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Das dritte Gespräch

Jeremy Hogan hatte ein tödliches Aufgebot an Waffen auf dem Esstisch ausgebreitet: ein Gewehr, einen Revolver, Schachteln mit Munition, den Schürhaken, eine Auswahl an Tranchiermessern aus der Küche, eine Taschenlampe aus schwarzem Stahl mit sechs Batterien, die sich auch als Schlagstock eignete, und die Nachbildung eines Reitersäbels für zeremonielle Zwecke, ein Geschenk der Militärakademie in Vermont zum Dank für einen Vortrag vor rund fünfzehn Jahren. Er hatte über das Thema posttraumatisches Stress-Syndrom bei Opfern von Verbrechen gesprochen und wünschte, er könnte sich erinnern, was er damals erzählt hatte. Er wusste nicht, ob der Säbel scharf genug war, um tatsächlich durch die Haut zu dringen; vielleicht genügte es schon, wenn er ihn bedrohlich schwang.

Er übte das Laden und Herausnehmen der Munition sowohl am Revolver als auch am Gewehr. Er war nicht gerade fix, manchmal hatte er Mühe, die Patronen einzulegen, und fürchtete, sich in den Fuß oder ins Bein zu schießen. Als er eine scharfe Patrone aus dem Magazin auswarf, fiel sie auf den Boden und rollte unter eine antike Kredenz. Er musste auf die Knie gehen und halb unter das Möbelstück kriechen, um sie hervorzuholen, erwischte sie schließlich mit dem Zeremoniensäbel in der quastenverzierten Scheide und zog beides staubbedeckt hervor.

Am späteren Vormittag bastelte er sich eine Art Schießbudenfigur, indem er Lumpen, ausgefranste Handtücher und eine eingerollte Zeitung in ein Oberhemd stopfte. Ein paar Scheite aus dem Korb neben dem Kamin verliehen seiner Zielperson Gewicht, und mit Hilfe eines alten, zerbrochenen Stuhls vom Speicher bekam sie die richtige Höhe. Das Gebilde schleppte er nach draußen, über die Natursteinterrasse in den Garten, der zwischen dem Haus und dem dicht bewaldeten Wildpark auf dem früheren Farmgelände lag – die Landschaft, die seine Frau früher so geliebt und in leuchtenden Aquarellen festgehalten hatte.

Nachdem er auch die Waffen herausgetragen hatte, schritt er eine Distanz von zehn Metern ab und nahm Haltung an. Zuerst der Revolver, doch als er gerade schießen wollte, merkte er, dass er die Ohrstöpsel drinnen auf dem Tisch vergessen hatte, legte den Revolver ins feuchte Gras, kehrte in der Hoffnung, dass die Waffe in der kurzen Zeit nicht leiden würde, ins Haus zurück, steckte sich die Stöpsel in die Ohren, trottete wieder hinaus und nahm die Schießstellung ein, die ihm der Waffenhändler beigebracht hatte. So etwa musste es richtig sein – beide Hände an der Waffe, die Füße leicht gegrätscht. Das Gewicht auf den Vorderfuß verlagern. Er federte ein wenig vor und zurück, bis er eine Haltung fand, in der er sich nicht verkrampfte. Das hatte der Mann ausdrücklich betont.

Tief einatmen. Der flüchtige Gedanke: Wie kann ich mich entspannen, wenn ich einem Mörder gegenüberstehe, der mich umbringen will?

Er gab drei Schuss ab.

Alle gingen daneben.

Vielleicht ist die Distanz ein bisschen zu groß, überlegte er und ging mehrere Meter näher heran. Immerhin wird er doch ziemlich dicht vor mir stehen? Oder auch nicht. An was für eine Wildwestschießerei hast du denn gedacht?

Jeremy spitzte die Lippen, hielt die Luft an, zielte wesentlich sorgfältiger und feuerte die übrigen drei Schuss ab. Die Waffe ruckte heftig in seinen Händen, doch diesmal hatte er sie schon besser im Griff.

Ein Schuss streifte den Hemdkragen, einer ging vorbei, der dritte traf genau in die Mitte, und die Zielperson kippte um.

Na bitte, geht doch, sprach er sich Mut zu, auch wenn er wusste, dass es gelogen war.

Er legte die Magnum zur Seite, lief zu seinem Ziel, richtete es wieder auf und kehrte zur Zehnmetermarke zurück. Nachdem er erneut in Schießstellung gegangen war, stemmte er nun das Gewehr an die Schulter und drückte ab.

