KAPITEL 5
Bauer sein oder nicht sein
Gründe für die Ausbreitung der Landwirtschaft
Einst waren alle Bewohner der Erde Jäger und Sammler. Wie kam es, daß einige anfingen, Landwirtschaft zu betreiben? Geht man einmal davon aus, daß sie wohl irgendeinen Grund dafür hatten, stellt sich die Frage, warum der Übergang in den mediterranen Lebensräumen im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds um 8500 v. Chr. begann, in den klimatisch und landschaftlich recht ähnlichen Lebensräumen Südwesteuropas erst 3000 Jahre später und in den vom Klima her ebenfalls mediterranen Lebensräumen Kaliforniens, Südwestaustraliens und der südafrikanischen Kapregion nie eigenständig erfolgte. Warum warteten selbst die Bewohner Vorderasiens bis 8500 v. Chr., statt schon um 18 500 oder gar 28 500 v. Chr. zu Ackerbauern und Viehzüchtern zu werden?
Aus heutiger Perspektive erscheinen all diese Fragen auf den ersten Blick albern, liegen doch die Nachteile der Jagd- und Sammelwirtschaft auf der Hand. Von Wissenschaftlern wurde in dem Zusammenhang früher gern Thomas Hobbes zitiert, der diese Lebensweise als »scheußlich, brutal und kurz« charakterisierte. Die tägliche Nahrungssuche war offenbar sehr mühsam und der Hunger ein ständiger Begleiter, während so elementare materielle Annehmlichkeiten wie weiche Betten und richtige Kleidung fehlten. Hinzu kam eine niedrige Lebenserwartung.
In Wirklichkeit bedeutet die Nahrungserzeugung dagegen nur für die wohlhabenden Bewohner der Industrieländer, die mit ihr nicht unmittelbar zu tun haben, weniger körperliche Anstrengung, mehr Komfort, Sicherheit vor Hunger und eine höhere Lebenserwartung. Das Los der meisten Kleinbauern und Viehzüchter, die heute die große Masse der Nahrungsproduzenten darstellen, ist dagegen nicht unbedingt besser als das von Jägern und Sammlern.
Zeitbudgetstudien haben gezeigt, daß sie möglicherweise mehr und nicht weniger Stunden pro Tag arbeiten müssen als Jäger und Sammler. Archäologischen Untersuchungen zufolge waren die ersten Ackerbauern in vielen Regionen kleiner und schlechter ernährt als die von ihnen verdrängten Jäger und Sammler. Sie litten außerdem an gefährlicheren Krankheiten und starben im Durchschnitt früher. Hätten diese ersten Bauern die Konsequenzen der Einführung der Landwirtschaft absehen können, so hätten sie sich vielleicht dagegen entschieden. Sie entschieden sich aber, ohne dieses Wissen zu haben, dafür. Warum?
Es sind viele Fälle bekannt, in denen Jäger und Sammler, die von Bewohnern benachbarter Gebiete vor Augen geführt bekamen, was Landwirtschaft bedeutet, auf ihre vermeintlichen Segnungen verzichteten und lieber Nomaden blieben. So trieben Aborigines im Nordosten Australiens jahrtausendelang Handel mit den bäuerlichen Inselbewohnern der zwischen Australien und Neuguinea gelegenen Torresstraße. Kalifornische Indianer, die als Jäger und Sammler lebten, standen im Handelsaustausch mit bäuerlichen Indianergesellschaften des Coloradotals. In Südafrika pflegten Khoi-Viehzüchter westlich des Fish River rege Handelskontakte mit Bantu-Bauern östlich dieses Flusses, verzichteten aber selbst auf die Einführung des Ackerbaus. Warum?
