ein bekannter Psychiater. Vielleicht war es auch reine Höflichkeit. Oder er war nur ein bisschen einsam, hier draußen so ganz alleine, und freute sich über jeden Besuch. Ich habe ihn nicht danach gefragt.« Nichts an der Haltung des Ordnungshüters, seiner Sprechweise oder Fragestellung hätte Moth auf die Idee gebracht, ihm sein Herz auszuschütten.
»Für eine einzige Unterhaltung haben Sie eine weite Reise auf sich genommen.«
»Mein Onkel war meine wichtigste Bezugsperson. Außerdem bekomme ich Studentenermäßigung.«
Auch Andy Candy übte sich in der Kunst des Lügens. Zwar hinterließen die Geschichten, die sie der Polizei auftischte, einen bitteren Nachgeschmack, doch die Herausforderung versetzte sie in einen hellwachen Zustand, den sie genoss.
»Und wo genau standen Sie, als Sie den Schuss hörten?« Die Ermittlerin, eine junge Frau, vielleicht gerade einmal fünf, sechs Jahre älter als Andy Candy, bemühte sich um einen knallharten Ton und versuchte, Andy Candy mit Stift und Notizblock so einzuschüchtern wie bei anderen Gelegenheiten vielleicht mit vorgehaltener Waffe.
Nach kurzem Zögern deutete Andy Candy auf die Stelle, an der sie gestanden hatte, als Doktor Hogan starb, dann ging sie hinüber, um ihrer Aussage Nachdruck zu verleihen. »Genau hier. Und als wir den Schuss hörten und rüberliefen, hier ...« Schließlich fuhr sie fort: »... dann bin ich in die Küche gegangen.« Sie holte tief Luft, als sich in ihrem Kopf der entsetzliche Vorfall wie auf einer Filmrolle noch einmal abspulte.
Der Schuss. Wie von ferne. So gedämpft, dass ihr erst allmählich dämmerte, was er zu bedeuten hatte. Ihre erste Reaktion: Was war das?
Das alles im Bruchteil einer Sekunde.
Dann der Blick nach oben. Die zersprungene Fensterscheibe.
Schließlich ein Anblick, der ihr schriller als irgendein Geräusch in den Ohren dröhnte. Wie der Hinterkopf des Psychiaters in einer Kaskade aus Blut und Gehirn explodierte.
Ein entsetzlicher dumpfer Laut, als der alte Professor unter der Wucht des Geschosses nach vorne kippte und gegen die Wand schlug. Zugleich fiel ihm das Telefon aus der Hand. Dann sackte der Tote lautlos zu Boden – zumindest hörte sie nichts, weil sie in diesem Moment einen schrillen, fast unmenschlichen Schrei ausstieß, in dem sich Schock und Panik entluden. Auch Moth brüllte vor Entsetzen, vielleicht nicht so laut wie sie.
Dabei ging alles so schnell, dass Andy Candy eine Weile brauchte, bis sie begriff, was geschehen war, und die zersplitterten Eindrücke verarbeiten konnte. Ihre Benommenheit nach dem Schuss war wie das langsame Erwachen aus einem Alptraum: Man denkt, Gott, war das ein mieser Traum, bis einem dämmert, dass er noch längst nicht zu Ende ist.
