KAPITEL 17

Kollision der Hemisphären

Die Geschichte Eurasiens und Amerikas im Vergleich

Die größte Bevölkerungsverdrängung innerhalb der letzten 13 000 Jahre war jene im Gefolge der Kol­lision von Alter und Neuer Welt vor wenigen Jahrhun­derten. Ihr dramatischster, entscheidendster Moment war der Sieg von Pizarros winziger Armee aus spani­schen Abenteurern über den Inka-Herrscher Atahual­pa, den absoluten Herrscher über den größten, wohl­habendsten, bevölkerungsreichsten und administrativ und technisch fortgeschrittensten Staat Amerikas. Ata­hualpas Gefangennahme symbolisiert die Eroberung Nord- und Südamerikas durch die Europäer, denn das gleiche Bündel unmittelbarer Faktoren, das zu der Er­oberung führte, ermöglichte auch die Siege von Euro­päern über andere Zivilisationen der Neuen Welt. Wir wollen uns nun noch einmal der Kollision der Hemi­sphären zuwenden und dabei die seit Kapitel 2 gewon­nenen Erkenntnisse anwenden. Die zu beantworten­de Kernfrage lautet: Warum fuhren Europäer ins Land der Indianer und eroberten es, warum geschah nicht das Umgekehrte? Als Ausgangspunkt der Betrachtung soll ein Vergleich der eurasischen und indianischen Ge­sellschaften im Jahr 1492, dem Zeitpunkt der »Entdeckung« Amerikas durch Kolumbus, dienen.

Beginnen wir mit der Nahrungserzeugung, einem wich­tigen Bestimmungsfaktor lokaler Bevölkerungsgröße und gesellschaftlicher Komplexität, die somit einen der eigentlichen Faktoren hinter dem Eroberungsgesche­hen darstellt. Der auffallendste Unterschied zwischen amerikanischer und eurasischer Nahrungserzeugung zeigte sich in der Bedeutung großer domestizierter Säu­getiere. In Kapitel 8 habe ich Ihnen die 13 Arten vor­gestellt, die in Eurasien zu den wichtigsten Lieferanten von tierischem Eiweiß (Fleisch und Milch), Wolle, Häu­ten und Fellen, zum Haupttransportmittel für Perso­nen und Güter, zum unverzichtbaren Mittel der Krieg­führung und (als Zugtiere und Düngerlieferanten) zum wertvollen Helfer in der Landwirtschaft wurden. Bevor im Mittelalter Wasser- und Windmühlen die eurasi­schen Säugetiere ablösten, waren diese neben menschli­cher Muskelkraft zudem wichtige Lieferanten von »in­dustrieller« Energie, beispielsweise beim Drehen von Schleifsteinen und bei der Wasserförderung aus Brun­nen. Demgegenüber besaßen Nord- und Südamerika nur eine einzige große domestizierte Säugetierart, das Lama/Alpaka, dessen Verbreitungsgebiet auf einen klei­nen Teil der Anden und die Küste Perus beschränkt war. Zwar diente es als Fleisch-, Woll- und Fell-Lieferant so­wie als Lasttier, es ließ sich aber nicht melken, trug nie­mals einen Reiter, zog weder Karren noch Pflug, spen­dete keine Energie und fand auch keine kriegerische Verwendung.

Diese Unterschiede zwischen eurasischen und india­nischen Gesellschaften sind von enormer Tragweite. Sie rühren im wesentlichen von dem Aussterben (der Aus­rottung?) der meisten großen Säugetierarten in Nord- und Südamerika am Ende der letzten Eiszeit her. Wä­ren die amerikanischen Großsäuger nicht ausgestorben, hätte die jüngere Geschichte einen ganz anderen Verlauf nehmen können. Als Cortés und seine Schar zerlumpter Glücksritter im Jahr 1519 an der Küste Mexikos landeten, wären sie womöglich von Tausenden aztekischer Kaval­leristen auf heimischen Pferden ins Meer zurückgejagt worden. Statt von eingeschleppten Pocken dahingerafft zu werden, hätten die Azteken vielleicht die Spanier mit amerikanischen Krankheitserregern, gegen die sie selbst resistent waren, infiziert und auf diese Weise ins Jenseits befördert. Womöglich hätten auf tierischer Muskelkraft basierende amerikanische Zivilisationen selbst Konqui­stadoren ausgeschickt und in Europa Angst und Schrecken verbreitet. Dieser hypothetische Lauf der Dinge war jedoch aufgrund des massenhaften Artensterbens, das sich vor vielen Jahrtausenden in der Neuen Welt ereig­nete, von vornherein ausgeschlossen.

Durch das Verschwinden zahlreicher Säugetierarten in Nord- und Südamerika schnitt Eurasien im Vergleich sehr viel besser ab. Die meisten Domestikationskandi­daten kamen als potentielle Haustiere aus diesem oder jenem von einem halben Dutzend Gründen (Kapitel 8) nicht in Frage. So besaß Eurasien am Ende 13 große Haustierarten, Amerika dagegen nur eine einzige, die obendrein ein recht kleines Verbreitungsgebiet hatte. In beiden Hemisphären gab es daneben domestizier­te Vögel und Kleinsäugetiere – in Nord- und Südame­rika zählten dazu der Truthahn, das Meerschweinchen und die Moschusente (mit lediglich lokaler Verbreitung) und der Hund (größeres Verbreitungsgebiet), in Eura­sien Huhn, Gans, Ente, Katze, Hund, Kaninchen, Ho­nigbiene, Seidenraupe und einige weitere Arten. Die Be­deutung all dieser kleinen domestizierten Arten war je­doch verschwindend gering verglichen mit den großen Säugetieren.

Eurasien und Nord- und Südamerika unterschieden sich auch im Hinblick auf die Erzeugung pflanzlicher Nahrung voneinander, wenngleich der Unterschied hier weniger ausgeprägt war als bei tierischer Nahrung. In Eurasien war die Landwirtschaft im Jahr 1492 weit ver­breitet. Nur in wenigen Gebieten lebten noch Jäger und Sammler, die weder Anbaupflanzen noch Haustiere be­saßen. Hierzu zählten die Ainu im Norden Japans, einige rentierlose sibirische Völker und kleinere Jäger-Sammler-Gruppen in den Wäldern Indiens und Südostasiens, die mit ihren bäuerlichen Nachbarn im Handelsaustausch standen. Eine Reihe weiterer eurasischer Gesellschaf­ten, insbesondere die Hirtenvölker Zentralasiens und die rentierhaltenden Lappen und Samojeden in den eu­rasischen Polargebieten, besaßen zwar Haustiere, trie­ben aber wenig oder gar keinen Ackerbau. Praktisch alle übrigen eurasischen Gesellschaften kannten sowohl Ackerbau als auch Viehzucht.

Auch in Nord- und Südamerika wurde vielerorts Land­wirtschaft betrieben, doch verglichen mit Eurasien war ein viel größerer Teil des Landes von Jägern und Samm­lern bewohnt. Zu den landwirtschaftslosen Regionen zählten der gesamte nördliche Teil Nordamerikas, der südliche Teil Südamerikas, die kanadische Prärie und der gesamte nordamerikanische Westen mit Ausnahme kleinerer Gebiete im Südwesten der USA mit Bewässe­rungslandwirtschaft. Bemerkenswerterweise finden wir unter den Gebieten ohne präkolumbianische Landwirt­schaft auch jene Regionen, die heute zu den fruchtbarsten Anbau- und Weideflächen Nord- und Südamerikas zäh­len: die Pazifikstaaten der USA, den kanadischen Wei­zengürtel, die argentinische Pampa und Teile Chiles mit mediterranem Klima. Daß es dort früher keine Land­wirtschaft gab, ist allein auf den örtlichen Mangel an do­mestizierbaren Wildpflanzen und -tieren sowie auf geo­graphische und ökologische Barrieren zurückzuführen, die verhinderten, daß Kulturpflanzen und die wenigen Haustierarten aus anderen Teilen Nord- und Südameri­kas den Weg in diese Regionen fanden. Sobald die Eu­ropäer Haustiere und Anbaupflanzen eingeführt hatten, verwandelten sich diese Gebiete in fruchtbare Regionen, wovon nicht nur europäische Siedler, sondern in einigen Fällen auch Indianer profitierten. So erlangten indiani­sche Gesellschaften in den nordamerikanischen Prärie­gebieten, im Westen der USA und in der argentinischen Pampa großen Ruhm für ihr Geschick im Umgang mit Pferden, aber auch mit Rinder- und Schafherden. Jene berittenen Präriekrieger und Navajo-Schafzüchter und -Weber prägen heute das Bild weißer Amerikaner von den Indianern; dabei wird oft vergessen, daß die Voraussetzungen für dieses Image erst nach 1492 geschaffen wurden. Diese Beispiele zeigen, daß das einzige, was fehlte, um in weiten Teilen Nord- und Südamerikas die Landwirtschaft auf den Plan zu rufen, geeignete Haustiere und Anbaupflanzen waren. In jenen Teilen Nord- und Südamerikas, in denen die Landwirtschaft schon länger existierte, wies sie fünf schwerwiegende Nachteile gegenüber ihrem eurasischen Pendant auf: starke Abhängigkeit von Mais, einer eiweiß­armen Pflanze (im Gegensatz zu Eurasiens diversen ei­weißreichen Getreidearten); mühsames Einpflanzen der Saat von Hand (statt Breitsaat); Feldbestellung per Hand (statt durch Pflügen mit Hilfe von Zugtieren, wodurch eine einzelne Person ein viel größeres Stück Land bear­beiten kann und die Bestellung fruchtbarer, aber harter Böden und Soden ermöglicht wird, die von Hand nur schwer zu bearbeiten sind, wie etwa die Böden der nor­damerikanischen Prärie); Fehlen von tierischem Dün­ger zur Ertragssteigerung; Verrichtung landwirtschaftli­cher Tätigkeiten wie Dreschen, Mahlen und Bewässern ausschließlich mit menschlicher (statt tierischer) Mus­kelkraft. All diese Unterschiede lassen darauf schließen, daß die eurasische Landwirtschaft im Jahr 1492 durch­schnittlich mehr Kalorien und Eiweiß pro investierter Arbeitsstunde erzeugte als die indianische.

