10
Im Fahrstuhl zum zehnten Stock spielte Berieselungsmusik, die Moth und Andy Candy angesichts der bevorstehenden schwierigen Begegnung auf die Nerven ging. Es war eine weichgespülte Orchesterversion von einem uralten Rock-Hit, und für einen Moment summten sie beide mit, ohne dass ihnen der Titel wieder einfiel.
»Beatles?«, fragte Andy Candy in das anhaltende Schweigen zwischen ihnen. Sie fühlte sich zum Zerreißen angespannt, und es beschlich sie der Gedanke, sie sei kurz davor, sich von Moths Obsession anstecken zu lassen. Wenn sie ihn verstohlen von der Seite beobachtete, machte er ein Gesicht wie ein Bergsteiger, dessen Seil nur noch mit einem einzigen Haken in der Felswand verankert ist, während er hoch über dem Abgrund baumelt. Der auf die Gefahr hin, mit jeder Bewegung die letzten Fasern des ausgefransten Seils zu zerreißen, versucht, sich daran bis zum rettenden Klippenrand hochzuziehen. Sie schloss die Augen und spürte, wie der Wind sie vor sich hertrieb – ohne zu wissen, in welche Richtung und ob er sich nicht jeden Moment drehen würde.
»Ja. Nein, aber ziemlich heiß. Und ziemlich lange vor unserer Zeit«, antwortete er.
»Jedenfalls einprägsam«, sagte sie. »Die Stones. The Who. Buffalo Springfield. Jimi Hendrix, die Musik, die meine Mom und mein Dad früher gehört haben. Manchmal haben sie dazu in der Küche getanzt ...« Sie brachte den Satz nicht zu Ende; die Worte, die ihr auf der Zunge brannten – und jetzt ist er tot, und sie muss alleine tanzen –, sprach sie nicht aus. Stattdessen fügte sie hinzu: »Und jetzt ist es nur noch Fahrstuhlberieselung.«
Die Musik lenkte Moth ab. Er wusste nicht, wie er reagieren würde, wenn er den langjährigen Geliebten seines Onkels wiedersähe. Das Gefühl, alle im Stich gelassen zu haben, war erdrückend, und die Begegnung mit Eds Partner würde es noch schlimmer machen. Andererseits fiel ihm niemand Besseres ein, um mit seiner Suche zu beginnen.
Als sie ihr Stockwerk erreichten, hielt der Lift mit leisem Zischen an.
»Da wären wir«, sagte Moth. Auch wenn er sich wenig Chancen ausrechnete, hier irgendwelche Anhaltspunkte zu finden, hatte Andy recht, wenn sie sagte, sie müssten dort suchen, wo die Polizei keinen Fuß hingesetzt hatte. Wo sie noch nichts zertrampelt hatte, korrigierte er sich.
»Aller Wahrscheinlichkeit nach doch die Beatles«, sagte Andy Candy, als sie in den Flur traten. Es klang fast barsch, obwohl sie keinen handgreiflichen Grund hatte, sauer zu sein. »Lady Madonna, nur von diesen schnulzigen Streichern und Oboen völlig versaut.«
Die Tür zur Wohnung seines Onkels flog auf, bevor sie anklopfen konnten. Sie blickten in das lächelnde Gesicht eines zart gebauten Mannes mit hellbraunem Haar und grauen Schläfen. Doch es war kein freudiges Begrüßungslächeln, sondern nur eine freundliche Miene, die den Schmerz verbarg.
»Hallo, Teddy«, sagte Moth leise.
»Ah, Moth«, erwiderte der Mann. »Schön, dich wiederzusehen. Du warst nicht auf der ...«
Er sprach nicht weiter.
»Das ist Andrea«, warf Moth hastig ein.
Teddy streckte ihr die Hand entgegen. »Die berühmte Andy Candy«, sagte er. »Moth hat von dir erzählt, nicht viel, aber genug, ist auch schon wieder ein paar Jahre her, und wie ich sehe, bis du noch viel hübscher, als er uns verraten hat. Moth, du solltest dich um mehr Anschaulichkeit bemühen.« Mit einer angedeuteten Verbeugung schüttelte er Andy Candy die Hand. »Kommt rein«, bat er sie. »Entschuldigt das Chaos.«
Beim Betreten der Wohnung schlug ihnen so grelles Licht entgegen, dass es in den Augen weh tat. Die Wohnung bot einen spektakulären Blick über die Biscayne Bay; in der Bucht quälte sich gerade ein riesiges, plumpes Kreuzfahrtschiff wie ein übergewichtiger Tourist an den exklusiven Golf- und Tennisplätzen der Reichen auf Fisher Island vorbei. Das blasse Blau des Ozeans ging am Horizont nahtlos in den Himmel über. Auf der einen Seite grenzte Miami Beach mit seinen Wolkenkratzern ans Wasser, auf der anderen führte der Fahrdamm nach Key Biscayne hinüber. Quer über die Bucht bildeten sich im Kielwasser der Angler- und Vergnügungsboote weiße Streifen aus Gischt, die sich im sanften Wellengang verloren. Das helle Licht fiel durch deckenhohe Glasschiebetüren zum Balkon ein. Teddy sah, wie Moth die Hand über die Augen legte.
»Ja, hat uns am Anfang wahnsinnig gemacht. Da willst du unbedingt diese Aussicht, aber auf die Morgensonne, die dir jeden Tag schräg ins Zimmer einfällt, kannst du gerne verzichten. Dein Onkel hat alle möglichen Jalousien ausprobiert, also, die Innendekorateure haben sich die Klinke in die Hand gegeben. Er war es leid, ständig die Sofas neu zu beziehen, weil du zusehen konntest, wie sie verblichen. Und dann hatte er diese schöne Lithograpfie von Karel Appel an der Wand da. In der Sonne war sie hin. Schon seltsam, oder? Das, was uns nach Miami lockt, macht einem, wenn man erst mal da ist, jede Menge Scherereien. Wenigstens brauchte er sich nicht von einem Dermatologen regelmäßig den Hautkrebs von Gesicht und Armen schaben zu lassen, obwohl er jahrelang jeden Morgen vor der Arbeit auf dem Balkon Kaffee getrunken hat.«
Moth ließ den Blick über die offenen Umzugskartons mit abgehängten Gemälden, Küchenutensilien und Büchern schweifen.