Der Rückstoß war so heftig, dass er ein wenig zur Seite stolperte, doch dann sah er, dass sein Ziel den Löwenanteil abgekriegt hatte. Das Hemd war zerfetzt, Holzsplitter und Papier flogen durch die Luft, bevor die ganze Attrappe taumelte und zu Boden ging.

Jeremy ließ das Gewehr sinken.

»Wirklich nicht übel«, sagte er, »ich werde gefährlich.«

Das Gewehr ist besser. Brauche damit nicht annähernd so genau zu zielen.

Er pulte sich die Stöpsel aus den Ohren und spürte ein Kribbeln in der Schulter. Für eine Sekunde war er verwirrt, weil es so klang, als sei das Echo des Schusses immer noch zu hören, bis er begriff, dass im Haus das Telefon klingelte, gedämpft, doch beharrlich. Die Waffe in der Hand, eilte er in die Küche.

 

Wie zuvor gab es keine Anruferkennung.

Ich weiß auch so, wer es ist.

Er nahm nicht ab, sondern starrte einfach nur auf den Hörer, als könnte er das Klingeln sehen.

Es verstummte.

Ich weiß, wer das ist.

Wieder klingelte es.

Jeremy hatte schon die Hand am Hörer, hielt jedoch abrupt inne. Ein Klingelton. Zwei. Drei.

Die meisten normalen Anrufer geben da schon auf. Sprechen eine Nachricht auf Band. Telefonwerber lassen es maximal vier oder fünf Mal läuten, bevor sie genervt aufgeben und beschließen, es später noch einmal zu versuchen.

Sechs Mal. Sieben. Acht.

In meiner Kindheit, lange bevor die Anrufbeantworter kamen und die Handys mit Abweistaste, Videokonferenzschaltung, Cloud-Datenspeicherung und derlei Schnickschnack, hatten die Leute noch ein Telefon an der Wand – so wie ich bis heute in der Küche – oder auf dem Schreibtisch – so wie ich bis heute oben in meinem Arbeitszimmer, und es gab ein paar Anstandsregeln. Es galt als höflich, es zehnmal läuten zu lassen, bevor man auflegte. Nicht länger. Heutzutage sind die meisten schon nach drei, vier Mal frustriert.

Neun, zehn, elf, zwölf.

Das Telefon klingelte weiter.

Jeremy schmunzelte. Und somit habe ich wieder etwas gelernt. Er hat sehr viel Geduld.

Doch dann drängte sich ein zweiter, unheimlicher Gedanke auf: Er weiß also, dass ich zu Hause bin?

Wie denn? Unmöglich.

Nein, nicht unmöglich.

Er nahm den Hörer. Dreizehntes Klingeln. Ob das Unglück brachte?

»Wer ist schuld?«

Die Frage kam nun wirklich nicht überraschend. Jeremy holte tief Luft, wappnete sich mit dem geballten Fachwissen von Jahren und konterte wie aus der Pistole geschossen.

»Ich natürlich, woran auch immer. Völlig zwecklos, Ihnen in diesem Punkt zu widersprechen. Wenn wir uns in dem Punkt schon mal einig sind, hätte ich meinerseits eine Frage: Wäre es vielleicht möglich, dass ich mich Ihrer Sichtweise anschließe, mich überschwenglich bei Ihnen entschuldige, von mir aus auch in aller Öffentlichkeit Asche über mein Haupt streue, vielleicht eine stattliche Spende an eine Hilfsorganisation Ihrer Wahl überweise und Sie mich dafür nicht ermorden?«

Für seine Gegenfrage griff er zu einem schnippischen, vielleicht ein wenig lächerlichen Ton. Über den richtigen Ton hatte er sich das Hirn zermartert. In seiner prekären Situation war jede kleine Entscheidung ein Wagnis. Stachelte er den Mörder vielleicht dazu an, kurzen Prozess mit ihm zu machen, wenn er sich unerschrocken gab? Konnte er Zeit gewinnen, wenn er verschreckt und eingeschüchtert klang? Wofür sollte er sich entscheiden? Ihm schwirrte der Kopf. Mit welcher Taktik konnte er seinen Tod lange genug hinausschieben, um etwas dagegen zu unternehmen? Und was würde er unternehmen, falls es ihm gelang?