Wieder andere Jäger und Sammler, die Kontakt zu bäuerlichen Gesellschaften hatten, wurden zwar später selbst Bauern, aber erst nach einer, wie uns scheinen mag, übermäßig langen Phase des Abwartens. Ein Beispiel sind die Küstenbewohner im heutigen Norddeutschland, die erst 1300 Jahre nach Einführung der Landwirtschaft durch die Völker der bandkeramischen Kultur, die nur 200 Kilometer weiter südlich siedelten, zu Ackerbau und Viehzucht übergingen. Warum warteten die Küstengermanen so lange, und was führte schließlich zu ihrem Sinneswandel?
Bevor wir diese Fragen beantworten können, müssen einige falsche Vorstellungen über die Anfänge der Landwirtschaft zurechtgerückt werden. Wir sollten auch unsere Wortwahl ändern. Was in Wirklichkeit geschah, war weder die Entdeckung der Landwirtschaft noch ihre Erfindung, wie man zunächst denken könnte. Oft wurde nicht einmal eine bewußte Entscheidung zwischen Landwirtschaft auf der einen und Jagen und Sammeln auf der anderen Seite getroffen. Vor allem dort nicht, wo in den verschiedenen Regionen der Welt erstmals mit Ackerbau oder Viehzucht begonnen wurde und die Bewohner mangels Anschauung gar nicht wissen konnten, worauf sie sich einließen. Wie wir sehen werden, entwickelte sich die Landwirtschaft in einer langsamen Evolution als Nebenprodukt von Entscheidungen, die ohne Kenntnis der weiteren Folgen getroffen wurden. Folglich müssen wir fragen, warum es zu dieser Evolution kam, warum sie an einigen Orten stattfand, an anderen jedoch nicht, warum die Zeitpunkte von Region zu Region so unterschiedlich waren und warum die Evolution der Landwirtschaft nicht viel früher oder später erfolgte.
Ein weiterer Irrtum betrifft die zwangsläufig scharfe Abgrenzung zwischen nomadischen Jägern und Sammlern und seßhaften Bauern. Obwohl wir häufig von einem derartigen Gegensatzpaar ausgehen, wurden in Wirklichkeit Jäger und Sammler in vielen fruchtbaren Gebieten, so an der pazifischen Nordwestküste Nordamerikas und vermutlich auch im Südosten Australiens, seßhaft, ohne Landwirtschaft zu betreiben. Andere Jäger und Sammler in Palästina, an der Küste Perus und in Japan wurden erst seßhaft und taten den Schritt zur Landwirtschaft viel später. Auf seßhafte Gruppen entfiel vor 15 000 Jahren, als alle bewohnten Gegenden der Erde (einschließlich der fruchtbarsten Regionen) von Jägern und Sammlern bevölkert waren, wahrscheinlich ein viel höherer Anteil als heute, wo die wenigen noch verbliebenen Jäger und Sammler meist in Randgebiete abgedrängt sind, in denen eine nomadische Lebensweise für sie die einzige Möglichkeit darstellt, ihr Leben zu fristen.
Auch der umgekehrte Fall nichtseßhaft er Nahrungsproduzenten kommt vor. So roden einige heutige Nomaden im Seentiefland von Neuguinea Lichtungen im Dschungel und pflanzen dort Bananen und Papayas, um anschließend wieder für einige Monate als Jäger und Sammler umherzuziehen; dann kehren sie zurück, um nach dem Gedeihen ihrer Pflanzen zu sehen und, falls erforderlich, Unkraut zu jäten, bevor sie sich erneut auf die Jagd begeben. Erst Monate später kommen sie zu ihren Pflanzungen zurück und lassen sich nun für eine Weile dort nieder, um zu ernten und von den Früchten ihrer Arbeit zu leben. Apachen-Indianer im Südwesten der heutigen USA verbrachten den Sommer als seßhafte Bauern in höheren Lagen, um im Winter tieferliegende Gebiete auf Nahrungssuche zu durchstreifen. Viele Hirtenvölker in Afrika und Asien verlegen ihre Lager regelmäßig entlang jahreszeitlich festgelegter Routen, um mit ihren Herden immer dort zu sein, wo die Weiden am grünsten sind. Das zeigt, daß die Umstellung vom Jagen und Sammeln auf die Landwirtschaft nicht immer mit der Abkehr vom Nomadentum und dem Beginn einer seßhaften Lebensweise zusammenfiel.