Diese Unterschiede sind von großer Bedeutung für die Erklärung der Ungleichheit eurasischer und indianischer Gesellschaften. Die wichtigsten unmittelbaren Faktoren, die aus ihnen resultierten, waren Unterschie­de in bezug auf Krankheitserreger, Technik, politische Organisationsformen und Schrift. Den unmittelbarsten Zusammenhang zwischen einzelnen Faktoren gab es bei Krankheitserregern und Landwirtschaft. Zu den In­fektionskrankheiten, von denen eurasische Gesellschaf­ten mit hoher Bevölkerungsdichte regelmäßig heimge­sucht wurden und gegen die viele Eurasier folglich eine Immunabwehr entwickelten oder erbliche Abwehr­kräfte besaßen, zählte das ganze Spektrum der verhee­rendsten Krankheiten der Geschichte: Pocken, Masern, Grippe, Pest, Tuberkulose, Fleckfieber, Cholera, Mala­ria und einige weitere. Verglichen mit dieser Gruselliste waren die einzigen Massen-Infektionskrankheiten, die mit Gewißheit in präkolumbianischen Indianergesell­schaften auftraten, nichtsyphilitische Spirochätenin­fektionen. (Wie ich in Kapitel 10 ausführte, ist bis heu­te ungeklärt, ob die Syphilis ursprünglich eurasischer oder amerikanischer Herkunft ist; die Behauptung, die Tuberkulose sei schon vor der Ankunft des Kolumbus’ in Amerika bekannt gewesen, halte ich für unbewie­sen.)

Die Unterschiede in bezug auf Krankheitserreger wa­ren paradoxerweise das Resultat von Unterschieden in der Ausstattung mit ansonsten äußerst nützlichen Haus­tieren. Die meisten der Mikroben, auf deren Konto In­fektionskrankheiten in Gesellschaften mit hoher Be­völkerungsdichte gehen, entwickelten sich im Laufe der Evolution aus Vorläufern, die Auslöser von Infektions­krankheiten bei Haustieren waren, mit denen bäuerli­che Bevölkerungen ab der Zeit vor etwa 10 000 Jahren in dauerndem innigem Kontakt standen. Da Eurasien mit zahlreichen Haustierarten gesegnet war, entwickelten sich dort entsprechend viele derartige Mikroben, wäh­rend in Nord- und Südamerika weder Haustiere noch von diesen übertragene Mikroben stark vertreten wa­ren. Andere Gründe für die geringe Zahl lebensbedrohli­cher Krankheitserreger, die in indianischen Gesellschaf­ten heimisch waren, bestanden darin, daß Dörfer, ide­ale Brutstätten von Krankheitsepidemien, in Nord- und Südamerika erst Tausende von Jahren später aufkamen als in Eurasien und daß die drei Regionen der Neuen Welt, in denen sich Gesellschaften mit urbanen Zen­tren entwickelt hatten (Anden, Mesoamerika, Südwesten der USA) zu keiner Zeit durch so intensive Handelsbe­ziehungen miteinander verbunden waren wie Europa mit Asien, von wo die Pest, die Grippe und vielleicht auch die Pocken nach Europa gelangten. So kam es, daß selbst Malaria und Gelbfieber, jene Infektionskrankhei­ten, die den Europäern bei der Kolonisierung der ame­rikanischen Tropen und speziell beim Bau des Panama­kanals schwer zu schaffen machen sollten, keineswegs amerikanische Krankheiten waren, sondern von Mi­kroben aus tropischen Gegenden der Alten Welt her­vorgerufen werden, die Europäer nach Amerika einge­schleppt hatten.

Weitere unmittelbare Faktoren, die neben Krank­heitserregern bei der Eroberung Nord- und Südame­rikas durch Europäer eine wichtige Rolle spielten, hän­gen mit dem technischen Entwicklungsstand zusammen. Sie waren letztlich das Resultat dessen, daß ökonomisch differenzierte, politisch zentralisierte Agrargesellschaf­ten mit hoher Bevölkerungsdichte, die miteinander in Kontakt und in Konkurrenz standen, in Eurasien schon wesentlich länger existierten. Ich will fünf Bereiche der Technik herausgreifen, die mir wichtig erscheinen:

Erstens waren bis zum Jahr 1492 alle komplexen eur­asischen Gesellschaften zur Verwendung von Metall – erst Kupfer, dann Bronze und schließlich Eisen – bei der Werkzeugherstellung übergegangen. Dagegen wa­ren Stein, Holz und Knochen immer noch die wich­tigsten Arbeitsmaterialien der indianischen Werkzeug­macher, wenn auch in den Anden und einigen anderen Regionen Nord- und Südamerikas Kupfer, Silber, Gold und Legierungen zu Schmuck verarbeitet wurden; bei der Werkzeugherstellung war Kupfer nur von lokaler Bedeutung.

Zweitens war die Militärtechnik in Eurasien viel wei­ter fortgeschritten als in Nord- und Südamerika. Euro­päer verfügten über stählerne Schwerter, Lanzen und Dolche, ergänzt durch kleinere Feuerwaffen und Artil­leriegeschütze; hinzu kamen Stahlrüstungen und -helme oder Kettenpanzer. Die indianischen Krieger waren da­gegen nur mit Knüppeln und Äxten aus Stein oder Holz (in den Anden gelegentlich auch aus Kupfer), Schleudern und Pfeil und Bogen bewaffnet; ihre leichten Rüstun­gen boten ihnen zudem viel schwächeren Schutz. Die indianischen Heere verfügten auch nicht über Tiere als Pendant zu Pferden, deren Nutzen im Gefecht und als schnelles Transportmittel den Europäern riesige Vor­teile verschaffte, bis einige indianische Gesellschaften selbst Pferdebesitzer wurden.

Drittens besaßen eurasische Gesellschaften eine enor­me Überlegenheit bei der Nutzung verschiedener Ener­giequellen als Antriebskraft für Maschinen. Der älte­ste Fortschritt auf diesem Gebiet war der Einsatz von Tieren – Kühen, Pferden, Eseln – als Zugtieren in der Landwirtschaft, zum Drehen von Rädern beim Korn­mahlen, zur Wasserförderung aus Brunnen und zur Be­oder Entwässerung von Feldern. Wasserräder tauchten erstmals in römischer Zeit auf und kamen im Mittelalter, zusammen mit Gezeiten- und Windmühlen, vielerorts in Gebrauch. Gepaart mit Mechanismen zur Kraft über­tragung dienten Maschinen, die Wasser und Wind als Energiequellen nutzten, nicht nur zum Mahlen von Ge­treide und zur Förderung von Wasser, sondern sie fanden daneben unzählige andere »industrielle« Verwendungen, so bei der Zuckergewinnung, beim Betrieb von Gebläse­öfen, bei der Zerkleinerung von Erzen, bei der Papierher­stellung, beim Schleifen und Polieren von Steinen, beim Ölpressen, bei der Salzgewinnung, bei der Tuchherstel­lung und beim Holzsägen. Für gewöhnlich wird der Be­ginn der industriellen Revolution mit der Erfindung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert in England gleich­gesetzt, doch in Wirklichkeit hatte eine industrielle Re­volution auf der Grundlage von Wasser- und Windkraft in vielen Teilen Europas schon im Mittelalter begonnen. In Nord- und Südamerika verrichtete man 1492 dage­gen all jene Tätigkeiten, für die man sich in Eurasien auf Tiere, Wasser- und Windkraft stützte, immer noch ausschließlich mit menschlicher Muskelkraft.