»Genauer gesagt, haben wir morgens immer auf dem Balkon Kaffee getrunken.« Seine Stimme wackelte ein wenig. »Ich halte es hier nicht länger aus, Moth«, sagte Teddy. »Ich leide wie ein Hund. Zu viele Erinnerungen.«
»Onkel Ed«, fing Moth zaghaft an, doch Teddy fiel ihm ins Wort. »Du glaubst nicht, dass er sich das Leben genommen hat. Das will mir auch nicht in den Schädel. Mein Gott, wir waren glücklich, besonders in den letzten Jahren. Seine Praxis lief phantastisch, ich meine, er war von seinen Patienten fasziniert, und er konnte ihnen helfen – mehr hat er sich nie gewünscht. Und es war ihm egal, wer von mir wusste – was für einen Psychologen alles andere als selbstverständlich ist, das kann ich dir sagen. Seit er sich geoutet hatte, war ihm ein Stein so groß wie ein Felsbrocken vom Herzen gefallen. Wir kannten beide jede Menge Leute, die es nicht geschafft hatten, Familie, Freunde, ihre Arbeit … mit dem, was sie sind, in Deckung zu bringen. Das sind die Jungs, die sich zu Tode saufen – wie Ed so viele Jahre lang, oder sich mit Drogen zudröhnen oder sich gleich erschießen. Alles Leute, die irgendwann unter ihrer Lebenslüge kaputtgehen. Ed war mit sich im Reinen – hat er mir selbst gesagt, als ...«
Er sprach nicht weiter. »Als, als, als … was für ein mieses, beschissenes Wort, Moth.«
Teddy schwieg einen Moment, bevor er fortfuhr: »Andererseits hatte Ed immer so etwas Geheimnisumwittertes an sich, etwas Unergründliches, etwas, das in ihm ein Eigenleben besaß, fast wie ein unabhängiger Organismus, auf den sein Herz und sein Verstand keinen Zugriff hatten. Das habe ich immer an ihm geliebt. Und vielleicht war er deshalb in seinem Beruf so gut.«
»Etwas Geheimnisvolles?«, hakte Moth nach.
»Kommt bei uns häufiger vor. Wenn du so lange unglücklich bist, Dinge verheimlichst, die ans Licht gehören … Gibt einem vermutlich eine gewisse Tiefe. Eine Menge Selbstgeißelung. Manchmal artet es in Folter aus.«
Teddy schien in Gedanken versunken. »Aus meiner Sicht hat uns das umso stärker zusammengeschweißt, nachdem es uns erst mal beide in den Alkohol getrieben hatte. Dieses Versteckspiel. Nicht der Mensch zu sein, der man ist. Als wir uns dann kennenlernten, sind wir beide nüchtern geworden und authentisch. So viel kann dir jeder Hobbypsychologe sagen.«
Wieder trat Schweigen ein.
»Bei dir lagen die Probleme ein bisschen anders, Moth, nicht wahr?«
Ohne es zu merken, reckte sich Andy Candy, gespannt auf die Antwort, vor.
»Ja«, sagte Moth. »Ich hab zur Flasche gegriffen, wenn ich wütend war. Wenn ich traurig war. Wenn etwas gut gelaufen war, habe ich mich mit der Flasche belohnt. Oder ich habe versagt und mich zur Strafe betrunken. Manchmal wusste ich nicht mehr, wen ich mehr ankotzte – mich selbst oder die anderen, und weil ich es so genau gar nicht wissen wollte, habe ich getrunken.«
»Ed hat gesagt, sein Bruder hätte dich mit seinen überzogenen Erwartungen ...«, fing Teddy an und ließ den Rest unausgesprochen.
Moth schüttelte den Kopf. »Beim Komasaufen ist das Problem, dass dir der fadenscheinigste Vorwand genügt. Du brauchst keine komplexe, verfahrene Situation. Irgendein banales Alltagsproblem, und schon hat es dich erwischt. Genau wie bei dir – Stammtischpsychologie.«
Teddy strich sich eine Strähne aus der Stirn.
»Über zehn Jahre«, sagte er, an Andy Candy gewandt. »Wir haben uns bei einem AA-Treffen kennengelernt. Er stand auf, erklärte, er sei seit einem Tag nüchtern, dann war ich dran und hab gesagt, bei mir sind es zwölf, und anschließend sind wir zusammen Kaffee trinken gegangen. Nicht besonders romantisch, Andy, oder?«
»Nein. Klingt zumindest nicht so.« Sie nickte. »Aber vielleicht doch?«
Teddy lachte traurig. »Ja, du hast recht. Vielleicht war es romantisch. Als der Abend zur Neige ging, waren wir keine Trinker mehr, die sich an ihren lauwarmen Latte klammerten, sondern zwei Menschen, die so lange lachten, bis ihnen das Zwerchfell weh tat.«
Andy spähte zu einer Wand hinüber, an der nur noch ein einziges Foto hing – von Ed und Teddy, die einander lässig den Arm um die Schulter geschlungen hatten. Es gab noch andere Haken, doch die Fotos, die daran gehangen hatten, waren nicht mehr da.
Moth wurde ein wenig unruhig und schaute zu Boden. Er hatte Angst, dass ihm die Stimme versagte, wenn er sich zu genau ansah, wie das Leben seines Onkels in Kartons verschwand.
»Wo soll ich suchen, Teddy?«, fragte er.
Teddy wandte sich ab und rieb sich die Augen.