Eine weitere vermeintliche Dichotomie, die in der Realität verschwimmt, ist die Unterscheidung zwischen Nahrungsproduzenten, die ihr Land aktiv bestellen, und Jägern und Sammlern als passiven Konsumenten der Früchte der Natur. In Wirklichkeit gibt es durchaus Jäger und Sammler, die ihr Land intensiv bearbeiten. Das gilt zum Beispiel für manche Stämme in Neuguinea, die zwar nie Sagopalme oder Bergpandanus domestizierten, die Erträge dieser eßbaren Wildpflanzen aber immerhin steigern, indem sie Bäume roden, die sich anschicken, ihnen den Platz streitig zu machen, Wasserläufe in Sagosümpfen freihalten und ältere Sagobäume fällen, damit junge Triebe besser wachsen können. Australische Aborigines, die nie das Stadium des Anbaus von Jamswurzeln und Samenpflanzen erreichten, nahmen dennoch einige Elemente der Landwirtschaft vorweg. So legten sie Buschbrände, um eßbare Samenpflanzen zu gewinnen, die nach einem Feuer aus dem Boden sprießen. Beim Sammeln wilder Jamswurzeln schnitten sie den größten Teil der eßbaren Knolle ab, setzten aber Stiel und Knollenspitze wieder ins Erdreich ein, damit die Knollen nachwachsen konnten. Beim Graben nach den Knollen wurde der Boden gelockert und belüftet, was das neue Wachstum beschleunigte. Um sich die Definition als Bauern zu verdienen, hätten sie lediglich die Stiele mit den daran verbliebenen Knollen zu ihrem Lager tragen und sie dort auf die gleiche Weise wieder in die Erde stecken müssen.
Von diesen Vorläufern der Landwirtschaft, die uns bereits bei Jägern und Sammlern begegnen, ging die weitere Entwicklung in Richtung Ackerbau und Viehzucht schrittweise vonstatten. Natürlich war es nicht so, daß alle erforderlichen Techniken binnen kurzer Zeit erfunden wurden und daß die Domestikation aller Wildpflanzen und -tiere in einem bestimmten Gebiet zur gleichen Zeit erfolgte. Selbst dort, wo sich der Übergang vom Jagen und Sammeln zur Landwirtschaft eigenständig und verhältnismäßig rasch vollzog, dauerte es Jahrtausende, bis an die Stelle der vollständigen Abhängigkeit von wilder Nahrung ein Speiseplan getreten war, an dem diese nur noch geringen Anteil hatte. In den Anfangsstadien der Landwirtschaft standen das Sammeln wilder Nahrung und die Feldbestellung beziehungsweise Viehhaltung nebeneinander; zu unterschiedlichen Zeitpunkten traten dann verschiedene Arten von Sammelaktivitäten in den Hintergrund, während die Bedeutung der Kulturpflanzen wuchs.
Dieser etappenweise Übergang erklärt sich daraus, daß sich landwirtschaftliche Systeme als Resultat einer Vielzahl von Einzelentscheidungen über die Aufteilung von Zeit und Mühe ganz allmählich herausbildeten. Bei der Nahrungssuche stehen Menschen, genau wie Tieren, nur begrenzte Ressourcen an Zeit und Energie zur Verfügung, die sie auf unterschiedliche Weise nutzen können. Versetzen wir uns einmal in einen jener angehenden Bauern hinein, der morgens aufwacht und sich fragt: Soll ich heute den ganzen Tag in meinem Garten arbeiten (was mir mit ziemlicher Sicherheit in einigen Monaten einen ordentlichen Gemüseertrag einbringen würde), Schalentiere sammeln (so daß ich heute bestimmt etwas Fleisch essen könnte) oder auf die Jagd nach Wild gehen (dann hätte ich heute vielleicht eine Menge Fleisch, aber mit höherer Wahrscheinlichkeit einen leeren Magen)? Menschen und Tiere setzen bei der Nahrungssuche ständig Prioritäten und treffen, wenn auch vielleicht unbewußt, Entscheidungen darüber, wie sie ihre Energie aufteilen wollen. Zuerst konzentrieren sie sich auf das, was sie am liebsten essen oder was den höchsten Nährwert hat. Sind solche bevorzugten Nahrungsmittel nicht zu haben, wird auf weniger beliebte ausgewichen.