Lange bevor damit begonnen wurde, das Rad zur Kraftübertragung zu nutzen, war es in Eurasien schon zur Grundlage des Güter- und Personenverkehrs gewor­den, und zwar nicht nur in Form von Fuhrwerken, vor die Zugtiere gespannt wurden, sondern auch in Form der Schubkarre, die es ermöglichte, mit erheblich ver­ringertem Kraftaufwand – wenngleich immer noch mit reiner Muskelkraft– schwere Gegenstände zu transpor­tieren. Auch in der Töpferei und der Uhrenherstellung gewann das Rad in Eurasien große Bedeutung. All diese Verwendungszwecke waren den Bewohnern Nord- und Südamerikas fremd; nur in Keramikgegenständen aus Mexiko, die als Spielzeug dienten, tauchte das Rad über­haupt auf. – Das verbleibende Gebiet der Technik, das Erwähnung verdient, ist die Seeschiffahrt. In vielen eu­rasischen Gesellschaften wurden große Segelschiffe ge­baut, von denen einige sogar gegen den Wind segeln und Ozeane überqueren konnten, ausgerüstet mit Sex­tanten, Magnetkompassen und Kanonen. In puncto Fas­sungsvermögen, Geschwindigkeit, Manövrierfähigkeit und Seetüchtigkeit waren diese eurasischen Schiffe den Flößen, die im Handel zwischen den fortgeschritten­sten Gesellschaften der Neuen Welt in den Anden und in Mesoamerika eingesetzt wurden, haushoch überle­gen. Die indianischen Flöße fuhren vor dem Wind her entlang der Pazifikküste. Für Pizarro war es auf seiner ersten Reise nach Peru ein Kinderspiel, ein solches Floß mit seinem Schiff einzuholen und aufzubringen.

Abgesehen von Krankheitserregern und technischem Entwicklungsstand unterschieden sich die eurasischen und indianischen Gesellschaften auch in der politi­schen Organisation. Im ausgehenden Mittelalter war der größte Teil der Fläche Eurasiens unter kleineren und größeren Staaten aufgeteilt. Etliche davon, so die Staaten der Habsburger, der Osmanen und der Chi­nesen, der Mogulstaat in Indien und der mongolische Staat auf dem Höhepunkt seiner Macht im 13. Jahr­hundert, waren vielsprachige Gebilde, deren Ursprung in der Eroberung anderer Staaten lag und die wir des­halb gemeinhin als »Reiche« bezeichnen. Viele eurasi­sche Staaten und Reiche besaßen offizielle Religionen, die den Zusammenhalt förderten, indem sie der Legi­timierung politischer Herrschaft und von Kriegen ge­gen andere Völker dienten. Die Verbreitung von Stam­mesgesellschaften und Nomadengruppen beschränkte sich in Eurasien weitgehend auf die Rentierzüchter in den Polargebieten und die Jäger und Sammler Sibiriens sowie einige Enklaven auf dem indischen Subkontinent und in Südostasien.

Zwei Reiche in Nord- und Südamerika, das der Azte­ken und das der Inkas, ähnelten ihren eurasischen Pen­dants in bezug auf Größe, Bevölkerungszahl, Vielspra­chigkeit, offizielle Religion und den Ursprung in der Eroberung kleinerer Staaten. Neben ihnen existierten in der Neuen Welt keine weiteren politischen Gebilde, die in der Lage waren, Mittel und Kräfte für öffentli­che Bauten oder Kriege in einem solchen Umfang zu mobilisieren, wie es viele eurasische Staaten vermoch­ten. Indessen besaßen sieben europäische Staaten (Spa­nien, Portugal, England, Frankreich, Holland, Schwe­den und Dänemark) die Mittel, um sich zwischen 1492 und 1666 Kolonien in Amerika anzueignen. In der Neu­en Welt gab es ferner zahlreiche Häuptlingsreiche (eini­ge waren im Grunde kleine Staaten), die vornehmlich im tropischen Südamerika, in Teilen Mesoamerikas außerhalb der Reichweite der Azteken und im Südwesten der USA angesiedelt waren. In allen übrigen Regionen Amerikas ging der politische Zusammenschluß der Be­wohner nicht über die Ebene von Stammesgemeinschaf­ten oder Jäger-Sammler-Gruppen hinaus.

Der letzte unmittelbare Faktor, der hier angeführt wer­den soll, ist die Schrift. In den meisten eurasischen Staa­ten gab es eine schriftkundige Bürokratie, und in eini­gen konnte sogar ein beachtlicher Teil der Bevölkerung lesen und schreiben. Die Schrift war ein mächtiges In­strument in der Hand europäischer Gesellschaften; sie spielte eine ungemein wichtige Rolle, indem sie die staat­liche Verwaltung und den wirtschaftlichen Austausch ef­fizienter machte, zu Entdeckungs- und Eroberungsfahr­ten nützliche Informationen beisteuerte und Wissen aus fernen Zeiten und von fernen Orten zugänglich mach­te. Demgegenüber beschränkte sich die Verbreitung der Schrift in Nord- und Südamerika auf die Oberschicht in einem kleinen Teil Mesoamerikas. Die Inkas verwende­ten zwar in ihrem Buchhaltungswesen eine Art Knoten­schrift (Quipu genannt), doch diese war zur Übermitt­lung detaillierter Informationen kaum so geeignet, wie wir es von anderen Schriften kennen.

img_Seite_646_Bild_0001

Eurasische Gesellschaften besaßen demnach zur Zeit des Kolumbus’ große Vorteile gegenüber indianischen Gesellschaften, was Landwirtschaft, Krankheitserreger, Technik (einschließlich Waffen), politische Organisati­on und Schrift anbelangt. Dies waren die Hauptfaktoren, die über den Ausgang der postkolumbianischen Kolli­sionen von Alter und Neuer Welt entscheiden sollten. Je­doch bildeten die genannten Unterschiede, wie sie sich im Jahr 1492 darstellten, lediglich eine Momentaufnah­me historischer Entwicklungen, die sich in Nord- und Südamerika über mindesten 13000 Jahre und in Eurasien über einen wesentlich längeren Zeitraum vollzogen hat­ten. Insbesondere für die indianischen Bewohner Ame­rikas markierte das Jahr 1492 das Ende ihrer eigenstän­digen Entwicklung. Wir wollen uns nun den früheren Phasen der Geschichte beider Kontinente zuwenden.

Tabelle 17.1 gibt einen Überblick über die ungefäh­ren Zeitpunkte wichtiger Entwicklungen in den bedeu­tendsten »Ursprungsgebieten« der beiden Hemisphären (Fruchtbarer Halbmond und China in Eurasien; Anden, Amazonasgebiet und Mesoamerika in der Neuen Welt). Die Tabelle enthält auch Daten für die weniger bedeu­tende Region im Osten der USA sowie für England, bei dem es sich überhaupt nicht um ein »Ursprungsgebiet« handelt, das aber mit aufgeführt ist, um die Ausbrei­tungsgeschwindigkeit von Neuerungen aus Vorderasi­en zu illustrieren.

Die Tabelle muß jeden Fachgelehrten zu heftigem Kopfschütteln veranlassen, da sie äußerst vielschichti­ge historische Sachverhalte auf eine kleine Zahl schein­bar präziser Daten reduziert. Die angegebenen Daten stellen aber lediglich den Versuch dar, nach pragmati­schen Kriterien ungefähre Zeitpunkte auf einem Konti­nuum zu benennen. So ist beispielsweise der Zeitpunkt, an dem ein bedeutender Anteil aller Werkzeuge aus Me­tall hergestellt wurde, wichtiger als das Datum des ersten von irgendeinem Archäologen entdeckten Metallwerk­zeugs, aber wie häufig mußten Metallwerkzeuge vor­kommen, um das Attribut »weit verbreitet« zu verdie­nen? Es kommt natürlich auch vor, daß in verschiedenen Teilen des gleichen Ursprungsgebiets ein und dieselbe Neuerung zu unterschiedlichen Zeitpunkten in Erschei­nung tritt. So tauchten in der Andenregion Keramikge­genstände in Küstengebieten Ecuadors 1300 Jahre frü­her (3100 v. Chr.) auf als in Peru (1800 v. Chr.). Manche Zeitpunkte, zum Beispiel die der Entstehung von Häupt­lingsreichen, sind aus archäologischen Funden schwe­rer abzuleiten, als wenn man es mit der Datierung von Artefakten wie Keramiken oder Metallwerkzeugen zu tun hat. Einige der Daten in Tabelle 17.1 sind überdies nicht sehr zuverlässig, insbesondere die für den Beginn der Landwirtschaft in Amerika. Dennoch bietet die Ta­belle, solange man sich vergegenwärtigt, daß sie eine grobe Vereinfachung darstellt, nützliche Anhaltspunk­te für den Vergleich des Geschichtsverlaufs auf beiden Kontinenten.