»Wenn ich das wüsste. Aber vielleicht will ich es auch gar nicht so genau wissen. Anfangs wohl schon, aber jetzt nicht mehr.«
Andy war verblüfft. »Du willst nicht wissen …« Moth fiel ihr ins Wort.
»Erzähl mir etwas über Onkel Ed, was ich nicht weiß.«
Sein Ton klang angespannt und fordernd.
»Was du nicht weißt?«
»Ein Geheimnis. Etwas, das er vor mir verborgen hat. Sag mir etwas, wonach die Cops nicht gefragt haben, etwas, das du nicht verstehst, aber was dir merkwürdig vorkam. Exzentrisch, was weiß ich, irgendetwas, das nicht in diese geordnete, logisch nachvollziehbare Welt passt, in die sie Eds Tod so mir nichts, dir nichts einordnen wollen.«
Teddy wandte den Blick ab und starrte über die weite blaue Wasserfläche. »Du suchst nach Antworten ...«, fing er an.
»Nein«, korrigierte ihn Moth. »Wenn es so einfach wäre, wüsste ich wenigstens die richtigen Fragen. Was ich mir erhoffe, ist ein Anstoß, in welche Richtung ich weitersuchen soll.«
»In welche Richtung, glaubst du, würden deine Fragen gehen?«
Moth zögerte einen Moment, doch Andy Candy kam ihm zuvor. »Richtung Reue.«
Teddy sah sie verständnislos an. »Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Onkel Ed hat sich jemanden zum erbitterten Feind gemacht«, erklärte Moth Andys Überlegung. »Derjenige muss ihn genug hassen, um ihn umzubringen und seinen Tod als Freitod zu inszenieren, was nicht besonders schwer gewesen sein dürfte. Aber es muss jemand aus einer Lebensphase sein, von der wir alle zu wenig wissen und an die wir alle nicht gedacht haben, aus den Jahren, in denen wir in seinem Leben noch nicht vorgekommen sind. Und Ed muss gewusst haben – vielleicht erfolgreich verdrängt, was weiß ich –, jedenfalls muss ihm irgendwie geschwant haben, dass da draußen jemand herumläuft … der ihm nach dem Leben trachtet.«
Teddy schwieg, und Moth fügte hinzu: »Und wozu in aller Welt sollte er eine Pistole in seiner Schreibtischschublade aufbewahren und sich dann mit einer anderen erschießen?«
»Ich wusste von dieser Pistole – derjenigen, die er nicht benutzt hat.«
»Ja?«
»Eigentlich wollte er sie loswerden. Keine Ahnung, wieso er sie dann doch behalten hat. Vor ein paar Jahren sagte er mal, er wollte sie entsorgen, er hat sie mitgenommen, und wir haben nie wieder darüber gesprochen. Ich nahm einfach an, er hätte sie in den Müll geworfen oder verkauft oder der Polizei ausgehändigt, bis die Cops kamen und mich danach fragten.«
Moth war schon bei der nächsten Frage, doch er hielt sie zurück.
Teddy verzog den Mund, als ob er sich an jedem Wort, das er zu diesem Thema sagen musste, die Zunge verbrannte. Teddy war ein kleiner Mann und von einer Zartfühligkeit, dass man sich scheute, mit ihm über einen Mord zu reden. »Wenn jemand einen solchen Groll auf Ed gehegt hat, musst du weiter zurückgehen – in die Jahre, bevor wir zusammen waren.«
Moth nickte.
»Ich hätte den Cops liebend gerne weitergeholfen – nehmen Sie diesen oder jenen Kerl mal genauer unter die Lupe, finden Sie den Mann, der Ed auf dem Gewissen hat. Bringen Sie mir seinen verfluchten Kopf auf einem Silbertablett. Aber mir fiel beim besten Willen niemand ein.«
»Glaubst du …«, fing Moth an, kam jedoch nicht zu Ende.
»Wir haben miteinander geredet«, fuhr Teddy fort. »Wir haben immer miteinander geredet. Jeden Abend. Zu den falschen Cocktails, die wir füreinander gemixt haben – Limettensaft und Sprudel auf Eis in einem Highball-Glas, mit einem Papierschirmchen dekoriert. Wir haben beim Abendessen und im Bett geredet. Also hab ich mir das Hirn zermartert, um mich an irgendeinen Tag zu erinnern, an dem er bedrückt oder nervös aus der Praxis heimgekommen wäre – beziehungsweise wegen einer Bedrohung verstört. Aber da war nichts, kein einziges Mal, wo ich zu ihm gesagt hätte: ›Pass gut auf dich auf …‹ Wenn er vor etwas Angst gehabt hätte, dann hätte er es gesagt. Da bin ich mir sicher. Wir haben einander nichts verschwiegen.«
Ein tiefer Seufzer, lange Stille.
»Wir hatten keine Geheimnisse voreinander, Moth, deshalb kann ich dir auch keine nennen.«
»Mist«, platzte Moth heraus.
»Tut mir leid«, sagte Teddy.
»Also, bevor ihr euch kennengelernt habt, ja?«, hakte Andy nach.
»Wäre die einzige Erklärung, macht zehn Jahre.«
»Wir können definitiv die zehn Jahre ausklammern, in denen ihr beide zusammen wart, ja?«, vergewisserte sich Andy.
Teddy nickte. »Ja. Aber stellt euch das nicht so leicht vor«, fügte er hinzu. »Wenn es jemand von früher ist, dann müsst ihr etwas in Erfahrung bringen, was Ed für sich behalten hat – etwas über sein Leben im Verborgenen. Und dann müsst ihr immer weiter zurück.«
Moth nickte. »Ich bin Historiker, das trau ich mir zu.«
Eine kühne Behauptung, um sich Mut zu machen. Was tut ein Historiker? Er sichtet Dokumente, Zeugnisse aus erster Hand, Berichte von Leuten, die ein Ereignis mit eigenen Augen gesehen haben – sämtliche Informationsquellen, die man sich in aller Ruhe vornehmen kann.