Viele Überlegungen fließen in solche Entscheidungen ein. Menschen suchen Nahrung, um ihren Hunger zu stillen und sich den Magen zu füllen. Sie haben ein Verlangen nach bestimmten Speisen wie eiweißreicher Kost, Fett, Salz, süßem Obst oder einfach nach dem, was gut schmeckt. Unter sonst gleichen Rahmenbedingungen streben die Menschen nach einer Maximierung ihres Ertrags an Kalorien, Eiweiß oder sonstigen Nahrungsbestandteilen mit Hilfe einer Strategie, die ihnen die größte Menge mit der höchsten Sicherheit in der kürzesten Zeit und mit der geringsten Mühe einbringt. Parallel dazu sind sie bestrebt, das Risiko des Verhungerns zu minimieren: Bescheidene, aber verläßliche Erträge sind einer unsteten Lebensweise vorzuziehen, bei der im Durchschnitt hohe Erträge anfallen, die aber das schwerwiegende Risiko birgt, aus Nahrungsmangel zu verhungern. Die ersten Pflanzungen, die vor fast 11000 Jahren angelegt wurden, dienten denn auch womöglich als eine Art zuverlässige Reserve beziehungsweise Versicherungspolice für den Fall, daß der Nachschub an wilder Nahrung ausblieb.
Im Gegensatz dazu stellen Jäger oft Prestigegedanken in den Vordergrund – etwa indem sie lieber jeden Tag auf Giraffenjagd gehen, um vielleicht einmal im Monat ein Tier zu erlegen und dann als große Jäger dazustehen, als jeden Monat die doppelte Nahrungsmenge heimzutragen, indem sie ihre Tage mit dem Sammeln von Nüssen verbringen. Scheinbar willkürliche kulturelle Präferenzen spielen ebenfalls eine Rolle. So gilt Fisch in manchen Gesellschaften als Delikatesse, in anderen als Tabu. Und schließlich werden die Prioritäten der Menschen stark davon beeinflußt, welchen relativen Wert sie unterschiedlichen Lebensweisen beimessen – was sich ja auch heute gut beobachten läßt. So hegten im amerikanischen Westen des 19. Jahrhunderts Rinderzüchter, Schafzüchter und Farmer gegenseitige Verachtung füreinander. In ähnlicher Weise haben Bauern in der Geschichte der Menschheit auf Jäger und Sammler herabgeblickt, die ihnen als primitiv erschienen, während diese ihrerseits Bauern als unwissend betrachteten. Und alle beide wurden von Viehzüchtern verachtet. All diese Überlegungen spielen in Entscheidungen über das Wie der Nahrungsbeschaffung mit hinein.
Wie gesagt, konnten die jeweils ersten Bauern auf den verschiedenen Kontinenten keine bewußte Entscheidung für die Landwirtschaft fällen, da es in ihrer Umgebung keine Vorbilder gab, an denen sie sich orientieren konnten.
Hatte sich die Landwirtschaft jedoch in einem Teil eines Kontinents erst entwickelt, konnten Jäger und Sammler in benachbarten Gebieten das Ergebnis in Augenschein nehmen und bewußt eigene Entscheidungen treffen. In einigen Fällen übernahmen sie die neue Wirtschaftsweise mit allem Drum und Dran, in anderen wählten sie nur bestimmte Elemente aus, und in wieder anderen lehnten sie die Einführung gänzlich ab und blieben ihrer bisherigen Lebensweise treu.