Der Tabelle zufolge fing die Landwirtschaft in den eu­rasischen »Ursprungsgebieten« etwa 5000 Jahre früher als in den amerikanischen an, einen wesentlichen Bei­trag zur menschlichen Ernährung zu leisten. Ein wichti­ger Punkt muß in diesem Zusammenhang erwähnt wer­den: Während das ungefähre Alter der Landwirtschaft in Eurasien unumstritten ist, gibt es über den Zeitpunkt ihres Beginns in Amerika Kontroversen. Insbesonde­re werden von Archäologen häufig wesentlich ältere als die in der Tabelle genannten Zeitpunkte für die Dome­stikation von Pflanzen angegeben, wobei man sich auf Fundstätten in Mexiko (Höhle von Coxcatlán) und Peru (Höhle von Guitarrero) sowie mehrere weitere amerika­nische Ausgrabungsstätten beruft. Diese Behauptungen werden zur Zeit aus mehreren Gründen einer erneuten Prüfung unterzogen: Neuere direkte Radiokarbon-Da­tierungen der Überreste von Pflanzen haben in einigen Fällen jüngere Daten ergeben; die zuvor gemeldeten älte­ren Daten basierten dagegen auf der Analyse von Holz­kohleresten, von denen man lediglich annahm, daß sie aus derselben Zeit stammten wie die Pflanzenreste, was aber möglicherweise nicht zutraf; zudem ist ungewiß, ob es sich bei einigen der älteren Pflanzenüberreste tat­sächlich um Kulturpflanzen handelte oder lediglich um Wildpflanzen, die in der Natur gesammelt und zur La­gerstätte getragen wurden. Doch selbst wenn die Pflan­zendomestikation in Amerika früher begonnen haben sollte als nach den Daten in Tabelle 17.1, so wurde die Landwirtschaft in den amerikanischen Regionen den­noch mit Sicherheit erst viel später zur Grundlage der Ernährung und einer seßhaften Lebensweise als in den eurasischen.

Wie wir in Kapitel 4 und 9 sahen, spielten in beiden Hemisphären nur relativ kleine Gebiete die Rolle von »Ursprungsgebieten«, in denen die Landwirtschaft unab­hängig entstand, um sich von dort auszubreiten. Es han­delte sich dabei in Eurasien um den Bereich des Frucht­baren Halbmonds und China und in Amerika um die Anden, das Amazonasgebiet, Mesoamerika und den Osten der USA. Das Tempo der Ausbreitung der wich­tigsten Entwicklungen ist für Europa am besten doku­mentiert, sicher wegen der großen Zahl dortiger Archäo­logen. Wie Tabelle 17.1 für England zeigt, liegt zwischen dem Aufkommen von Landwirtschaft und seßhaftem Dorfleben in Vorderasien und dem Eintreffen dieser Er­rungenschaften in England eine Zeitspanne von 5000 Jahren; dagegen brauchten Häuptlingsreiche, Staaten, die Schrift und insbesondere Metallwerkzeuge für den Weg von Vorderasien nach England erheblich weniger Zeit: 2000 Jahre vergingen, bis Metallwerkzeuge aus Kupfer und Bronze in England weit verbreitet waren, und nur 250 Jahre, bis viele Engländer auch Eisenwerkzeuge besaßen. Offenbar war es für eine Gesellschaft seßhafter Bauern wesentlich leichter, die Metallverarbeitung von einer anderen Agrargesellschaft zu »borgen«, als für no­madische Jäger und Sammler, die Landwirtschaft von seßhaften Bauern zu übernehmen (oder von Bauern ver­drängt zu werden).

Woran lag es, daß sich alle wichtigen Entwicklungen in Amerika später vollzogen als in Eurasien? Vier Grup­pen von Gründen bieten sich zur Beantwortung die­ser Frage an: Amerika hatte einen späteren Start, eine schlechtere Ausstattung mit Wildpflanzen und -tieren, die als Domestikationskandidaten in Frage kamen, so­wie größere Diffusionsbarrieren, und möglicherweise waren die Gebiete mit hoher Siedlungsdichte in Ame­rika kleiner und isolierter als in Eurasien.

Beginnen wir mit dem zeitlichen Vorsprung Eurasi­ens. Seit ungefähr einer Million Jahren leben Menschen in Eurasien, also sehr viel länger als in Nord- und Süd­amerika. Nach den archäologischen Funden, die wir in Kapitel 1 erörterten, begann die Besiedlung Amerikas, angefangen mit Alaska, erst um 12 000 v. Chr. Einige Jahrhunderte vor 11 000 v. Chr. begann der Vorstoß der sogenannten Clovisjäger in den Raum südlich der kana­dischen Eiskappe, um gegen 10 000 v. Chr. die Südspitze Südamerikas zu erreichen. Selbst wenn sich die Behaup­tung als wahr erweisen sollte, daß es ältere menschliche Bewohner in Amerika gab, war doch die Zahl jener po­stulierten Prä-Clovis-Menschen aus unbekannten Grün­den sehr spärlich, und sie gründeten auch keine größere Zahl eiszeitlicher Jäger- und Sammlergesellschaften mit wachsenden Bevölkerungen und Neuerungen in Technik und Kunst wie in der Alten Welt. In Vorderasien nahte nur 1500 Jahre, nachdem die Nachfahren der Clovis-Jä­ger den Süden von Südamerika erreicht hatten, bereits die Geburt der Landwirtschaft.

Mehrere mögliche Konsequenzen des eurasischen Vor­sprungs verdienen eine nähere Betrachtung. Erstens: Könnte nach 11 000 v. Chr. sehr viel Zeit verstrichen sein, bis Nord- und Südamerika sich mit Menschen gefüllt hatten? Eine Analyse der wahrscheinlichen Zahlen und Größenordnungen führt zu dem Ergebnis, daß dieser Ef­fekt zur Erklärung der 5000 Jahre späteren Entstehung bäuerlicher Siedlungen kaum beitragen kann. Nach den Berechnungen in Kapitel 1 hätte die Besiedlung Nord- und Südamerikas durch Jäger und Sammler schon in­nerhalb von 1000 Jahren einen Sättigungsgrad erreicht, selbst wenn ursprünglich nicht mehr als 100 wagemu­tige Pioniere von Kanada aus südwärts in die USA vor­gedrungen sein sollten und ihr Bevölkerungswachstum lediglich ein Prozent pro Jahr betrug. Bei einer Ausbrei­tungsgeschwindigkeit von einer Meile im Monat hätten jene Pioniere die Südspitze Südamerikas schon 700 Jah­re nach der Überschreitung der kanadischen Grenze er­reicht. Diese angenommenen Ausbreitungs- und Bevöl­kerungswachstumsraten sind keineswegs hoch, sondern im Gegenteil sehr niedrig, vergleicht man sie mit bekann­ten Raten der Besiedlung unberührter beziehungsweise spärlich besiedelter Gebiete in der jüngeren Geschichte. Es ist deshalb anzunehmen, daß der gesamte amerika­nische Doppelkontinent binnen weniger Jahrhunderte nach der Ankunft der ersten Kolonisten vollständig von Jägern und Sammlern in Besitz genommen war.

Entsprach zweitens die Verspätung von 5000 Jahren möglicherweise zum großen Teil dem Zeitraum, den die ersten Amerikaner benötigten, um mit den lokalen Pflanzen-, Tier- und Gesteinsarten ihrer neuen Umge­bung vertraut zu werden? Wenn wir wieder den Ver­gleich mit neuguineischen und polynesischen Jägern und Sammlern oder Bauern ziehen, die in fremde Gebiete vordrangen und sie besiedelten, wie die Maoris in Neu­seeland oder die Tudawhe im neuguineischen Karimui-Becken, dann ist anzunehmen, daß die ersten Besiedler Amerikas in weit weniger als einem Jahrhundert die für die Steingewinnung lohnendsten Orte entdeckten und lernten, nützliche von giftigen Wildpflanzen und -tieren zu unterscheiden.