Moth befragte ein stämmiger Detective von etwa fünfundvierzig Jahren in einem schlecht sitzenden Anzug. »Und was genau haben Sie getan, nachdem Ihnen klar war, dass der Schuss den Professor tödlich getroffen hatte?«
Moth versuchte, seine Reaktionen zu rekonstruieren und zu entscheiden, welche heroischen Details er einfließen ließ und welche ängstlichen er lieber verschwieg. Zunächst hatte er einen Satz nach hinten gemacht, bevor er sich umdrehte, Andy packte und in einen sicheren Winkel neben der Haustür zog. Als der Psychiater auf dem Boden zusammensackte, hatte sich Moth neben Andy Candy gekauert und über sie gebeugt, als müsste er sie vor herumfliegenden Trümmerteilen schützen. Dann meldete sich die Vernunft zurück, er ließ die Freundin los und hastete in die Küche. Plötzlich war er in der Lage, sämtliche Aspekte eines gewaltsamen Todes zu sondieren. Allerdings kam er nicht auf den logischen Gedanken, dass er sich womöglich selber in die Schusslinie begab. Wie ein Frontsanitäter beugte er sich über das Opfer, zog jedoch die Hände zurück, als er sah, dass nichts mehr zu machen war. Hier konnte kein Druckverband mehr eine Blutung stillen. Auch jede Mund-zu-Mund-Beatmung kam zu spät. Um den zertrümmerten Kopf des Toten breitete sich bereits eine rote Lache über den Boden aus, in die sich Knochensplitter und weiche Fetzen Gehirnmasse mischten. Das blutverschmierte, verfilzte graue Haar am zerschmetterten Schädel hatte sich ihm als besonderer Schock ins Gedächtnis eingebrannt.
Dann entdeckte er das Waffenarsenal auf dem Esstisch. Mit einem trotzigen Schlachtruf sprang er hinüber, griff zum Gewehr, ohne zu prüfen, ob es geladen war – wozu er sich ohnehin außerstande sah, da er zum ersten Mal eine Schusswaffe in den Händen hielt –, zerrte an der Hintertür, mühte sich kostbare Sekunden lang mit dem Riegelschloss ab und rannte schließlich wie vom Teufel besessen nach draußen. Dort legte er das Gewehr an und schwenkte es, den Finger am Abzug, nach links und nach rechts, bis er feststellte, dass weit und breit kein Mensch zu sehen war. Trotz seiner Angst folgte er dem diffusen Instinkt, Andy Candy und sich selbst zu schützen. Er hielt den Atem an.
Einige Sekunden lang, die ihm wie eine Ewigkeit erschienen, stand er da und blickte in das letzte abendliche Dämmerlicht. Er wollte auf etwas oder auf jemanden schießen, doch vor seinen Augen erstreckte sich hinter dem Rasen nichts als schwarzer, undurchdringlicher Wald.
Also kehrte er ins Haus zurück.
»Alles in Ordnung«, sagte er zu Andy, auch wenn ihm die Logik dieser Behauptung selbst entging. Auch sein nächster Satz erschien ihm im Nachhinein äußerst spekulativ: »Der Kerl hat sich aus dem Staub gemacht.«
Andy Candy brannten die Tränen in den Augen, doch gleichzeitig erfasste sie eine bleierne Schwere. Nach ihrem Schrei hatte sie vor Entsetzen die Hand vor den Mund gelegt, und in dieser Haltung blieb sie reglos an der Schwelle zur Küche stehen, wo sie wie gebannt auf den Leichnam des Psychiaters starrte, obwohl sie den Anblick nicht ertrug. Sie hatte weiche Knie und konnte sich nur mit Mühe aufrecht halten.
»Haben wir …«, stammelte sie. »Wer, ich meine …« Sie verstummte.
Die Frage nach dem Wer erübrigte sich. Die zusammenhangslosen Worte brannten ihr in der trockenen Kehle.
Moth wirkte seinerseits kalt, als agierte er mechanisch. »Wir wissen, wer es war«, sprach er aus, was Andy dachte. Er legte das Gewehr auf den Tisch zurück. Andy brach der Schweiß aus, obwohl sie so fror, dass sie zitterte. »Moth, lass uns hier verschwinden«, sagte sie. »Bloß weg, sofort.«
Bloß weg war ihr einziger Gedanke. Sich verstecken.
Doch dann: Wo?
»Ich glaube, das geht nicht«, antwortete Moth.
Sie konnte nicht mehr klar denken und zwischen Falsch und Richtig unterscheiden. Ob Moth dazu noch fähig war, erschien ihr mehr als fraglich. Der einzige Gedanke, den sie fassen konnte, war die Sorge, dass jeden Moment ein anderes Fenster zersplitterte und die Kugeln eines Scharfschützen sie trafen oder Moth. Solange sie im Haus waren, wähnte sie sich in größter Lebensgefahr, und mit jedem Moment, den sie zögerten, gaben sie dem Killer Gelegenheit, nachzuladen, anzulegen und ihrem Leben ein Ende zu setzen.