In manchen Gebieten Südosteuropas beispielsweise übernahmen Jäger und Sammler um 6000 v. Chr. binnen kurzer Zeit Getreide, Hülsenfrüchte und Vieh aus dem Nahen Osten als komplettes Bündel. Alle drei dieser Elemente breiteten sich in den Jahrhunderten vor 5000 v. Chr. rasch und simultan auch in Mitteleuropa aus. Der Grund für den schnellen Übergang zur Landwirtschaft in Südost- und Mitteleuropa könnte darin bestanden haben, daß diese Regionen für Jäger und Sammler nicht besonders ergiebig waren. Im Gegensatz dazu erfolgte die Einführung der Landwirtschaft in Südwesteuropa (Südfrankreich, Spanien und Italien) nur schrittweise – erst kam das Schaf, viel später das Getreide. Auch in Japan ging die Übernahme einer intensiven Landwirtschaft vom asiatischen Festland nur sehr langsam vonstatten, was vielleicht daran lag, daß den japanischen Jägern und Sammlern ein reichhaltiges Angebot der Natur an Meeresfrüchten und örtlichen Pflanzen zur Verfügung stand.
So wie die Lebensweise der Jäger und Sammler vielerorts schrittweise zugunsten landwirtschaftlicher Lebensformen aufgegeben wurde, kam es auch vor, daß ein System der Nahrungsproduktion schrittweise zugunsten eines anderen aufgegeben wurde. Ein Beispiel liefern Indianerstämme im Osten der heutigen USA, die um 2500 v. Chr. örtliche Pflanzen domestiziert hatten. Sie standen im Handelsaustausch mit mexikanischen Indianern, die ein ertragreicheres Anbausystem auf der Grundlage von Mais, Kürbissen und Bohnen entwickelt hatten. Diese Kulturpflanzen aus Mexiko wurden von den östlichen Indianern übernommen, und viele Stämme gaben den Anbau einer Reihe örtlich domestizierter Pflanzen im Laufe der Zeit auf, wobei der Kürbis eigenständig domestiziert wurde, Mais um 200 n. Chr. aus Mexiko eintraf, aber bis ca. 900 n. Chr. keine große Rolle spielte und Bohnen ein oder zwei Jahrhunderte später importiert wurden. Interessanterweise gibt es auch Fälle, in denen die Landwirtschaft zugunsten der Jagd- und Sammelwirtschaft aufgegeben wurde. Dies geschah zum Beispiel in Südschweden, dessen Jäger- und Sammlerbevölkerung um 3000 v. Chr. die Landwirtschaft auf der Basis von Kulturpflanzen aus Vorderasien übernahm, sie aber um 2700 v. Chr. wieder aufgab, um für 400 Jahre zum Jagen und Sammeln zurückzukehren, bevor die Landwirtschaft erneut Einzug hielt.
All diese Überlegungen verdeutlichen, daß wir nicht denken sollten, die Entscheidung für die Landwirtschaft sei im luftleeren Raum getroffen worden, so als ob die Menschen vorher nicht gewußt hätten, wovon sie sich ernähren sollten. Vielmehr müssen wir die Landwirtschaft und die Jagd- und Sammelwirtschaft als alternative Strategien betrachten, die miteinander konkurrieren. Mischformen, bei denen bestimmte Kulturpflanzen oder Tierarten zum Jagen und Sammeln hinzukamen, standen außerdem im Wettstreit mit den beiden »reinen« Formen. Das vorherrschende Ergebnis war jedoch in den letzten 10 000 Jahren die Abkehr vom Jagen und Sammeln und die Hinwendung zur Landwirtschaft, so daß wir fragen müssen, welche Faktoren dafür verantwortlich waren, daß die Landwirtschaft den Sieg davontragen konnte.