Welche Rolle spielte drittens der zeitliche Vorsprung der Eurasier auf technischem Gebiet? Die frühen Bauern in Vorderasien und China waren Erben all jener Techni­ken, die von der Anatomie und vom Verhalten her mo­derne Homo sapiens in diesen Regionen seit mehreren Jahrzehntausenden hervorgebracht hatten. So konnten die ersten Getreidebauern Vorderasiens auf Steinsicheln, unterirdische Nahrungsspeicher und andere Errungen­schaften zurückgreifen, die dortige Jäger und Sammler zum Ernten, Lagern und Verarbeiten von Wildgetreide genutzt hatten. Demgegenüber führten die ersten Ame­rikaner bei ihrer Ankunft in Alaska Gegenstände mit sich, die auf die arktische Tundra Sibiriens zugeschnit­ten waren. Für jeden neuen Lebensraum, den sie betra­ten, mußten sie die geeigneten Werkzeuge und Metho­den selbst erfinden. Dieser technische Rückstand könnte wesentlich zur Verzögerung der weiteren Entwicklung in Nord- und Südamerika beigetragen haben.

Ein Faktor, der noch offenkundiger zu der Verspätung beitrug, war die Ausstattung mit Wildpflanzen und -tie­ren, dem »Rohmaterial« aller Domestikationsbemühun­gen. Wie in Kapitel 5 erörtert, entscheiden sich Jäger und Sammler nicht etwa für die Landwirtschaft, weil sie den Segen vorhersehen, der in ferner Zukunft ihren Nach­fahren zuteil werden könnte, sondern weil die bäuerliche Nahrungsproduktion von Beginn an Vorteile gegenüber der Lebensweise der Jäger und Sammler verspricht. Ver­glichen mit dem Jagen und Sammeln, war die im Entste­hen begriffene Landwirtschaft in Amerika weniger at­traktiv als in Vorderasien oder China, was zum Teil dar­an lag, daß in Nord- und Südamerika so gut wie keine domestizierbaren Säugetiere zur Verfügung standen.

Deshalb waren die angehenden Bauern in Amerika weiterhin auf Wild als Lieferant von tierischem Eiweiß angewiesen und blieben zwangsläufig Teilzeit-Jäger und -Sammler, während in Vorderasien ebenso wie in China die Domestikation von Tieren zeitlich sehr dicht auf die Pflanzendomestikation folgte, so daß Anbaupflanzen und Haustiere bald die Oberhand über die Jagd- und Sammelwirtschaft gewannen. Hinzu kam, daß eurasische Haustiere ihrerseits die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtschaft verbesserten, indem sie Dünger lieferten und später Pflüge zogen.

Bestimmte Merkmale amerikanischer Wildpflan­zen trugen ebenfalls dazu bei, daß die Landwirtschaft in Amerika im Vergleich zum Jagen und Sammeln schlechter abschnitt. Dies läßt sich am deutlichsten für den Osten der USA belegen, wo weniger als ein Dut­zend Wildpflanzen domestiziert wurden; darunter wa­ren kleinsamige, aber keine großsamigen Getreidearten und auch keine Hülsenfrüchte, Faserpflanzen, Obst- oder Nußbäume. Ähnlich klar liegen die Dinge bei Mesoame­rikas Hauptanbaupflanze, dem Mais, der auch in ande­ren Teilen Nord- und Südamerikas zum wichtigsten Kul­turgewächs aufstieg. Während in Vorderasien aus Wild­weizen und -gerste mit minimalen Änderungen binnen weniger Jahrhunderte Kulturpflanzen gezüchtet wurden, dauerte es möglicherweise Jahrtausende, bis aus Teosinte Mais wurde; dazu bedurfte es drastischer Veränderun­gen der Reproduktionsbiologie, die Samen mußten viel größer werden und ihre steinharten Schalen verlieren, und auch die Kolben mußten enorm wachsen.

Selbst wenn wir von den jüngst postulierten späteren Zeitpunkten des Beginns der Pflanzendomestikation in Amerika ausgehen, wären somit etwa 1500 bis 2000 Jahre zwischen jenem Auftakt (um 3000–2500 v. Chr.) und der Existenz ganzjährig bewohnter Dörfer an vielen Orten Mesoamerikas (1800–500 v. Chr.), in den Anden und im Osten der USA vergangen. Die indianische Landwirt­schaft blieb lange Zeit ein bloßes Anhängsel der Nah­rungsgewinnung durch Jagen und Sammeln und dien­te nirgends als Lebensgrundlage größerer Populationen. Geht man von den traditionell angenommenen früheren Zeitpunkten des Beginns der Pflanzendomestikation in Amerika aus, so vergingen nicht 1500 bis 2000, sondern 5000 Jahre, bis Dörfer entstanden, die auf Landwirtschaft basierten. Im Unterschied dazu war die Entstehung von Dörfern in großen Teilen Eurasiens zeitlich eng mit dem Beginn der Landwirtschaft verknüpft. (Die Jagd- und Sammelwirtschaft war in manchen Gebieten beider He­misphären schon vor dem Aufkommen der Landwirt­schaft ertragreich genug, um die Entstehung von Dör­fern zu ermöglichen – in der Alten Welt beispielsweise in Japan und Vorderasien, in der Neuen Welt in Küsten­gebieten Ecuadors und im Amazonasgebiet.) Welchen Stellenwert der Mangel an domestizierbaren Wildpflan­zen und -tieren in der Neuen Welt hatte, veranschau­lichen die Veränderungen, die in indianischen Gesell­schaften durch das Eintreffen fremder Anbaupflanzen oder Haustiere aus anderen Teilen Nord- und Südame­rikas beziehungsweise aus Eurasien ausgelöst wurden. Beispiele hierfür sind die Ankunft von Mais im Osten der USA und im Amazonasgebiet, die Einführung des im südlichen Andenraum domestizierten Lamas in den nördlichen Anden und das Auftauchen des Pferdes in vielen Teilen Nord- und Südamerikas.

Neben Eurasiens früherem Start und seinen Tier- und Pflanzenarten trug auch die leichtere Ausbreitung von Tieren, Pflanzen, Ideen, Techniken und Menschen zur Beschleunigung der dortigen Entwicklungen bei. Die Ur­sache liegt in verschiedenen geographischen und ökolo­gischen Faktoren. Im Gegensatz zur in Amerika domi­nierenden Nord-Süd-Achse ermöglichte die eurasische Ost-West-Achse die Ausbreitung von Pflanzen und Tie­ren, Menschen und kulturellen Errungenschaften ohne einen wesentlichen Wechsel der geographischen Breite und der damit verbundenen Umwelteigenschaften. An­ders als Eurasien mit seiner relativ konstanten Breite ent­lang der gesamten Ost-West-Ausdehnung verengt sich die Neue Welt in Mittelamerika und besonders in Pana­ma zu einem Nadelöhr. Nicht zuletzt waren Nord- und Südamerika auch durch Gebiete, die sich für landwirt­schaftliche Zwecke oder eine dichte menschliche Besied­lung nicht eigneten, stärker zergliedert. Ökologische Bar­rieren dieser Art waren beispielsweise die Regenwälder der Landenge von Panama, die mesoamerikanische Zi­vilisationen von solchen in den Anden und im Amazo­nasgebiet trennten, die Wüsten im Norden Mexikos, die als Hindernis zwischen Mesoamerika und den Zivilisa­tionen im Südwesten und Südosten der USA lagen, te­xanische Trockengebiete zwischen dem Südwesten und dem Südosten der USA sowie die Wüsten und hohen Berge, die Gebiete an der Pazifikküste der USA, die an sich für Landwirtschaft gut geeignet waren, unzugäng­lich machten. Die Folge war, daß zwischen den Zivili­sationszentren in Mesoamerika, im Osten der USA, in den Anden und im Amazonasgebiet kein Transfer von Haustieren, Schrift oder politischen Organisationsfor­men und nur eine begrenzte beziehungsweise äußerst langsame Diffusion von Anbaupflanzen und technischen Neuerungen stattfand.