Falls er das überhaupt wollte.

Er wusste es nicht.

Den Hörer in der Hand, ging Jeremy in Sekundenschnelle seine Möglichkeiten durch. Jedes Wort, das er sagte, stellte eine Entscheidung dar.

Ein Schauspieler auf der Bühne geht in der Figur auf, die er darstellt, und spiegelt mit seiner Mimik und mit seinem Tonfall die Emotionen in seinem Text. Method-Acting. Den Unterschied zwischen Darsteller und Dargestelltem verwischen.

Er schnappte nach Luft.

Wie heißt es noch beim Poker? All in.

In der Leitung war es eine Weile still, dann hörte er ein kurzes, leises Lachen.

»Was würden Sie sagen, Doktor, wenn meine Antwort lautete: Ja, es gibt eine Chance?«

Jeremy zitterte plötzlich am ganzen Leib. Die Angst kroch ihm in die Glieder, als sei der Mörder mit ihm im Raum. Die Stimme am Telefon schien die strahlende Morgensonne, die zu den Fenstern hereinschien, wie ein schwarzes Loch zu schlucken, und je länger er mit dem Mann, der ihm nach dem Leben trachtete, sprach, spürte er, wie diese unsichtbare Schwerkraft ihn selbst aufzusaugen drohte.

Sprich mit fester Stimme, lass dir ja nicht die Panik anmerken.

Locke ihn aus der Deckung. Provoziere ihn zu einer unbedachten Äußerung.

»Also«, fing er an, als hätte er dem Unbekannten das Ergebnis reiflicher Überlegungen zu verkünden. »Ich denke, dann könnten wir uns vernünftig darüber unterhalten, was Sie von mir erwarten. Wir könnten uns auf die Spenden einigen, über Schritte, die ich unternehmen soll, um wenigstens zu versuchen, das Unrecht gutzumachen, das ich Ihnen Ihrer Meinung nach angetan habe.«

Jeremy legte eine kurze Pause ein, dann sagte er: »Natürlich setzt eine vernünftige Unterhaltung voraus, dass Sie nicht an irgendwelchen psychotischen Zwangsvorstellungen leiden und all ihre Drohungen und Begründungen das Produkt Ihrer überspannten Phantasie sind. Falls dem so wäre, könnte ich Ihnen natürlich Medikamente verschreiben, die Ihnen helfen würden, und mit Sicherheit einen guten Therapeuten empfehlen, der sich Ihrer Probleme annimmt.«

Das alles sagte er im nüchternen Habitus des Arztes.

Wieder trat Stille ein. Wieder folgte leises Lachen. Dann die scheinbar nachdenkliche Frage: »Glauben Sie, dass ich an einer Psychose leide, Doktor?«

»Nicht auszuschließen. Eventuell ein Grenzfall – auch wenn Sie es in Ihrem Sprachduktus verbergen können. Es würde mich freuen, wenn ich Ihnen helfen könnte.«

Damit hat er sicher nicht gerechnet, dachte Jeremy.

»Wissen Sie, Doktor, Sie erinnern mich ein bisschen an diese Wirtschaftskriminellen, die man in den Nachrichten sieht – die reumütig vor einem Richter stehen und sich erbieten, in einer Suppenküche mitzuhelfen, statt für die Millionen, die sie gestohlen haben, und dafür, dass sie zahllosen Leuten das Leben kaputt gemacht haben, in den Knast zu wandern.«

Jeremy leckte sich die Lippen. Er fragte sich, warum sie so trocken waren.

»Ich bin keiner von denen«, erwiderte er.

Schwach, schwach, schwach. Er hätte sich ohrfeigen können.

»Meinen Sie? Interessante Frage. Vielleicht können Sie mir eine andere beantworten: Was ist das gerechte Strafmaß für jemanden, der einem anderen Menschen das Leben ruiniert hat? Was macht man mit demjenigen, der einem jede Hoffnung genommen, jeden Traum im Leben zerstört, jede Chance, seine Ziele zu verwirklichen, genommen hat?«

»Es gibt graduelle Unterschiede an Schuld, selbst vor dem Gesetz.«

Erbärmlich, kraft- und saftlos, lendenlahm.

»Aber wir sind ja auch nicht vor Gericht, Doktor, oder?«

Plötzlich kam Jeremy ein Gedanke, der ihm einen Funken Hoffnung gab.