Bei der Vorstellung taumelte Andy Candy zurück. Obwohl sie sich gerade noch an der Wand abstützen konnte, fürchtete sie, bewusstlos zu werden.
»Hilfe«, flüsterte sie.
Moth wollte zu ihr eilen und sie in die Arme schließen, während er ihr über das Haar strich und ihr gut zuredete. Seine Vorstellung davon, wie sich ein Held in einer solchen Lage benimmt, entsprach dem gängigen Hollywood-Ideal. Doch als er Andy zu Hilfe eilen wollte, fühlten sich seine Füße wie taub an, er stolperte und blieb in kurzem Abstand vor ihr stehen.
Er sah, wie Andy zu ihrem Handy griff. Notruf. Natürlich, dachte er.
Doch er sagte: »Warte eine Sekunde.« Das Bedürfnis, seine Freundin zu trösten, verflog, als der Killerinstinkt in ihm erwachte. Er kehrte zu dem Tisch mit den Waffen zurück und griff diesmal statt des Gewehrs nach dem Revolver und mit der anderen Hand nach sämtlichen Patronenschachteln für die Handfeuerwaffe.
»Ich schätze, die werden wir brauchen. Und den auch.« Dabei zeigte er auf den linierten Block mit den handschriftlichen Notizen des Psychiaters, der Andy Candy in der Tür auf der Schwelle zur Küche heruntergefallen war.
»Würde die Polizei …«, fing sie an, bevor sie begriff, was Moth ihr sagen wollte. Sie bückte sich nach dem Block und drückte ihn Moth in die Hand. In diesem Moment war ihr nur vage bewusst, dass sie gerade eine Grenze überschritten, vor der jeder Mensch, der bei klarem Verstand war, zurückgeschreckt hätte. In welche Gefahr sie sich dabei begaben, war ihr in diesem Moment nicht einmal ansatzweise bewusst.
»Also gut«, sagte Moth und klemmte sich den Schreibblock unter den Arm. »Jetzt kannst du deinen Anruf machen.«
Sie wählte. »Und was soll ich sagen?«
»Sag ihnen einfach, es sei ein Schuss gefallen. Aus einem Gewehr.«
Vor Anspannung zuckten ihr die Glieder. »Und was sagen wir, wenn sie hier sind?«
Der gesunde Menschenverstand hätte ihnen dringend geraten, alles, was sie wussten, auf den Tisch zu legen, auch wenn es nicht allzu viel war. Die Polizei kannte sich mit Tötungsdelikten aus, und so bot es sich ebenfalls an, ihre Spekulationen offen auszusprechen, die ein abendfüllendes Thema waren. Doch beiden ging derselbe Gedanke durch den Kopf: Es liegt alles allein in unserer Hand. Der Gedanke, sich irgendeinem Cop anzuvertrauen, erschien ihnen nicht nur dumm, sondern sogar gefährlich. Ihnen geisterte nicht nur dieser eine Mord im Kopf herum und trübte ihren Blick für rationale Entscheidungen. Moth war zu allem entschlossen. Er spürte das glühende Bedürfnis nach Rache.
»Ein Unfall?«, fragte er kalt.
Andy Candy kämpfte gegen das Gefühl an, sich auf einem Karussell des Todes zu drehen, das immer schneller kreiste, und so klammerte sie sich an den erstbesten Vorschlag, der ihr halbwegs einleuchtete.
»In Ordnung«, sagte sie. »Ein Unfall oder so, oder wir wissen es einfach nicht.«
Beiden war unbehaglich dabei, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Moth ertappte sich bei dem Gedanken: Das hier ist meine Sache, das ziehe ich alleine durch. Andy Candy folgte nur dem einen Instinkt: Du hast es angefangen, jetzt bring es auch zu Ende. Keiner von beiden durchschaute, wie töricht und naiv-romantisch ihre Vorstellungen waren.