Einige Konsequenzen dieser inneramerikanischen Barrieren verdienen besondere Erwähnung. So fand die Landwirtschaft vom Südwesten der USA und vom Mississippital nie den Weg zu den heutigen amerikani­schen Kornkammern in Kalifornien und Oregon, de­ren indianische Bewohner Jäger und Sammler blieben, weil es ihnen schlichtweg an geeigneten Anbaupflanzen und Haustieren mangelte. Aus dem Andenhochland ge­langten Lamas, Meerschweinchen und die Kartoffel nie ins Hochland von Mexiko, so daß Mesoamerika und Nordamerika ganz ohne domestizierte Säugetiere (vom Hund abgesehen) auskommen mußten. In umgekehrter Richtung drang die domestizierte Sonnenblume aus dem Osten der USA nie bis nach Mesoamerika vor, und der domestizierte Truthahn schaffte es von Mesoamerika aus weder bis nach Südamerika noch in den Osten der USA. Mais und Bohne brauchten 3000 beziehungswei­se 4000 Jahre, um die gut 1100 Kilometer von den Ackern Mexikos bis zu denen im Osten der USA zu über­winden. Nachdem der Mais dort endlich eingetroffen war, vergingen sieben weitere Jahrhunderte, bis eine an die nordamerikanischen Klimaverhältnisse angepaßte Sorte gezüchtet war; vermutlich löste sie am Mississip­pi die Entstehung der Moundbuilder-Kultur aus. Mais, Bohnen und Kürbisse benötigten möglicherweise meh­rere Jahrtausende, um von Mesoamerika in den Südwe­sten der USA zu gelangen. Während sich Anbaupflanzen aus Vorderasien schnell genug nach Westen und Osten ausbreiteten, um an anderen Orten der eigenständigen Domestikation der gleichen oder eng verwandter Arten zuvorzukommen, führten die geographischen und öko­logischen Barrieren in Nord- und Südamerika dazu, daß etliche Kulturpflanzen an verschiedenen Orten parallel domestiziert wurden.

Ebenso bemerkenswert wie die Auswirkungen der Barrieren auf die Ausbreitung von Anbaupflanzen und Haustieren waren ihre Folgen in anderen Bereichen menschlicher Zivilisation. Alphabete, deren Ursprung letztendlich im östlichen Mittelmeerraum lag, wurden von allen komplexen Gesellschaften Eurasiens – außer in einigen Regionen Ostasiens, in denen sich Ableger des chinesischen Schriftsystems etablierten – übernommen, von England bis nach Indonesien. Demgegenüber fanden die Schriftsysteme Mesoamerikas, die einzigen der Neuen Welt, nie den Weg zu den Zivilisationen im Anden­hochland und im Osten der USA, wo sie womöglich auf fruchtbaren Boden gefallen wären. Das in Mesoamerika erfundene Rad, das dort nur als Spielzeug Verwendung fand, erhielt nie Gelegenheit, sich mit dem in den Anden domestizierten Lama zusammenzutun, um der Neuen Welt zu Fortbewegung auf Rädern zu verhelfen. In Eura­sien maß die Ausdehnung Makedoniens und des Römi­schen Reiches von West nach Ost an die 5000 Kilometer, das Mongolenreich brachte es sogar auf fast 10 000 Kilometer. Die Staaten und Reiche Mesoamerikas unterhiel­ten dagegen weder mit den Häuptlingsreichen im Osten der USA (ca. 1100 Kilometer weiter nördlich) noch mit den Reichen und Staaten der Anden (ca. 2000 Kilometer weiter südlich) politische Beziehungen – wahrscheinlich wußten sie nicht einmal von deren Existenz.

Die stärkere geographische Zersplitterung Nord- und Südamerikas im Vergleich zu Eurasien spiegelte sich auch im Bereich der Sprachen und ihrer Verbreitungs­gebiete wider. In Eurasien werden alle Sprachen bis auf wenige Ausnahmen von Linguisten übereinstimmend in etwa ein Dutzend Sprachfamilien eingeordnet, von denen jede bis zu einigen hundert verwandte Sprachen umfaßt. So setzt sich beispielsweise die indogermanische Sprachfamilie, zu der Englisch ebenso wie Französisch, Russisch, Griechisch und Hindu gehören, aus etwa 144 Sprachen zusammen. Nicht wenige Sprachfamilien be­sitzen ein großes, geschlossenes Verbreitungsgebiet – das der indogermanischen Sprachfamilie umfaßt den größ­ten Teil Europas sowie weite Teile Westasiens einschließ­lich Indiens. Die Erkenntnisse von Linguisten, Histori­kern und Archäologen lassen zusammen nur den Schluß zu, daß jeder dieser Sprachgroßräume das Ergebnis der historischen Expansion einer Vorgängersprache ist, auf die eine örtliche sprachliche Differenzierung folgte, die zur Entstehung einer Familie verwandter Sprachen führ­te (siehe Tabelle 17.2). Die meisten derartigen Expansio­nen sind anscheinend auf die Überlegenheit der bäu­erlichen Sprecher der jeweiligen Vorgängersprache ge­genüber Jäger- und Sammlervölkern zurückzuführen. Wir haben uns mit diesem Thema bereits in Kapitel 15 und 16 am Beispiel der sinotibetischen, austronesischen und anderer ostasiatischer Sprachfamilien auseinander­gesetzt. Zu den wichtigsten sprachlichen Ausbreitungs­bewegungen des letzten Jahrtausends zählen jene, in de­ren Verlauf indogermanische Sprachen von Europa nach Amerika und Australien, die russische Sprache von Ost­europa nach Sibirien und Türkisch (eine Sprache der al­taischen Sprachfamilie) von Zentralasien nach Westen in die Türkei gelangten.

Mit Ausnahme der eskimo­aleutischen Sprachfamilie der amerikanischen Arktis und der Na-Dené-Sprachfa­milie in Alaska, Nordwestkanada und im Südwesten der USA gibt es in ganz Nord- und Südamerika keine Bei­spiele einer größeren sprachlichen Expansion, über die sich Sprachwissenschaftler auch nur halbwegs einig wä­ren. Die meisten Experten für Indianersprachen konnten neben dem Eskimo-Aleutischen und dem Na-Dené keine weiteren großen, klar abgrenzbaren sprachlichen Grup­pierungen feststellen. Bestenfalls unterteilen sie die übrigen Indianersprachen (deren Zahl nach verschiedenen Schätzungen zwischen 600 und 2000 liegt) in hundert oder mehr Sprachgruppen oder Einzelsprachen. Eine ab­weichende Meinung vertritt der amerikanische Linguist Joseph Greenberg, der alle Indianersprachen mit Aus­nahme der Eskimo­aleutischen und Na-Dené-Sprachen einer einzigen großen Sprachfamilie, Amerind genannt, mit rund einem Dutzend Zweigen zuordnet.

img_Seite_661_Bild_0001

Tabelle 17.2 Sprachenausbreitung in der Alten Welt

Einige von Greenbergs Unterfamilien sowie einige der Gruppierungen, die von anderen Linguisten beschrieben wurden, könnten zum Teil auf Bevölkerungsexpansionen in der Neuen Welt zurückgehen, hinter denen als Trieb­kraft die Landwirtschaft stand. Ich denke dabei an die uto­aztekischen Sprachen Mesoamerikas und der west­lichen USA, die Otomangue-Sprachen Mesoamerikas, die Natchez-Muskogee-Sprachen im Südosten der USA und die arawakischen Sprachen der Karibik. Daß sich Linguisten so schwer auf eine einheitliche Klassifizie­rung der Indianersprachen verständigen können, spie­gelt indes die Schwierigkeiten wider, denen sich komple­xe indianische Gesellschaften bei dem Versuch, inner­halb der Neuen Welt zu expandieren, ausgesetzt sahen. Wäre es Landwirtschaft treibenden Stämmen gelungen, mit ihren Anbaupflanzen und Haustieren große Gebiete in Besitz zu nehmen und innerhalb kurzer Zeit die dort lebenden Jäger und Sammler zu verdrängen, hätten sie gewiß, ähnlich wie eurasische Völker, Spuren in Form leicht erkennbarer Sprachfamilien hinterlassen, und die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den verschiede­nen Indianersprachen wären nicht so umstritten.