»Hat er Notizbücher, Briefe oder sonst irgendetwas über sein früheres Leben hinterlassen?«
»Nein, und seine Patientenakten hat die Polizei konfisziert. Arschlöcher. Haben zwar behauptet, sie würden sie zurückgeben, aber ...«
»Mist«, wiederholte Moth.
»Hast du sein Testament gesehen?«
Moth schüttelte den Kopf.
Teddy lachte, nicht weil er etwas komisch fand, sondern weil ihm etwas dämmerte. »Wäre eigentlich an deinem Dad gewesen, Eds älterem Bruder, dich zu unterrichten. Aber wahrscheinlich stinkt ihm das Ganze gewaltig.«
»Streng genommen reden wir nicht miteinander.«
»Ed hat den Kontakt auch auf das Nötigste beschränkt. Immerhin waren sie fünfzehn Jahre auseinander. Dein Dad war der Siegertyp … Knallharter Bursche, dein alter Herr, Nahkampfsport, Nahkampfgeschäftsmann. Und Ed die Schwuchtel.« Bei der Vorstellung des ungleichen Geschwisterpaars musste Teddy gegen seinen Willen kichern.
Als er die Kurzbeschreibung seines Vaters hörte, dachte Moth: Genau getroffen.
»Was soll’s. Ed war ein Unfall«, fuhr Teddy fort. »Empfängnis, Geburt und alles, was danach kam – das hat er immer gesagt. Mit Stolz.«
Bei dem Wort Unfall horchte Andy auf. Es sollte ihr etwas sagen. Ich hatte einen Unfall, nur dass es kein Unfall war, es war ein grober, idiotischer Fehler. Ich hab mich auf einer Party, auf der ich nichts zu suchen hatte, von einem Kerl, den ich nicht einmal kannte, vergewaltigen lassen, aber dann hab ich es weggemacht. Sie wandte sich ab, um die Fassung wiederzugewinnen, die sie einen Moment lang verloren hatte.
Auf Moth stürmten immer mehr Fragen ein, doch er stellte nur noch eine letzte: »Was hast du jetzt vor, Teddy?«
»Das ist leicht beantwortet, Moth. Ich werd mich bemühen, nicht rückfällig zu werden, auch wenn die Versuchung groß ist.«
Er griff in seine Hosentasche und zog ein Pillendöschen heraus, das er zwischen zwei Fingern in die Höhe hielt wie ein Sommelier einen wertvollen Wein. »Antabus«, sagte er. »Übles Zeug. Eine Tablette – sollte ich mit dem Zeug im Bauch zur Flasche greifen, dann wird mir so richtig schlecht, ich meine, es kotzt dir die Seele aus dem Leib. Hab’s bis jetzt noch nicht ausprobiert. Ed hat immer die Devise hochgehalten: Wir schaffen das aus eigener Kraft! Wem sag ich das, Moth. Aber jetzt ist Ed nicht mehr, gottverdammt noch mal.«
Moth sah plötzlich seinen Onkel vor sich, an seinem gewohnten Platz hinter seinem Schreibtisch. Er war noch am Leben, eine Pistole lag auf dem Tisch. Dann sah er, wie Ed nach unten griff und die Schublade mit der zweiten Waffe öffnete. Absoluter Blödsinn. Er wollte es gerade sagen, doch dann sah er die Tränen in Teddys Augen und schwieg.
»Entschuldige, Moth«, sagte Teddy mit zittriger, belegter Stimme. »Tut mir leid«, wiederholte er. »Ist alles nicht leicht für mich.«
Was für eine maßlose Untertreibung, dachte Andy Candy.
»Moth, verschone mich bitte, ich hege nicht den leisesten Wunsch, mit dir zu sprechen.«
»Cynthia, bitte, nur eine Minute. Nur ein paar Fragen.«
»Und wer ist das, bitte schön?«
»Meine Freundin Andrea.«
»Hängt die auch an der Flasche?«
»Nein, sie hilft mir ein bisschen. Sie fährt mich zum Beispiel rum.«
»Haben sie schon wieder deinen Führerschein eingesackt?«
»Ja.«
»Erbärmlich. Macht es Spaß, Trinker zu sein, Moth?«
»Cynthia, bitte.«
»Hast du auch nur die leiseste Ahnung, wie vielen Menschen du Kummer bereitet hast, Moth?«
»Ja. Bitte.«
Zögern.
»Fünf Minuten, Moth. Nicht mehr. Kommt rein.«
Andy Candy war von der Feindseligkeit, die Moths Tante im Stakkato auf ihn niederprasseln ließ, irritiert. Wie einen Feuerschwall spie sie jedes Wort aus, und so hielt sich Andy lieber hinter Moth, der sich seinerseits beeilen musste, um mit dem Marschschritt seiner Tante mitzuhalten. Es war ein gipsverputztes dreistöckiges Gebäude – eine Seltenheit in Miami – in einem südlichen Teil von Dade County, inmitten stattlicher, hoher Palmen, manikürter Rasenflächen, einem von Bougainvillea gesäumten Kiesweg – und jeder Menge Geld. An den glatten Innenwänden hingen etliche haitianische Gemälde – riesige farbenfrohe Darstellungen von rappelvollen Märkten, verwitterten Fischerbooten und Blumenmotiven, alle mit einem gewissen autodidaktischen, naiven Flair –, Volkskunst, die in der exklusiven Kunstszene von Miami schamlos ausgebeutet wurde. Moderne Skulpturen bevölkerten die großzügigen Räume bis in die letzte Ecke – überwiegend im Freeform-Stil, viele aus dunklem Holz geschnitzt. In den Fluren herrschte ein seltsamer Widerspruch zwischen Kreativität und strenger Ordnung. Alles hatte seinen Platz, war sorgfältig arrangiert und von einer Ästhetik, die als Ausdruck vollendeter Eleganz jedem Hochglanzmagazin Ehre gemacht hätte. Cynthias Kleidung erfüllte, passend zum Ambiente, die Ansprüche einer Stilikone. Ihre Manolo-Blahnik-Highheels klickten im Sekundentakt über die Böden aus importiertem grauem Granit. Der Schmuck, den die Frau um den Hals trug, war vermutlich mehr wert, schätzte Andy, als ihre Mutter mit dem Klavierunterricht in einem Jahr verdiente.