»Habe ich Sie mit einem Gutachten ins Gefängnis gebracht? Habe ich bei einem Prozess gegen Sie ausgesagt? Werfen Sie mir eine Fehldiagnose vor?«

Kaum war er mit seinem Fragenkatalog herausgeplatzt, bereute er seinen Mangel an Feinfühligkeit. Hier war psychologisches Fingerspitzengefühl angesagt, doch sein Anrufer machte es ihm wahrlich nicht leicht.

»Nein, das wäre zu offensichtlich. Und davon abgesehen, würde wahrscheinlich sogar ein Psychotiker einsehen, dass Sie nur Ihre Pflicht getan haben.«

»Nein, würde er nicht«, erwiderte Jeremy. Er überlegte angestrengt, um sich aus den wenigen Bruchstücken, die der Wortwechsel über den Charakter und das Weltbild seines Widersachers verrieten, ein vages Bild von ihm zu machen. Also nicht vor Gericht. Welcher Teil deiner Arbeit bleibt dann noch? Er sah die Antwort: die Lehre.

Doch bevor er aus seiner Erkenntnis Kapital schlagen konnte, hörte er wieder das spöttische Lachen in der Leitung. »Nun, Doktor, ist damit Ihre Frage, ob ich psychotisch sei, geklärt?«

Ausgehebelt. Komm schon, streng dich an!

Wieder legte der Anrufer eine Pause ein. »Es ist interessant, mit Ihnen zu plaudern, Doktor. Schon seltsam, nicht wahr? Beziehungen: Vater und Sohn, Mutter und Kind, Liebhaber, Arbeitskollegen, alte Freunde. Neue Freunde. Erhebliche Unterschiede zwischen diesen Beziehungen, nicht wahr? Aber die zwischen uns beiden – die Beziehung zwischen dem Mörder und seinem Opfer –, die findet man so nirgends wieder; da legt man jedes Wort auf die Waagschale, die nimmt man ernst.«

Das hätte von mir stammen können, stellte Jeremy fest.

Und dann: Nimm den Faden auf.

»Ihre anderen Opfer – falls es sie denn wirklich gibt, Sie verstehen, dass ich nicht weiß, was ich davon halten soll –, haben Sie mit jedem eine Beziehung aufgebaut?«

»Kluger Schachzug, Doktor. Sie fordern mich dazu heraus, Ihnen zu beweisen, dass ich nicht zum ersten Mal töte, und hoffen, über diese Schiene herauszubekommen, wer ich bin. Da muss ich Sie leider enttäuschen. Nur so viel: Ich denke, bei jedem Tötungsdelikt kommen mindestens zwei Beziehungsstränge zusammen: einmal das, was das Bedürfnis oder die Notwendigkeit zu töten ausgelöst hat, und dann der Moment des Todes. Ich schätze, aus Ihrer beruflichen Arbeit sind Ihnen beide Aspekte bestens vertraut.«

Jeremy ertappte sich dabei, wie er nickte.

»Haben Sie mit Ihren anderen Opfern gesprochen, bevor Sie sie getötet haben?«

»Mal so, mal so.«

Immerhin etwas, dachte Jeremy. In manchen Fällen hat Mister Wer-ist-schuld das Bedürfnis nach Konfrontation. In anderen Fällen – wer weiß? Er versuchte, weiterzubohren.

»Und wie war es für Sie befriedigender?«

Verächtliches Schnauben. »Beide Varianten waren befriedigend, nur auf unterschiedliche Weise. Aber Ihnen muss ich das doch nicht erzählen, Doktor.«

»Töten Sie uns alle auf dieselbe Weise?«

»Gute Frage. Die Polizei, die Staatsanwaltschaft, Strafrechtler – alle lieben erkennbare Verhaltensmuster. Sie suchen nach offensichtlichen Parallelen, um die Details einordnen zu können. Am liebsten sind ihnen Verbrechen in der Art wie diese Malblöcke mit Buntstiften, die man kleinen Kindern schenkt. Sie sollen die vorgezeichneten Felder nach Zahlen ausfüllen – 10 steht für Blau, 13 für Rot. Gelb und Grün für 2 und 12. Und plötzlich erkennen sie, dass sie einen Vogel malen oder ein Haus oder was weiß ich. Vermutlich ist Ihnen längst klar, dass so etwas unter meinem Niveau ist.«

Weit über dem Niveau der meisten Mörder, mit denen ich beruflich konfrontiert war. Was sagt mir das?