Wir haben bisher drei Gruppen tieferer Ursachen iden­tifiziert, die entscheidend dafür waren, daß die euro­päischen Eindringlinge in Amerika die Oberhand ge­wannen: Eurasiens großer zeitlicher Vorsprung bei der menschlichen Besiedlung, die Überlegenheit seiner Land­wirtschaft infolge der besseren Ausstattung mit domesti­zierbaren Pflanzen und besonders Tieren sowie die ge­ringen geographischen und ökologischen Barrieren, die der Ausbreitung von Tieren, Pflanzen, Ideen, Techniken und Menschen im Wege standen. Eine vierte Ursache, al­lerdings spekulativerer Art, könnte man aus dem rätsel­haften Ausbleiben bestimmter Erfindungen in Nord- und Südamerika ableiten, genauer gesagt der Nichterfindung von Schrift und Rad in komplexen Andengesellschaften, obwohl diese ungefähr gleich alt waren wie jene me­soamerikanischen Gesellschaften, in denen Schrift und Rad erfunden wurden; rätselhaft ist auch, daß Räder in Mesoamerika nur in Form von Spielzeug Verwendung fanden und später sogar wieder in Vergessenheit gerie­ten, obwohl sie dort sicher von großem Nutzen hätten sein können (wie die Schubkarre in China). All das er­innert an ebenso verblüffende Nichterfindungen bezie­hungsweise das Abhandenkommen von Erfindungen in kleinen isolierten Gesellschaften, beispielsweise in Tas­manien, Australien, Japan, auf polynesischen Inseln und in der amerikanischen Arktis. Gewiß, Nordund Süda­merika sind zusammen alles andere als klein: Die Fläche des Doppelkontinents entspricht immerhin 76 Prozent der Fläche Eurasiens, und auch die Zahl seiner Bewoh­ner konnte sich im Jahr 1492 im Vergleich zur eurasi­schen vermutlich sehen lassen. Wie wir erfahren haben, sind Nord- und Südamerika jedoch in »Inseln« zersplit­tert, zwischen deren Kulturen kaum Kontakte bestanden. Vielleicht ist die Geschichte des Rads und der Schrift in Amerika ein Beispiel für das gleiche Phänomen, das wir in extremer Form bei echten Inselkulturen beobachten konnten. – Nach mindestens 13 000jähriger getrennter Entwicklung kam es innerhalb der letzten tausend Jahre schließlich zur Kollision zwischen amerikanischen und eurasischen Kulturen. Zuvor hatten sich die Kontakte zwischen Alter und Neuer Welt auf Jäger und Sammler an beiden Ufern der Beringstraße beschränkt.

Von indianischer Seite wurde nie der Versuch unter­nommen, Eurasien zu kolonisieren, sieht man davon ab, daß sich eine kleine Population von Inuit (Eskimos) aus Alaska auf der anderen Seite der Beringstraße an der si­birischen Küste niederließ. Die ersten Versuche einer Kolonisierung Amerikas, die historisch belegt sind, un­ternahmen Wikinger in arktischen und subarktischen Breiten (Abbildung 17.1). Von Norwegen aus besiedelten sie im Jahr 874 n. Chr. Island und von dort im Jahr 986 n. Chr. Grönland, um dann zwischen etwa 1000 und 1350 n. Chr. mehrfach Fahrten zur Nordostküste Nord­amerikas zu unternehmen. Die einzigen bisher entdeck­ten Überreste einer Wikinger-Siedlung in Amerika lie­gen in Neufundland – vermutlich jener Region, die in alten Wikinger-Sagen als Vinland (Weinland) bezeich­net wurde. In den Sagen ist allerdings auch von anderen Landungsstellen die Rede, die offenbar weiter südlich an den Küsten Labradors und der Baffininsel lagen.

img_Seite_665_Bild_0001

Abbildung 17.1 Expansion der Wikinger von Norwegen über den Nordatlantik, mit den ungefähren Zeitpunkten ihrer Ankunft an den verschiedenen Stationen

Das isländische Klima ermöglichte Viehhaltung und in sehr bescheidenem Umfang auch Ackerbau. Die In­sel ist groß genug, um den Nachfahren der Wikinger bis heute als Lebensgrundlage zu dienen. Dagegen ist Grönland zum größten Teil von Eismassen bedeckt, und selbst die beiden Fjorde, an denen die Bedingungen für die Landwirtschaft noch am günstigsten sind, konnten nicht nennenswert zur Nahrungsversorgung der Wikin­ger beitragen. Die grönländische Wikinger-Population umfaßte nie mehr als einige tausend Menschen, die im­mer auf Lebensmittel- und Eisenlieferungen aus Norwe­gen und Holz aus Labrador angewiesen waren. Anders als die Osterinsel und andere entlegene polynesische In­seln vermochte Grönland keine autarke bäuerliche Ge­sellschaft zu ernähren, wenngleich vor, während und nach der Wikinger-Zeit Eskimos auf der Insel lebten und den Daseinskampf als Jäger und Sammler erfolg­reich meisterten. Die Bevölkerungen Islands und Nor­wegens waren selbst zu klein und zu arm, um die grön­ländischen Wikinger auf die Dauer zu unterstützen.

Während der »Kleinen Eiszeit«, die im 13. Jahrhun­dert einsetzte, führte die Abkühlung des Nordatlantiks zu einer weiteren Verschlechterung der Bedingungen für die Landwirtschaft auf Grönland, aber auch für Grön­landfahrten von Norwegen und Island aus. Zum letzten überlieferten Kontakt zwischen Grönländern und Eu­ropäern kam es im Jahr 1410, als ein isländisches Schiff im Sturm vom Kurs abkam. Als Europäer im Jahr 1577 endlich wieder begannen, Grönland zu besuchen, exi­stierte die Wikinger-Kolonie nicht mehr – sie war offen­bar irgendwann im 15. Jahrhundert sang- und klanglos verschwunden.

Indessen lag die Küste Nordamerikas, bedingt durch den Stand des Schiffbaus in der Heimat der Wikinger im Zeitraum 986–1410 n. Chr., außerhalb der Reichweite von Schiffen, die direkt von Norwegen in See stachen. Statt dessen unternahmen die Wikinger ihre Amerikafahr­ten von Grönland aus, das von Nordamerika nur durch die 300 Kilometer breite Davisstraße getrennt ist. Die Chancen, daß jene winzige Kolonie zum Ausgangspunkt für die Erkundung, Eroberung und schließlich Besied­lung Amerikas werden konnte, waren indes gleich Null. Selbst bei der einzigen auf der Insel Neufundland ent­deckten Wikinger-Siedlung handelte es sich offenbar le­diglich um ein Winterlager, das ein paar Dutzend Men­schen wenige Jahre lang bewohnt hatten. In den Wikin­ger-Sagen wird an mehreren Stellen geschildert, wie das Lager in Vinland von »Skraelings« angegriffen wird; ge­meint waren offenbar neufundländische Indianer oder Dorset-Eskimos.

Das Schicksal der grönländischen Kolonie, des ent­legensten Außenpostens Europas im Mittelalter, ist ei­nes der großen Rätsel der Archäologie. Verhungerten die letzten grönländischen Wikinger etwa? Versuchten sie, der Insel mit Schiffen zu entfliehen? Schlossen sie Mischehen und gingen in der Eskimo-Bevölkerung auf? Erlagen sie Krankheiten oder wurden gar von Eskimo-Pfeilen getötet? Während diese Fragen nach den unmit­telbaren Gründen weiter der Beantwortung harren, lie­gen die tieferen Ursachen für das damalige Scheitern der Kolonisierung Grönlands und Amerikas klar auf der Hand. Sowohl der Ausgangspunkt (Norwegen) als auch die Zielgebiete (Grönland und Neufundland) so­wie der Zeitraum (984–1410 n. Chr.) sorgten von vorn­herein dafür, daß Europas potentielle Vorteile in den Bereichen Landwirtschaft, Technik und politische Or­ganisation nicht wirksam zur Geltung kommen konn­ten. In Regionen, die für eine auch nur halbwegs inten­sive landwirtschaftliche Nutzung zu weit im Norden la­gen, konnten es die Eisenwerkzeuge einer kleinen Schar von Wikingern, die von einem der ärmeren Staaten Eu­ropas nur schwach unterstützt wurden, mit den Stein-, Knochen- und Holzwerkzeugen von eskimoischen und indianischen Jägern und Sammlern, den Weltmeistern im Überleben in der Arktis, nicht aufnehmen.

Dem zweiten eurasischen Versuch einer Kolonisierung Amerikas war Erfolg beschert, weil Ausgangspunkt, Ziel­gebiet und Zeitraum eine wirksame Entfaltung der eu­ropäischen Überlegenheit ermöglichten. Im Gegensatz zu Norwegen verfügte Spanien über genügend Wohl­stand und Bewohner, um Entdeckungsfahrten finanzie­ren und Kolonien unterstützen zu können. Zudem lagen die Landungsstellen in Amerika in subtropischen Brei­ten, die sich hervorragend für die Landwirtschaft eigne­ten, zunächst überwiegend auf der Grundlage indiani­scher Kulturgewächse, aber auch eurasischer Haustiere (insbesondere Rinder und Pferde). Die koloniale Expan­sion Spaniens über den Atlantik begann 1492, am Ende eines Jahrhunderts, in dem der Bau seetüchtiger Schiffe in Europa rasante Fortschritte gemacht hatte und in des­sen Verlauf etliche Errungenschaften auf Gebieten wie Navigation und Schiffbau von verschiedenen Kulturen der Alten Welt (Islam, Indien, China, Indonesien), die sie im Indischen Ozean erprobt hatten, übernommen worden waren. So wurde es möglich, daß in Spanien ge­baute und bemannte Schiffe ohne Zwischenstation à la Grönland direkt zu den Westindischen Inseln segelten. Zu Spaniens Kolonien in der Neuen Welt gesellten sich schon bald die Kolonien eines halben Dutzends anderer europäischer Staaten.