Höflich fragte Moth: »Wie läuft’s in der Kunstszene, Cynthia?«
Für Andy Candy erübrigte sich die Antwort.
Cynthia sah sich nicht einmal um, als sie sagte: »Ganz gut, trotz der schlechten Wirtschaftslage. Aber verschwende deine fünf Minuten nicht damit, mich nach meinem Geschäft zu fragen, Moth.«
Im Wohnzimmer saß ein Mann auf einer teuren, handgearbeiteten Baumwollcouch. Als sie eintraten, stand er auf. Er war ein paar Jahre jünger als Moths Tante, doch nicht weniger durchgestylt. Er trug einen schmal geschnittenen, haifischgrau schimmernden Anzug zum violetten Hemd, unter dem weit geöffneten Kragen sah man seine makellos glatt rasierte Brust.
Andy registrierte, dass der Mann blondierte Strähnchen trug. Cynthia trat an seine Seite, hakte sich bei ihm unter und blickte die beiden Besucher ungeduldig an.
»Du erinnerst dich vielleicht an meinen Geschäftspartner, Moth?«
»Nein«, log er und erwiderte den Gruß. Er war ihm ein einziges Mal begegnet und wusste, dass der Beau für Cynthias Geschäftsbuchhaltung und sexuelle Wünsche zuständig war und sie gewiss auf beiden Gebieten mit derselben coolen Kompetenz zufriedenstellte. Moth versuchte, sie sich im Bett vorzustellen. Wie zum Teufel schaffen die es zu vögeln, ohne ihre Frisur oder ihr Make-up zu versauen?
»Ich habe Martin für den Fall dazugebeten, dass sich in den nächsten ...« – ein Blick auf die Rolex am Handgelenk – »vier Minuten, die uns bleiben, irgendwelche juristischen Fragen erheben.«
»Juristisch?«, platzte Andy Candy heraus.
Cynthia streifte sie mit einem flüchtigen Blick. »Vielleicht hat Moth das nicht erwähnt, aber sein Onkel und ich haben uns nicht, sagen wir, gütlich getrennt. Ed war ein Lügner, ein Betrüger und, ungeachtet seines Berufs, ein rigoroser, rücksichtsloser Mann.«
Andy wollte protestieren, besann sich aber und schluckte die Bemerkung herunter.
Ohne ihn und Andy Candy zu fragen, ob sie sich setzen wollten, warf sich Cynthia in einen modernen Ledersessel, der so unbequem aussah, dass stehen zu bleiben nähergelegen hätte. Martin stellte sich hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern, entweder um sie am Aufstehen zu hindern oder um ihr den Rücken zu massieren. Oder beides, dachte Andy.
»Na schön«, sagte Moth. »Tut mir leid, wenn du es so empfindest. Dann komme ich am besten gleich zur Sache.«
»Ich bitte darum«, erwiderte seine Tante mit einer genervten Handbewegung.
»Hast du in den Jahren, in denen ihr zusammen wart, jemals von Ed gehört, er fühle sich bedroht oder jemand wolle ihm etwas heimzahlen, ihm Gewalt antun … etwas in der Art?«
»Du meinst, abgesehen von mir«, sagte Cynthia. Sie lachte, doch niemand teilte ihren Humor.
»Ja, abgesehen von dir.«
»Ich war das Opfer, er hat mir eine Menge angetan, und ich habe mich von ihm getrennt. Wenn irgendjemand Grund gehabt hätte, ihn zu erschießen ...«
Statt weiterzusprechen, zuckte sie nur die Achseln, als verschwendete sie mit jedem Wort über ihren Ex nur ihre kostbare Zeit.
»Die Antwort auf deine Frage lautet: Nein.«
»In all den Jahren …«
»Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt: Nein.«
»Du meinst«, unternahm Moth einen dritten Anlauf, den sie jedoch mit einer barschen Handbewegung stoppte.
»Ich hatte immer den Verdacht, dass es in seinem Doppelleben – das er vor mir verheimlicht hat – genügend Leute gab, die sich selbst oder auch ihn so sehr hassten, dass sie zur Waffe greifen und sich in ihrem sturzbesoffenen Selbstmitleid die Kugel geben würden. Und wenn er sich dann mal wieder hat volllaufen lassen und tagelang von der Bildfläche verschwand, konnte ich nicht ausschließen, dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen war. Aber dass irgendeiner von diesen verklemmten, frustrierten schwulen Männern, die er in irgendeiner obskuren Bar getroffen hat, ihm so viele Jahre später plötzlich wieder auflauert, halte ich eher für unwahrscheinlich. Sicher, alles ist möglich, aber ...«, sagte sie, während ihre Körpersprache und ihr Ton signalisierten, dass sie die Möglichkeit ausschloss. »Außerdem hat es nie Erpressungsversuche gegeben, das hätte die Überprüfung seiner Finanzen offenbart, die ich im Zuge unserer Scheidung gerichtlich erzwungen habe. Er hat auch nie irgend so einen psychotischen Killer angebaggert, wie in Auf der Suche nach Mr. Goodbar – ein Roman, von dem du wahrscheinlich nie gehört hast, der aber zu seiner Zeit ziemlich bekannt war. Ich meine, er hat nie versucht, jemanden abzuschleppen, der dann beschloss, ihn umzubringen, statt mit ihm in die Kiste zu springen. Eine Zeitlang hatte ich diese Sorge, aber da war nichts.«
»Demnach hat niemand …«
»Mein Reden.«
»Fällt dir vielleicht jemand ein, der …«
»Nein.«
»In seinem beruflichen oder gesellschaftlichen Umfeld …«
»Nein.«
Wieder winkte sie ungeduldig ab, als wollte sie die wenig erfreulichen Erinnerungen ein für alle Mal vom Tisch wischen.