Unter Archäologen und Anthropologen ist diese Frage weiter umstritten. Ein Grund für die Fortdauer der Kontroverse ist wohl, daß in verschiedenen Teilen der Welt möglicherweise verschiedene Faktoren den Ausschlag gaben. Ein weiterer Grund liegt in der Schwierigkeit, Ursache und Wirkung zu entwirren. Immerhin lassen sich fünf Hauptfaktoren bestimmen, die lediglich in ihrer relativen Bedeutung umstritten sind.
Ein Faktor war die Verknappung wildwachsender Nahrung. Für Jäger und Sammler wurde die Nahrungssuche im Laufe der letzten 13 000 Jahre immer schwieriger, da die Ressourcen, auf denen ihre Existenz beruhte (insbesondere Wild), knapper wurden oder sogar völlig verschwanden. Wie wir in Kapitel 1 sahen, starben in Nord- und Südamerika am Ende des Eiszeitalters die meisten, in Eurasien und Afrika einige Großtierarten aus; Ursache waren entweder klimatische Veränderungen oder das Anwachsen der menschlichen Bevölkerung, gepaart mit verbesserten Jagdtechniken. Während man darüber streiten kann, welche Rolle das Aussterben dieser Tierarten beim Übergang (mit langer Verzögerung) der Indianer, Eurasier und Afrikaner zur Landwirtschaft spielte, gibt es in der jüngeren Geschichte etliche unstrittige Fälle, in denen Inseln der Ort des Geschehens waren. So widmeten sich die ersten polynesischen Siedler auf Neuseeland erst, nachdem sie die Moas ausgerottet und die Robbenbestände Neuseelands dezimiert und das gleiche mit der Vogelwelt anderer polynesischer Inseln getan hatten, verstärkt der Landwirtschaft. Die Polynesier, die um 500 n. Chr. die Osterinsel besiedelten, brachten zwar Hühner mit, doch erst als die Bestände an Wildvögeln und Tümmlern erschöpft waren, erlangten sie als Nahrungsmittel größere Bedeutung. Ganz ähnlich spielte im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds möglicherweise das Schrumpfen der Gazellenherden, die für die jagenden und sammelnden Bewohner dieser Region bis dahin als Nahrungsquelle große Bedeutung hatten, eine wichtige Rolle bei der einsetzenden Domestikation von Tieren.
Ein zweiter Faktor war die zunehmende Verbreitung domes tizierbarer Wildpflanzen, wodurch Bemühungen in Richtung Domestikation zu einem lohnenderen Unterfangen wurden, während die Verknappung der Wildbestände das Jagen weniger attraktiv werden ließ. So führten Klimaveränderungen am Ende des Eiszeitalters in Vorderasien zu einer drastischen Ausweitung des Lebensraums wilder Getreidearten, von deren Ähren sich binnen kurzer Zeit große Mengen Korn ernten ließen. Jene wilden Getreidearten waren Vorläufer der ersten domestizierten Anbaupflanzen im Gebiet des Fruchtbaren Halbmonds: Weizen und Gerste.
Ein weiterer Faktor, der das Gleichgewicht zugunsten der Landwirtschaft verschob, war die Entwicklung von Techniken zum Ernten, Verarbeiten und Lagern wilder Nahrung. Was nützte Bauern in spe eine Tonne Korn auf dem Feld, wenn sie nicht wußten, wie man es ernten, schälen und aufbewahren sollte? Die dafür benötigten Methoden, Geräte und Vorrichtungen tauchten in Vorderasien ab 11 000 v. Chr. mit rasanter Geschwindigkeit auf. Sie waren erfunden worden, um den neu gewonnenen Überfluß an wildem Getreide nutzen zu können.