Nach kurzem Zögern fügte der Anrufer hinzu: »Geben Sie nicht so leicht auf, Doktor. Ich liebe die Herausforderung. Man muss klar denken, um sich zugleich vage und präzise auszudrücken.«

Jeremy sah förmlich das überhebliche Grinsen des Mörders vor sich.

»Wenn ich Sie richtig verstehe, ist jeder auf andere Art gestorben?«

»Ja.«

Er merkte, dass er die Finger so fest um den Hörer krallte, dass sie sich weiß vom schwarzen Plastik abhoben. Dieses Gespräch war wie eine Autofahrt auf Aquaplaning, bei der der Wagen ins Schleudern gerät und er sich mit seiner ganzen Willenskraft wünscht, dass die schlitternden Reifen wieder Bodenhaftung bekommen. Während er äußerlich die Ruhe bewahren und den Wortwechsel in Gang zu halten versuchte, arbeitete sein Gehirn auf Hochtouren, um die vielen versteckten Hinweise zu verarbeiten und für weitere Fragen zu nutzen. Sein Verstand kämpfte gegen die Panik an.

»Trifft uns alle die gleiche Schuld?«

Damit hatte der Mann offensichtlich gerechnet, denn die Antwort kam prompt: »Ja.«

Doch nach einer kurzen Pause fügte er in beinahe freundlichem Plauderton hinzu: »Da hätte ich meinerseits eine Frage an Sie, Doktor: Nehmen wir mal an, Sie schlagen ein, mit Ihren beiden Kumpeln einen Spirituosenladen zu überfallen. Kinderspiel. Sie fuchteln ein bisschen mit der Knarre in der Luft, sacken ein, was die Kasse hergibt, und kommen ungeschoren davon. Keine große Sache. Passiert jede Nacht irgendwo in Amerika. Nun nehmen wir an, Sie sitzen draußen, bei laufendem Motor, hinterm Lenkrad und malen sich schon aus, was Sie mit Ihrem Anteil an der Beute machen wollen, als Sie Schüsse hören und im selben Moment Ihre Kumpel aus dem Laden stürmen. Sie begreifen, dass den beiden die Nerven einen Streich gespielt haben – einer hat den Ladenbesitzer umgenietet –, und von einer Sekunde zur anderen ist aus Ihrem harmlosen kleinen Überfall ein Raubmord geworden. Sie fahren wie der Teufel, denn dazu sind Sie ja da, aber nicht schnell genug, denn als Sie aufsehen, stellen Sie fest, dass die Cops schon hinter Ihnen her sind ...«

Wieder dieses Lachen. »Und jetzt sagen Sie, Doktor: Sind Sie genauso schuldig wie Ihre beiden Kumpel?«

Jeremy spürte, wie er eine trockene Kehle bekam, doch er setzte alles daran, keinen Fehler zu begehen und kein einziges Wort zu versäumen.

»Nein«, sagte er.

»Sind Sie sicher? In den meisten Bundesstaaten macht das Gesetz keinen Unterschied zwischen Ihnen im Fluchtauto und Ihrem Freund, der den Finger am Abzug hatte.«

»Ja«, räumte Jeremy ein, »aber …«

Er sprach nicht weiter. Er sah, worauf der Anrufer hinauswollte, und hielt den Mund.

Er fühlte sich wie gelähmt, unfähig, auf seine Einsichten aus all den Jahren seiner Berufserfahrung zuzugreifen.

Und er fühlte sich schlagartig alt. Er spähte zu seinen Waffen hinüber. Wem mache ich hier eigentlich was vor?

Nein, meldete sich eine andere Stimme in ihm. Wehre dich. Er holte tief Luft. Was wollte der Anrufer mit dieser abgedroschenen Geschichte sagen?

Wie ein Stromschlag durchzuckte ihn die Antwort: Da hat er einen Fehler gemacht. Vielleicht den ersten überhaupt.

Jeremy versuchte, seine Nerven unter Kontrolle zu bringen und Kapital daraus zu schlagen.