»Nur um etwas klarzustellen, Moth«, sagte sie schroff. »Ich habe nichts gegen Homosexuelle. Tatsächlich habe ich in meinem Geschäft mit vielen Schwulen zu tun. Das Einzige, wogegen ich entschieden etwas hatte, war die Tatsache, dass Ed mich jahrein, jahraus, jeden Tag, den wir zusammen waren, belogen hat. Mich hinters Licht geführt hat. Mir das Gefühl gegeben hat, als sei ich das Letzte.«
Bei diesen Worten fragte sich Andy Candy, wie jemand ein und dieselbe Sache so richtig und so falsch sehen konnte. Cynthia erhob sich aus dem Loungesessel.
»Nun ja, Moth, so interessant diese kleine Retrospektive auf das Leben meines geschiedenen Mannes sein mag ...« – der Zynismus der Bemerkung war zu dick aufgetragen, als dass man ihn hätte überhören können –, »ich denke, ich habe dir alle Fragen beantwortet oder zumindest alle, die ich beantworten will, somit ist unser kleiner Gedankenaustausch hiermit beendet, und es wird Zeit, dass ihr geht. Du hast mich schon länger als nötig von meiner Arbeit abgehalten.«
Andy Candy trat von einem Bein aufs andere. Sie mochte Moths Tante nicht und wusste, dass es besser wäre, den Mund zu halten, aber dann platzte sie doch heraus:
»Was ist mit der Zeit davor?«
»Vor was?«
»Bevor Sie und Ed zusammen waren …«
»Da war er Assistenzarzt hier an der Uniklinik und ich Doktorandin in Kunstgeschichte. Gemeinsame Freunde haben uns miteinander bekannt gemacht. Wir hatten ein paar Dates, er sagte, er würde mich lieben, was natürlich nicht stimmte. Wir haben geheiratet. Er hat mich jahrelang hintergangen. Wir haben uns scheiden lassen. Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir viel über unsere Vergangenheit geredet haben. Falls er Angst gehabt hätte, dass jemand aus seinen früheren Jahren da draußen herumläuft und ihm irgendwann in ferner Zukunft möglicherweise nach dem Leben trachtet, hätte er es, denke ich, doch mal erwähnt.«
Auch das war, wie Andy unschwer erkannte, gelogen und zielte einzig darauf ab, der Unterhaltung mit der Präzision eines Metzgermessers genau an diesem Punkt ein Ende zu setzen.
»Aber wer könnte eventuell von so einer Sache wissen ...«
Cynthia starrte Andy Candy unversöhnlich ins Gesicht.
»Wenn ihr beiden Detektiv spielen wollt, nur zu, findet es raus.«
Als noch einmal ein Moment des Schweigens eintrat, hielt sich Andy Candy nicht länger zurück: »Ehrlich gesagt, klingt das alles nicht danach, als ob Sie Ed jemals geliebt hätten.«
»Was für eine kindische Bemerkung«, schnauzte Cynthia. »Aber Sie sind ja auch noch ein halbes Kind, was wissen Sie schon von Liebe …«
Ohne eine Antwort abzuwarten, zeigte sie ihnen die Tür.
»Cynthia, bitte«, warf Moth hastig ein. »Hat er jemals davon gesprochen, dass er sich wegen irgendeiner Sache schuldig fühlte oder dass in seiner Vergangenheit mal etwas passiert ist, das ihm zu schaffen machte oder das dir seltsam und verdächtig erschien? Bitte, Cynthia – du hast ihn gut gekannt. Hilf mir auf die Sprünge.«
Cynthia überlegte einen Moment.
»Ja«, sagte sie schließlich, und noch unversöhnlicher als davor. »Es gab vieles in seiner Vergangenheit, das ihn verfolgt hat, jedes für sich genommen eine hinlängliche Erklärung für seinen Tod. Aber auf die eine oder andere Weise gilt das wohl für jeden von uns.«
Eine letzte unmissverständliche Handbewegung.
»Eins, zwei, drei, vier, fünf. Deine Zeit ist um, Moth. Und Ihre auch, Miss X. Martin wird euch nach draußen begleiten. Bitte lass dich hier nie wieder blicken.«
Im Auto bekam Andy Candy plötzlich Atemnot, als müsste sie mit letzter Kraft jedes bisschen stickig heiße Luft in die Lungen saugen. Sie keuchte wie nach einem Wettlauf oder einem Tauchgang, bei dem sie den Weg an die Oberfläche unterschätzt hatte und das Gefühl bekam, als platzten ihr die Lungen. Als sie einen letzten Blick zum Haus hinüberwarf, sah sie Martin, den Buchhalter-Liebessklaven, pflichtbewusst am Eingang stehen, um sicherzustellen, dass sie das Grundstück schleunigst verließen. Sie widerstand der Versuchung, ihm zum Abschied den Stinkefinger zu zeigen. »Mir hat es die ganze Zeit in den Fingern gejuckt, ihr eine reinzuhauen«, sagte sie. »Ich hätte es tun sollen.«
»Hast du je in deinem Leben jemandem eine reingehauen?«
»Nein, aber sie wäre fürs erste Mal die richtige Kandidatin gewesen.«
Moth nickte, doch Andy hatte den Eindruck, als hätte sich eine dunkle Wolke auf ihn herabgesenkt.
Er konnte nur den einzigen Gedanken fassen, was für ein trauriges, schweres Leben sein Onkel so viele Jahre lang ertragen hatte.
Andy sagte nichts.