Zu diesen Erfindungen gehörten Sicheln mit Feuersteinklingen, die an Griffen aus Holz oder Knochen befestigt waren, Körbe zum Forttragen des Korns von den Berghängen, an denen das Getreide wuchs, Mörser und Stößel oder Mahlscheiben zum Schälen der Körner, die Technik des Röstens der Getreidekörner, damit sie gelagert werden konnten, ohne zu keimen, und schließlich unterirdische Vorrats speicher, deren Wände teilweise zum Schutz gegen eindringendes Wasser verputzt wurden. Für die Zeit nach 11 000 v. Chr. häufen sich Funde, die das Vorhandensein dieser Geräte und Techniken im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds belegen. Sie alle waren, obgleich zum Ernten und Aufbewahren von wildem Getreide entwickelt, auch notwendige Voraussetzungen für den gezielten Anbau. Mit ihnen waren unbewußt die ersten Schritte in Richtung Pflanzendomestikation getan.
Ein vierter Faktor war die Wechselbeziehung zwischen dem Anstieg der Bevölkerungsdichte und dem Aufkommen der Landwirtschaft. In allen Teilen der Welt, für die ausreichendes Material vorliegt, finden Archäologen Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen wachsenden Bevölkerungsdichten und dem Auftauchen der Landwirtschaft. Was war aber die Ursache und was die Folge? Dieses lange diskutierte Problem erinnert an die Frage, was zuerst da war, Huhn oder Ei: Zwang ein Anwachsen der Bevölkerungsdichte die Menschen in die Arme der Landwirtschaft? Oder schuf letztere erst die Voraussetzungen für höhere Bevölkerungsdichten?
Im Prinzip ist davon auszugehen, daß die Kausalkette in beide Richtungen wirkt. Wie schon erörtert, gehen mit der Landwirtschaft tendenziell höhere Bevölkerungsdichten einher, da sie höhere Pro-Hektar-Erträge an verwertbaren Kalorien ermöglicht als die Jagd- und Sammelwirtschaft. Auf der anderen Seite waren die Bevölkerungsdichten in der Spätphase des Eiszeitalters ohnehin im allmählichen Anstieg begriffen, bedingt durch verbesserte Techniken zur Gewinnung und Verarbeitung der Früchte der Natur. Parallel zum Bevölkerungsanstieg gewann die Landwirtschaft zunehmend an Gunst, da sie die höheren Nahrungserträge zu liefern vermochte, die gebraucht wurden, um so viele Mäuler zu stopfen.
Der Übergang zur Landwirtschaft ist somit ein typisches Beispiel für einen sogenannten »autokatalytischen Prozeß«. Damit ist ein Vorgang gemeint, der sich in einem positiven Rückkopplungskreislauf selbst katalysiert und, einmal in Gang gesetzt, immer weiter an Tempo gewinnt. Ein allmählicher Anstieg der Bevölkerungsdichten veranlaßte die Menschen zur Beschaffung von mehr Nahrung, indem diejenigen belohnt wurden, die unbewußt Schritte in Richtung Nahrungsproduktion taten. Nach dem Aufkommen von Landwirtschaft und Seßhaftigkeit konnten die Geburtenabstände verkürzt und auf diese Weise noch mehr Menschen in die Welt gesetzt werden, wodurch der Nahrungsbedarf weiter stieg. Diese Wechselbeziehung zwischen Landwirtschaft und Bevölkerungsdichte erklärt den scheinbaren Widerspruch, daß mit der Einführung der Landwirtschaft, die ja den Betrag an verwertbaren Kalorien pro Hektar steigerte, eine Verschlechterung des Ernährungszustands der Bevölkerung im Vergleich zur vorherigen Jagd- und Sammelwirtschaft einherging. Das hatte damit zu tun, daß die Bevölkerungsdichte etwas schneller zunahm als die Menge der verfügbaren Nahrung.
Zusammen betrachtet, helfen uns diese ersten vier Faktoren zu verstehen, warum die Landwirtschaft in Vorderasien um 8500 v. Chr. begann und nicht schon um 18 500 oder 28 500 v. Chr. An den beiden früheren Zeitpunkten war die Lebensweise der Jäger und Sammler noch sehr viel ertragreicher als landwirtschaftliche Aktivitäten. Wild war noch im Überfluß vorhanden, wildes Getreide dagegen eher rar. Außerdem waren die für das Sammeln, Verarbeiten und Lagern von Getreide erforderlichen Techniken noch nicht erfunden, und die Bevölkerungsdichten waren noch nicht hoch genug, um der Steigerung der Kalorienerzeugung pro Hektar einen hohen Stellenwert zu geben.