Die ersten europäischen Siedlungen in Nord- und Sü­damerika, angefangen mit jener, die Kolumbus im Jahr 1492 gründete, lagen auf den Westindischen Inseln. Die dort lebenden Indianer, deren Zahl zum Zeitpunkt ihrer »Entdeckung« Schätzungen zufolge über eine Million be­trug, wurden auf den meisten Inseln durch Krankheiten, Vertreibung, Unterjochung, Kriege und willkürliche Er­mordung rasch dezimiert. Um das Jahr 1508 wurde die erste Kolonie auf dem amerikanischen Festland gegrün­det, am Isthmus von Panama. Die Eroberung der beiden großen Reiche, des Azteken- und des Inka-Reichs, folgte 1519–1520 und 1532–1533. In beiden Fällen spielten von Europäern eingeschleppte Krankheiten (vermutlich die Pocken) eine maßgebliche Rolle, indem sie die Herrscher töteten und einen großen Teil der Bevölkerung dahin­rafften. Die überwältigende militärische Überlegenheit selbst winziger Gruppen berittener Spanier, im Verein mit ihrem politischen Geschick beim Ausnutzen von Streitigkeiten unter den Indianern, tat ein übriges. Im 16. und 17. Jahrhundert wurden auch die anderen india­nischen Staaten in Mittelamerika und im nördlichen Sü­damerika von Europäern unterworfen.

Die Zerstörung der am weitesten entwickelten India­nerkulturen Nordamerikas – im Südosten der USA und im Tal des Mississippi – war weitgehend das Werk von Krankheiten, die von frühen europäischen Entdeckungs­reisenden mitgebracht worden waren und ihnen nun vor­auseilten. Im Zuge der Ausbreitung von Europäern in Nord- und Südamerika wurden viele weitere indianische Gesellschaften – beispielsweise die Mandan-Prärieindia­ner und die Sadlermiut-Eskimos – durch Krankheiten ausgelöscht, ohne daß es kriegerischer Anstrengungen bedurfte. Bevölkerungsreiche Indianergesellschaften, die den Ansturm der Krankheitskeime überlebten, teilten das Schicksal der Inkas und Azteken und wurden mit militärischen Mitteln vernichtet, zunehmend unter Ein­satz europäischer Berufssoldaten, die von indianischen Verbündeten unterstützt wurden. Hinter den Soldaten standen mächtige politische Apparate, zunächst jene der europäischen Mutterländer, dann die europäischen Ko­lonialverwaltungen und schließlich unabhängige neoeu­ropäische Staaten, die aus den Kolonien hervorgingen.

Kleinere indianische Gesellschaften wurden eher bei­läufig und willkürlich vernichtet, durch Überfälle und Einzelmorde, ausgeführt von Privatpersonen. So zähl­te die Jäger- und Sammlerbevölkerung Kaliforniens ur­sprünglich rund 200 000, war aber in hundert kleine Stämme aufgesplittert, von denen keiner so groß war, daß ein regelrechter Krieg erforderlich gewesen wäre, um ihn zu besiegen. Die meisten dieser Stämme wur­den während oder kurz nach dem kalifornischen Gold­rausch in den Jahren 1848–52, als Goldsucher in gro­ßer Zahl herbeiströmten, ausgerottet oder von ihrem Land vertrieben. So wurde beispielsweise der Stamm der Yahi im Norden Kaliforniens, der etwa 2000 Angehö­rige zählte und keine Feuerwaffen besaß, in vier Über­fällen von bewaffneten weißen Siedlern vernichtet: Der erste war ein Überraschungsangriffim Morgengrauen auf ein Yahi-Dorf am 6. August 1865, an dem 17 Siedler beteiligt waren; es folgte 1866 ein Massaker an Yahi, die in einer Schlucht überrascht worden waren, dann um 1867 eins an 33 Yahi, die man zu einer Höhle verfolgt hatte, und 1868 ein letztes Massaker, verübt von vier Cowboys an etwa 30 Yahi, die in einer anderen Höhle gefangen saßen. Zahlreiche Gruppen von Amazonasindianern wurden während des Kautschukbooms Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts auf ähnliche Weise von weißen Siedlern umgebracht. Die letzten Sta­dien der Eroberung spielen sich in diesem Jahrzehnt vor unseren Augen ab: Zunehmend erliegen die Yanomami und andere indianische Gesellschaften des Amazonasge­biets, die ihre Unabhängigkeit noch bewahren konnten, Krankheiten, werden von Goldsuchern ermordet oder von Missionaren und staatlichen Stellen »zivilisiert«.

Das Resultat von alldem war die Vernichtung bevölke­rungsreicher indianischer Gesellschaften in den meisten Regionen mit gemäßigtem Klima, die für die Landwirt­schaft und die Physiologie der europäischen Einwanderer geeignet waren. In Nordamerika leben heute die meisten Indianerstämme, die sich in intakten Gemeinschaften behaupten konnten, in Reservaten oder sonstigen Gebie­ten, die weder für die europäische Landwirtschaft noch für die Ausbeutung von Bodenschätzen in Frage kom­men, beispielsweise in arktischen Regionen oder Trockengebieten im Westen der USA. In den amerikanischen Tropen traten vielerorts Einwanderer aus tropischen Ge­bieten der Alten Welt (insbesondere Schwarzafrikaner, aber auch Inder und in Surinam Javaner) an die Stelle der indianischen Bevölkerung.

In einigen Teilen Mittelamerikas und der Anden waren die Indianer ursprünglich so zahlreich, daß selbst nach Epidemien und Kriegen heute immer noch ein gro­ßer Teil der Bevölkerung aus Indianern und Mischlin­gen besteht. Dies gilt insbesondere für das Andenhoch­land, wo Frauen europäischer Abstammung aus phy­siologischen Gründen Probleme mit dem Gebären von Nachwuchs haben und die heimischen Anbaugewächse in der Landwirtschaft immer noch dominieren. Selbst dort, wo Indianer überlebten, gerieten sie kulturell und sprachlich in den Schatten der Alten Welt.

Von den ursprünglich Hunderten von Indianerspra­chen in Nordamerika werden bis auf 187 keine mehr ge­sprochen, und von diesen letzten 187 ist 149 das Ausster­ben gewiß, da sie heute nur noch von den Alten gespro­chen, aber vom Nachwuchs nicht mehr gelernt werden. In allen der rund 40 Länder der Neuen Welt ist eine in­dogermanische Sprache oder Kreolisch offizielle Amts­sprache. Selbst in den Ländern mit dem größten india­nischen Bevölkerungsanteil, wie Peru, Bolivien, Mexiko und Guatemala, zeigt ein Blick auf Fotos von Führern aus Wirtschaft und Politik, daß ein unverhältnismäßig ho­her Anteil dieser Schicht europäischer Abstammung ist. An der Spitze mehrerer Karibikstaaten stehen Schwarz­afrikaner, während Guyana bereits mehrere Präsidenten indischer Herkunft hatte.

Wie stark die einstige Indianerbevölkerung Nord- und Südamerikas dezimiert wurde, ist umstritten. Schätzun­gen für Nordamerika gehen von bis zu 95 Prozent aus. Aufgrund der Einwanderung von Völkern aus der Al­ten Welt (Europäer, Afrikaner, Asiaten) ist die Gesamt­bevölkerung Nord- und Südamerikas heute jedoch etwa zehnmal so groß wie im Jahr 1492. Die jetzigen Bewoh­ner bilden ein Gemisch von Völkern aller Kontinente mit Ausnahme Australiens. Die Wurzeln jener gewalti­gen Bevölkerungsverschiebung, die sich in den letzten 500 Jahren vollzog und die alles in den Schatten stellte, was sich je auf einem Kontinent – mit Ausnahme Au­straliens – ereignete, liegen letztendlich in Entwicklun­gen, die sich zwischen 11000 v. Chr. und der Zeitwen­de abspielten.