»Noch eine weitere Station für heute«, sagte er. »Ich wünschte, wir wären ein bisschen klüger als zuvor.«
Andy Candy überlegte einen Moment. »Vielleicht sind wir klüger«, sagte sie, indem sie mehrere Minusfaktoren zu einem Plus addierte. »Ich muss alles noch ein bisschen sacken lassen, aber irgendwie habe ich das Gefühl, dass sie uns gesagt hat, was wir wissen wollten.«
Moth nickte, dann setzte er sich plötzlich kerzengerade auf.
»Buchstützen«, sagte er, »auf beiden Seiten. Ein Mensch, der ihn geliebt hat, ein Mensch, der ihn hasste. Und dann noch ich, der ihn idealisiert hat.«
»Gut«, sagte Andy Candy mit ironischem Lächeln. »Und jetzt fahren wir zu dem Menschen, der ihn verstanden hat.«
Andy verstummte, während sie Moths Bemerkung nachhing. Liebe. Hass. Idealisieren. Verstehen. Ein paar Wörter fehlten ihnen noch, um sich von Ed Warner ein Bild zu machen, das seiner Persönlichkeit einigermaßen nahekam und ohne das sie ihre Suche vergessen konnten.
Sie legte den Gang ein und fuhr los.
Manche Leute, dachte Moth, sitzen hinter einem Schreibtisch und verschanzen sich hinter einer Barriere der Autorität, andere dagegen nehmen das Möbelstück, das zwischen ihnen und dem Besucher steht, selbst kaum wahr und machen es für ihr Gegenüber unsichtbar.
Die Person vor ihnen gehörte offenbar zur zweiten Kategorie – ein durchtrainierter Mann mit schütterem braunem Haar, das ihm in die Stirn fiel und dazu beitrug, dass er jünger wirkte als Anfang bis Mitte fünfzig. Er hatte die Angewohnheit, sich unentwegt die Brille auf der Nase zurechtzurücken. Dank einem Nackenband ließ er sie gelegentlich ganz auf die Brust heruntergleiten, um sie am Ende eines Gedankengangs wieder aufzusetzen, meist ein wenig schief, so dass er sie abermals zurechtrücken musste.
»Es tut mir wirklich leid, Timothy, aber ich weiß nicht, ob ich Ihnen und Miss Martine bei Ihren Nachforschungen weiterhelfen kann. Vertraulichkeit zwischen Arzt und Patient, Sie kennen das ja.«
»... die mit dem Tod des Patienten erlischt«, hielt Moth dagegen.
»Sie klingen eher wie ein Anwalt, Timothy. Aber Sie haben natürlich recht – vorausgesetzt, Sie legen mir einen richterlichen Beschluss auf den Tisch, was Sie nicht getan haben. Sie haben sich als Privatpersonen herbemüht, um mir Fragen zu stellen.«
Nach dieser Richtigstellung beschloss Moth, die Sache behutsam anzugehen, auch wenn er nur eine vage Vorstellung davon hatte, wie. Also leitete er das Gespräch mit denselben Fragen ein, die er an diesem Tag schon zwei anderen Menschen aus dem engeren Umfeld seines toten Onkels gestellt hatte.
»Ist Ihnen irgendeine Person bekannt … oder hat mein Onkel irgendwann einmal jemanden erwähnt, der einen Groll gegen ihn hegte? Sie wissen schon, worauf ich hinauswill, Doktor, einen Groll, der in Gewalt ausgeartet sein könnte?«
Der Psychiater legte eine Denkpause ein, bevor er antwortete – ein Manierismus, der Moth von Onkel Ed vertraut war.
»Nein, da muss ich passen. Gewiss niemand, den Ed in den Jahren unserer Therapie erwähnt hat.«
»Sie würden sich bestimmt erinnern …«
»Ja, wenn im Lauf einer Sitzung etwas zur Sprache kommt, das eine mögliche Bedrohung darstellt, prägt sich das ein, und man macht sich eine entsprechende Notiz, zum einen ganz offensichtlich aus Sicherheitsgründen, zum anderen, weil eine objektive oder subjektiv empfundene Gefahr von dritter Seite im Rahmen einer Therapie von zentraler Bedeutung ist. Abgesehen davon, dass wir als Therapeuten unter Umständen moralisch verpflichtet sind, einen solchen Fall der Polizei zu melden.«
Der Psychiater lächelte. »Tut mir leid, wenn ich ein bisschen doziere.« Er schüttelte den Kopf. »Um es auf den Punkt zu bringen: Nein. Hatte ich zu irgendeinem Zeitpunkt den Eindruck, dass Ed in Gefahr schwebt? Nein. Das Risiko, das er in den früheren Jahren durch seine Lebensweise eingegangen ist – der Alkohol, der anonyme, ungeschützte Sex –, das barg beträchtliche Gefahren, aber das war irgendwann plötzlich vorbei. Danach kam er eigentlich nur noch her, um zu verstehen, was er durchgemacht hatte – eine Menge, wie Sie wohl wissen.«
»Glauben Sie, er hat sich umgebracht?«, platzte Andy heraus.
Der Psychiater schüttelte den Kopf. »Ich hatte ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen, aber am Ende seiner Therapie konnte ich nicht die geringste suizidale Neigung bei ihm erkennen. Sicher, die Polizei hat recht, wenn sie bei ihrer Befragung mit Eifer darauf hinwies, dass er besser als die meisten Menschen in der Lage gewesen wäre, seine Gefühlslage zu verbergen, auch vor mir. Trotzdem, ich glaube nicht.«
Die typisch umständliche Ausdrucksweise seines Berufsstands, um juristisch keine offene Flanke zu bieten.
Wieder schwieg der Arzt, bevor er seinerseits eine Frage stellte:
»Sie haben ihn gut gekannt, Timothy. Was meinen Sie?«
»Nie und nimmer«, erwiderte Timothy.
Der Psychiater grinste.