Ein letzter Faktor erhielt dort entscheidende Bedeutung, wo Regionen mit bäuerlicher Bevölkerung und solche, die von Jägern und Sammlern bewohnt waren, aneinandergrenzten. Aufgrund ihrer sehr viel höheren Bevölkerungsdichte konnten Nahrungsproduzenten Jäger- und Sammlerpopulationen schon allein wegen ihrer zahlenmäßigen Übermacht vertreiben oder in einem Gebiet ausrotten, von den anderen Vorteilen im Gefolge der Landwirtschaft (wie Technik, Krankheitserreger, stehende Heere) ganz zu schweigen. In Gebieten, in denen zunächst nur Jäger und Sammler lebten, vermehrten sich diejenigen von ihnen, die zur Landwirtschaft übergingen, schneller als jene, die diesen Schritt nicht taten.
Als Folge ereilte Jäger und Sammler in den meisten für landwirtschaftliche Zwecke geeigneten Regionen eines von zwei Schicksalen: Entweder sie wurden von benachbarten Nahrungsproduzenten verdrängt, oder sie retteten sich, indem sie selbst Bauern wurden. In Gebieten, in denen die Zahl der Jäger und Sammler schon beträchtlich war, und auch dort, wo die geographischen Verhältnisse ein rasches Vorrücken von Nahrungsproduzenten verhinderten, blieb den örtlichen Jägern und Sammlern mehr Zeit, um sich landwirtschaftliche Techniken anzueignen und so ihr Überleben zu sichern. Dies könnte für den Südwesten der heutigen USA, den westlichen Mittelmeerraum, die europäische Atlantikküste und Teile Japans zutreffen. In Indonesien und anderen Teilen Südostasiens, im größten Teil Afrikas südlich des Äquators und wahrscheinlich auch in Teilen Europas mußten Jäger und Sammler hingegen in prähistorischer Zeit bäuerlichen Bevölkerungen weichen. Ähnliches geschah in jüngerer Vergangenheit in Australien und im Westen der USA.
Nur dort, wo besonders große geographische oder ökologische Hürden einer Zuwanderung bäuerlicher Bevölkerungsgruppen beziehungsweise der Ausbreitung landwirtschaftlicher Techniken, die an die örtlichen Bedingungen angepaßt waren, im Wege standen, konnten Jäger und Sammler bis in die jüngere Vergangenheit in Gebieten weiterleben, die auch für Ackerbau und/oder Viehzucht geeignet waren. Drei herausragende Beispiele liefern die Indianer Kaliforniens, die durch Wüsten von den Landwirtschaft treibenden Indianern Arizonas getrennt waren, die Khoisan-Völker der südafrikanischen Kapregion in ihrer mediterranen Klimazone, die für die aus Äquatornähe stammenden Anbaupflanzen der benachbarten Bantu-Bauern ungeeignet war, und die Aborigines des australischen Kontinents, die flache Gewässer von den bäuerlichen Bewohnern Indonesiens und Neuguineas trennten. Die wenigen Völker, die bis ins 20. Jahrhundert Jäger und Sammler blieben, entgingen der Verdrängung durch bäuerliche Bevölkerungsgruppen nur, weil sie in Gebieten lebten, die für eine landwirtschaftliche Nutzung nicht in Frage kamen, beispielsweise in Wüsten und arktischen Gefilden. Bevor das 20. Jahrhundert zu Ende geht, werden auch sie den Verlockungen der Zivilisation erlegen, von Bürokraten oder Missionaren zur Seßhaftigkeit gedrängt oder Krankheiten zum Opfer gefallen sein.