»Soll ich daraus schließen, dass ich jemanden zu einem Verbrechen gefahren habe, ohne das zu wissen? Ein Verbrechen, das andere begangen haben, und trotzdem soll ich mit dem Leben dafür bezahlen? Sie wären nicht auf diese Geschichte verfallen, wenn sie nicht in irgendeiner Weise deutlich machte, wie Sie mein Unrecht einstufen. Interessant.«

Diesmal war das Zögern in der Leitung spürbar. Das hat gesessen, dachte Jeremy und nutzte seinen kleinen Vorteil:

»Also, Mister Wer-ist-schuld, was Sie mir sagen wollen, verstehe ich so: Ich sollte nach einem Vorfall oder nach Zusammenhängen suchen, zu denen ich eher indirekt als unmittelbar beigetragen habe. Da liegt die Messlatte aber ziemlich hoch für mich. Wir haben es immerhin mit fünfzig Jahren Berufstätigkeit zu tun. Falls Sie wirklich wollen, dass ich begreife, was ich Ihnen angetan habe, müssen Sie mir schon ein bisschen auf die Sprünge helfen.«

Schweigen. Dann die kurze Antwort:

»Wenn ich Ihnen noch mehr helfe, beschleunigt das die Dinge nur.«

Jeremy lächelte. Er hatte einen Hauch von Zuversicht.

»Das liegt in Ihrer Hand, aber mir scheint, dass diese Beziehung – zwischen Ihnen und mir – Ihnen nur etwas bringt, wenn ich begreife, wieso Sie mich ermorden wollen.«

Der Punkt geht an mich, räumte er ein.

Und dann die eiskalte Antwort:

»Da haben Sie wohl recht, Doktor. Aber zu viel Wissen kann tödlich sein.«

Diesmal fiel Jeremy kein schlagfertiger Konter ein.

Der Anrufer redete weiter – mit leiser, eindeutig elektronisch verfremdeter Stimme, doch trotz der technischen Manipulation so giftig wie der Biss einer Klapperschlange.

»Die Ethik der Gewalt ist ein faszinierendes Thema, nicht wahr, Doktor? Fast so interessant wie die Psychologie des Tötens.«

»Ja.«

Ihm fiel nichts anderes ein, als zuzustimmen.

»Ihre Spezialgebiete, richtig?«

»Ja.«

Auf einmal war er um Worte verlegen.

»Es ist beängstigend, oder, wenn einem jemand sagt, man würde ermordet?«

Ja. Nicht lügen.

»Ja.«

Plötzlich drängte sich Jeremy eine Frage auf, und er platzte einfach damit heraus. »Haben all die anderen genauso reagiert wie ich?«

»Wieder eine kluge Frage. Lassen Sie es mich so sagen: Meine Beziehung zu jedem Toten war unverwechselbar.«

Jeremy versuchte mit aller Macht zu erahnen, worauf der Anrufer mit diesem Gespräch letztlich hinauswollte. Wie bei einem Gewebe bedeutete der einzelne Faden für sich genommen gar nichts, erst alle zusammen ergaben ein klares Muster.

»Haben Sie jedem von uns angekündigt, dass Sie uns töten wollen?«

»Sie werden immer besser! Die Antwort lautet: Nicht unbedingt.«

»Sie reden demnach mit mir, aber Sie haben nicht mit allen gesprochen, bevor ...«, er suchte nach der richtigen Formulierung, »bevor Sie getan haben, was Sie mit ihnen getan haben.«

Für einen Forensiker eine seltsam verschwommene Ausdrucksweise.

»Ja, ganz recht. Aber am Ende bekommen Sie alle, was Sie verdienen.«

»Verstehe, aber gilt das nicht in gewisser Weise für jeden?«, hielt Jeremy in möglichst unbeteiligtem Ton dagegen, demselben Ton wie bei Hunderten Vernehmungen von Mördern, der in diesem Fall jedoch wirkungslos verpuffte. »Irgendwann müssen wir alle sterben.« Wer hätte das gedacht, du Trottel!

»Aber sicher doch, Doktor, eine Binsenweisheit, aber wer von uns will schon so genau wissen, wann? Heute? Morgen? In fünf Jahren? In zehn? Wer weiß? Wir fürchten den Moment, in dem uns diese Frist gesetzt wird, egal, ob in der Todeszelle eines Sicherheitstrakts oder in der Praxis eines Onkologen, der sich unsere letzten Untersuchungsergebnisse ansieht. Ein Datum oder eine konkrete Zahl von Wochen, Monaten bestenfalls. Ansonsten haben wir im Leben gerne Gewissheit, aber wenn es ans Sterben geht, na ja, da lassen wir uns lieber überraschen. Damit will ich nicht gesagt haben, dass es unmöglich ist, mit einem festen Todesdatum klarzukommen. Manche Patienten und auch manche Gefangene bekommen das hin. Bei einigen hilft die Religion. Andere trösten sich damit, ihre Freunde und Angehörigen um sich zu haben. Vielleicht hilft sogar eine Liste von Dingen, die man vor seinem Tod unbedingt noch erledigen will. Aber das alles kann dieses quälende Gefühl höchstens in den Hintergrund drängen, oder?«