»Die Polizei hält sich gerne an harte Fakten und Beweise und an das, was bei Gericht unter Eid ans Licht tritt. In dieser Praxis und in der Ihres Onkels geht man den Dingen anders auf den Grund. Wie sieht das in Ihrer Zunft aus, Timothy?«
»Fakten sind Fakten«, antwortete Moth, »auch für den Historiker, aber mit den Jahren ergibt sich ein anderes Bild. Das Material ist ein bisschen wie feuchter Ton.«
Der Doktor lachte. »Treffender Vergleich«, sagte er. »Deckt sich mit meiner Überzeugung. Es sind gar nicht mal die Fakten, die sich ändern, sondern unsere Wahrnehmung, unser Blick darauf.«
Der Arzt griff zu einem Stift auf dem Schreibtisch. Er tippte ein paarmal mit der Spitze auf ein Blatt Papier und begann mit ein paar Kritzeleien.
»Er hat ›Meine Schuld‹ auf ein Papier geschrieben …«, fing Moth an.
»Ja. Das hat mich stutzig gemacht«, sagte der Doktor. »Eine interessante Wortwahl, besonders für einen Psychiater. Was sagt Ihnen das?«
»Es kommt mir fast so vor wie die Antwort auf eine Frage.«
»Ja«, bestätigte der Psychiater. »Aber war das eine Frage, die ihm gestellt worden ist, oder eine, mit der er gerechnet hat?«
Bei diesen Worten drückte er so fest mit der Mine auf, dass ein dicker schwarzer Fleck entstand.
»Wie verfahren Sie als Geschichtsstudent mit einem Dokument, von dem Sie sich Aufschluss über Ihr Thema erhoffen?«
»Nun, der Kontext spielt eine wichtige Rolle«, sagte Moth.
Eigentlich meinte er: der Ort. Die Umstände. Der Zeitpunkt. Wenn Wellington murmelt: »Ich wollte, es wäre Nacht oder die Preußen kämen«, so spricht daraus die Einsicht, dass in diesem Moment Sieg oder Niederlage auf der Kippe standen. Wenn Ed schreibt: ›Meine Schuld‹, dann steckt darin der Verweis auf größere Zusammenhänge.
»Ich hätte noch eine Frage«, sagte Moth.
Der Arzt sagte nichts, sondern lehnte sich nur ein wenig vor.
»Wieso war Ed im Besitz zweier Schusswaffen? Oder auch nur einer?«
Der Therapeut öffnete ein wenig den Mund und dachte nach, bevor er sich zu der Frage äußerte.
»Sind Sie sich da sicher?«, fragte er dann.
»Ja.«
Erneutes Schweigen.
»Das ist mir ein Rätsel«, sagte er dann. »Passt nicht zu Ed.« Eine Weile schien er seinen Überlegungen nachzuhängen – als ob zwei Waffen für eine Facette von Eds Persönlichkeit stünden, zu der er nicht vorgedrungen war. »Und diese Notiz – dieses ›Meine Schuld‹ –, wo genau befand die sich auf seinem Tisch?«
Moth hatte nicht darauf geachtet, und so antwortete er langsam und zögerlich. »Ein wenig links von der Mitte. Soweit ich mich entsinne.«
»Nicht rechts?«
»Nein.«
Der Arzt nickte. Er griff zum Rezeptblock und hielt ihn mit der Hand fest, als wollte er etwas darauf schreiben. Dann zeigte er darauf. »Aber Sie sagen, es befand sich hier ...« wobei er links statt rechts von der Mitte zeigte. »Vielleicht hat das etwas zu bedeuten. Vielleicht auch nicht, auf jeden Fall kommt es mir seltsam vor.«
Er sah zuerst Andy und dann Moth an.
»Ich denke, Sie beide müssen mehr sein als nur neugierig«, sagte er.
Mit diesem Rat beendete er das Gespräch, denn er erhob sich aus seinem Sessel.
Andy Candy hatte schweigend zugehört.
»Wenn wir schon bis jetzt nicht wissen, vor wem Ed Angst hatte, stellt sich vielleicht zuerst die Frage, vor was?«
Der Psychiater lächelte anerkennend. »Ah, eine kluge Frage«, sagte er. »Trotz seiner Bildung und seiner fachlichen Kompetenz fürchtete Ed wie viele Alkoholiker und andere Suchtkranke seine Vergangenheit.«
Andy nickte.
Shakespeare, überlegte sie, spricht von sieben Menschenaltern, vom Kleinkind über die Kindheit und Jugend bis hin zum alten und schließlich dem greisen Menschen. Die letzten Stufen waren Ed nicht mehr vergönnt gewesen, und die frühesten bleiben wahrscheinlich selbst einem Historiker wie Moth verborgen. Folglich sollten wir uns auf die Phasen konzentrieren, in denen Ed erwachsen wurde.
»Wissen Sie, was ihn nach Miami brachte?«
Der Doktor überlegte, bevor er antwortete: »Ja«, sagte er. »In etwa zumindest. Er ist viele Jahre lang vor dem davongelaufen, was er war. Dabei hat er versucht, seine Familie hinter sich zu lassen, die größten Wert auf die Lorbeeren, das Prestige eines Studiums an einer der ersten Universitäten im Lande legte. Es sollte schon Harvard oder Yale oder Columbia sein – der gebührende Rahmen. Ich vermute mal, Timothy ist dieser Druck nur allzu vertraut. Das Gleiche gilt für seine Heirat – tu, was andere von dir erwarten, nicht, was du dir wünschst. Das ist in Miami kein ungewöhnliches Phänomen. Ich weiß, dass wir ein großartiger Zufluchtsort für Flüchtlinge aus aller Welt sind. Aber sind wir das nicht auch für Leute, die vor ihren Gefühlen auf der Flucht sind?«
Andy sah, wie sich Moth vorbeugte. Sie kannte diesen Blick an ihm. Er sieht etwas, dachte sie. Zumindest hoffte sie, dass sie seinen Ausdruck richtig deutete.