»Sag ihnen einfach, was wir gehört und gesehen haben, und das war’s«, erklärte Moth. Er überlegte. Ihm war bewusst, dass er sich ein wenig wie ein Theaterregisseur benahm, der eine Schauspielerin anwies, was sie zu tun und zu lassen hatte. »Andy … Versuche nicht, cool zu sein.«
Sie wagte einen verstohlenen Blick auf die Leiche des Professors. Sofort stiegen ihr die Tränen in die Augen. Was für eine seltsame Aufforderung, dachte sie. Doch viel weiter kam sie mit ihren Gedanken nicht.
»Nichts leichter als das«, antwortete sie. Sie fühlte sich am Rande der Hysterie, und es sollte ihr wahrlich nicht schwerfallen, ein wenig davon für ihren Anruf in der Notrufzentrale abzuzweigen.
Doch zu ihrem Staunen half ihr der Klang der eigenen Stimme, ihre aufgewühlten Emotionen unter Kontrolle zu bringen. Ihr kam der seltsame Gedanke: So ist das also, wenn man einen Mord mit ansieht.
Sie gab die Nummer ein, und während sie ihr Handy ans Ohr hielt, kam ihr der absurde Gedanke, sie hätte gerade in einer übersinnlichen Erfahrung ihren eigenen Körper verlassen. Moth drängte an ihr vorbei, riss die Haustür auf und eilte zum Leihwagen hinaus. Im selben Moment meldete sich eine Stimme aus der Einsatzzentrale, und Andy Candy hörte sich selbst aus sicherem Abstand zu, wie sie, beziehungsweise diese verlässliche, unerschrockene Doppelgängerin, die Adresse durchgab und die Stimme in der Leitung bat, die Polizei zu schicken.
»Haben Sie, als Sie nach draußen gerannt sind, jemanden oder irgendetwas Auffälliges gesehen?«
Moth hatte einen Moment überlegt und dann den Kopf geschüttelt. Die gleiche Frage hatte er sich selbst schon gestellt und einräumen müssen, dass er sie nur mit »Nichts« beantworten konnte. »Nichts Ungewöhnliches.« Abgesehen davon, dass vor wenigen Minuten eine Kugel dem Psychiater den Schädel zerfetzt hatte. Darauf passte zweifellos die Beschreibung »ungewöhnlich«. Doch an diesem Punkt hatte er längst begriffen, dass in seinem Leben nichts mehr normal verlief. Er hoffte, dass Andy Candy zur selben Erkenntnis kam.
»Nein, tut mir leid. Nichts.«
Der Detective schrieb jedes Wort, das er sagte, mit. Über die naheliegenden Fragen zu dem tödlichen Vorfall hinaus stellten die Polizisten ihnen beiden auch routinemäßige Fragen. »Mit welchem Flug sind Sie hierhergekommen?« Oder: »Hat Doktor Hogan vor seinem Tod noch irgendetwas zu Ihnen gesagt?« Gleichzeitig gingen die Kriminaltechniker, die hinzugezogen worden waren, ihrer Arbeit nach, so wie es Moth bereits in der Praxis seines toten Onkels beobachtet hatte. Als einer der Ermittler die Schusslinie entlanglief und auf das tote Reh stieß, kam etwas Bewegung in die Gruppe, und das Wort »Jagdunfall« machte die Runde. Nicht ganz überzeugend, fand Moth, doch kaum hatte jemand das Wort zum ersten Mal ausgesprochen, entwickelte es ein hartnäckiges Eigenleben. Mehrmals wurden die beiden gefragt: »Wie können wir Sie gegebenenfalls erreichen?«, woraufhin sie beide ihre E-Mail-Adressen und ihre Mobilfunknummern angaben. Weder Moth noch Andy Candy hätten nach ihren Befragungen sagen können, was die Polizisten vom Tod des Psychiaters hielten, auch wenn sie den beiden Zeugen ihrerseits die Frage stellten:
»Fällt Ihnen irgendjemand ein, der dem Professor den Tod gewünscht hätte?«
Und beide antworteten übereinstimmend:
»Nein.«
Die Lüge war nicht abgesprochen, lag jedoch für beide auf der Hand.