Jeremy wusste, dass eine Antwort von ihm erwartet wurde, brachte jedoch keinen Ton heraus. Nur im Stillen gab er zu: Ja, genau daher rührt meine Angst. Wie könnte ich ihm widersprechen?

Er fuhr herum und griff nach dem Revolver, der auf dem Küchentisch lag, als könnte er ihn trösten. Er kam ihm plötzlich schwer vor, und er wusste nicht, ob er die Kraft hätte, den Arm zu heben und damit zu zielen. Im selben Moment merkte er, dass er vergessen hatte, ihn neu zu laden. In Panik blickte er sich nach der Schachtel mit der Munition um und sah sie außerhalb seiner Reichweite am anderen Ende des Zimmers auf einem Tisch.

Idiot.

Doch ihm blieb keine Zeit für Selbstvorwürfe.

»Sie glauben, Sie könnten sich schützen, Doktor. Irrtum. Nehmen Sie sich einen Bodyguard. Gehen Sie zur Polizei. Melden Sie die Morddrohungen. Ich denke schon, dass die sich dafür interessieren – zumindest für eine gewisse Zeit. Doch früher oder später sind Sie wieder auf sich allein gestellt. Sie könnten sich in einer Festung verschanzen, sich in irgendein gottverlassenes Nest verkriechen. Versuchen Sie, sich mit solchen Überlegungen über Wasser zu halten, Doktor, denn die Hoffnung stirbt zuletzt. So oder so bin ich immer ganz in Ihrer Nähe.«

Jeremy wirbelte herum. Er kann mich sehen! Dann schüttelte er den Kopf. Unmöglich.

Oder doch nicht?

Nichts war mehr so wie vorher. Nichts war mehr so, wie es sein sollte. Er hörte, wie sein Atem flach wurde, beängstigend flach. Ich sterbe, dachte er. Ich sterbe vor Angst.

Die Stimme am Telefon unterbrach ihn in seinen Gedanken.

»War nett, mit Ihnen zu plaudern, Doktor. Sie sind viel klüger, als ich dachte, und ich habe Dinge gesagt, die ich wohl besser nicht hätte sagen sollen. Aber wie heißt es noch gleich? Alles geht einmal zu Ende. Sie sollten sich seelisch darauf vorbereiten, es bleibt Ihnen nicht mehr viel Zeit. Ein paar Stunden, vielleicht auch ein, zwei Tage. Möglicherweise eine Woche.«

Der Anrufer überlegte.

»Theoretisch sogar ein Monat, ein Jahr. Hauptsache, Sie wissen, ich bin auf dem Weg zu Ihnen.«

Jeremy fuhr ihm dazwischen. Seine Stimme war schrill, zum Zerreißen gespannt. »Sagen Sie mir, was zum Teufel ich Ihnen getan haben soll!«

Nach einer weiteren Pause erwiderte der Anrufer nur: »Ticktack, ticktack, ticktack.«

Jeremy brüllte: »Wann?« Doch da war die Leitung schon tot.

Er hielt den Hörer immer noch am Ohr, auch wenn ihm nur Stille entgegenschlug. Fast kam es ihm so vor, als sei der Mann ein Gespenst, oder er selbst sei das naive, begriffsstutzige Opfer eines Zaubertricks geworden. Puff, futsch, Ende der Vorstellung.

»Hallo?«, rief er, eine instinktive Reaktion. »Hallo?«

Das Wieso? interessierte ihn jetzt nicht einmal mehr ansatzweise. Das war’s, dachte er. Keine Anrufe mehr. Was habe ich gesagt?

Er horchte in die Stille. Obwohl ihm längst klar war, dass sein Mörder aufgelegt hatte, wiederholte er die einzig entscheidende Frage: »Wann?«

Und dann, diesmal sehr leise, mehr an sich selbst als an den Killer gerichtet, der schon auf dem Weg zu ihm war, ein drittes Mal: »Wann?«