KAPITEL 15

Wie China chinesisch wurde

Die Geschichte Ostasiens

Immigration, positive Diskriminierung, Multilingua­lismus, multikulturelle Gesellschaft– Kalifornien, der Staat, in dem ich lebe, gehörte bei jedem dieser um­strittenen Themen zu den Pionieren und hat sich nun an die Spitze einer Gegenbewegung gestellt. Ein Blick in die Klassenzimmer der staatlichen Schulen von Los Angeles, die auch meine Söhne besuchen, verleiht den abstrakten Debatten konkrete Gestalt in Form der Ge­sichter von Kindern. Bei ihnen zu Hause werden mehr als 80 Sprachen gesprochen, wobei englischsprechende Weiße die Minderheit bilden. Jeder der Spielkameraden meiner Söhne, ohne Ausnahme, hat mindestens einen außerhalb der USA geborenen Eltern- oder Großeltern­teil; das gilt auch für drei der vier Großeltern meiner Kinder. Durch Einwanderung wird unterdessen ledig­lich die Vielfalt wiederhergestellt, die Amerika jahrtau­sendelang prägte. Bevor die Europäer kamen, lebten auf dem Gebiet der heutigen USA Hunderte von Indianer­stämmen mit Hunderten von Sprachen. Erst innerhalb der letzten hundert Jahre kam dieses große Gebiet un­ter die Herrschaft einer einzigen Regierung.

In dieser Hinsicht sind die USA ein durch und durch »normales« Land. Alle bis auf eins der sechs bevölke­rungsreichsten Länder der Erde sind Schmelztiegel von Völkern, die erst in jüngerer Vergangenheit zur politi­schen Einheit gelangten und noch heute Hunderte von Sprachen und ethnischen Gruppen beheimaten. Ruß­land beispielsweise, einst ein kleiner slawischer Staat mit Moskau als Zentrum, begann erst ab 1582 n. Chr. mit der Eroberung von Gebieten jenseits des Urals. Ab die­sem Zeitpunkt bis zum 19. Jahrhundert unterwarf es einige Dutzend nichtslawische Völker, von denen vie­le ihre Sprache und kulturelle Identität bis in die Ge­genwart bewahren konnten. Wie die amerikanische Ge­schichte davon handelt, wie unser Kontinent amerika­nisch wurde, so handelt die russische Geschichte davon, wie Rußland russisch wurde. Auch Indien, Indonesi­en und Brasilien sind politische Schöpfungen jüngeren Datums (bei Indien handelt es sich um eine Wiederer­schaffung) und Heimat von etwa 850, 670 beziehungs­weise 210 Sprachen.

Die große Ausnahme von der Regel, daß die großen Staaten der Gegenwart erst in jüngerer Vergangenheit geformt wurden, bildet China, das bevölkerungsreich­ste Land der Erde. In seiner heutigen Form wirkt Chi­na zumindest für den Laien in politischer, kultureller und sprachlicher Hinsicht wie ein Monolith. Es erreichte seine politische Einheit bereits im Jahr 221 v. Chr. und konnte sie seitdem die meiste Zeit behaupten. Seit der Erfindung der Schrift gab es in China nur ein einziges Schriftsystem, während in Europa heute Dutzende mo­difizierter Alphabete in Gebrauch sind. Von den 1,2 Mil­liarden Chinesen sprechen über 800 Millionen Manda­rin, die Sprache mit mehr Sprechern als jede andere auf der Welt. Rund 300 Millionen Chinesen sprechen ande­re Sprachen, die aber mit Mandarin wie auch miteinan­der so eng verwandt sind wie Spanisch und Italienisch. Somit ist China nicht nur kein Schmelztiegel der Völker, sondern es scheint geradezu absurd zu fragen, wie China chinesisch wurde. China war schon immer chinesisch, fast seit Beginn seiner überlieferten Geschichte.

Uns kommt die scheinbare innere Einheit Chinas so selbstverständlich vor, daß uns gar nicht auffällt, wie er­staunlich sie eigentlich ist. Dagegen sprechen schon ge­netische Unterschiede. Nach einem groben Rassensche­ma gehören alle Chinesen zu den sogenannten Mongoli­den. Hinter dieser Klassifizierung verbergen sich jedoch größere Unterschiede als etwa zwischen Schweden, Ita­lienern und Iren. Insbesondere unterscheiden sich Nord­und Südchinesen genetisch und physisch recht stark von­einander: Während die Nordchinesen den Tibetern und Nepalesen am meisten ähneln, sind die Südchinesen eng mit Vietnamesen und Filipinos verwandt. Meine nord­und südchinesischen Freunde können sich oft gegensei­tig auf einen Blick am Aussehen erkennen: Die Nord­chinesen sind meist größer, schwerer, hellhäutiger, ha­ben spitzere Nasen und kleinere, stärker »geschlitzte« Augen (was von der sogenannten Epikanthus-Lidfalte herrührt).

Nord- und Südchina unterscheiden sich sowohl land­schaftlich als auch klimatisch voneinander. Der Norden ist trockener und kälter, der Süden feuchter und heißer. Genetische Unterschiede, die sich unter so unterschied­lichen Bedingungen herausbildeten, deuten darauf hin, daß über lange Zeiträume nur begrenzte Kontakte zwi­schen den Völkern Nord- und Südchinas bestanden. Wie kommt es, daß heute dennoch eine weitgehende sprach­liche und kulturelle Einheit zwischen Nord- und Süd­chinesen besteht?

Daß China offenbar einen nahezu homogenen Sprach­raum bildet, verblüfft auch angesichts der sprachlichen Vielfalt in anderen Regionen der Erde, in denen Men­schen seit langer Zeit siedeln. Wir hatten ja im letzten Kapitel gesehen, daß beispielsweise in Neuguinea, des­sen Fläche weniger als einem Zehntel der Fläche Chinas entspricht und dessen Besiedlungsgeschichte nur etwa 40 000 Jahre zurückreicht, tausend Sprachen gesprochen werden, untergliedert in Dutzende von Sprachfamilien, die sich weit stärker voneinander unterscheiden als die acht wichtigsten chinesischen Sprachen. In Westeuro­pa entstanden allein in den 6000 bis 8000 Jahren seit dem Eintreffen der indogermanischen Sprachen etwa 40 Sprachen, darunter so verschiedenartige wie Englisch, Finnisch und Russisch. Von Fossilienfunden wissen wir aber, daß der Mensch schon vor über einer halben Mil­lion Jahren nach China kam. Was geschah also mit je­nen Zehntausenden von Sprachen, die dort in einem so langen Zeitraum entstanden sein müssen?

Alles deutet darauf hin, daß auch in China einst die Vielfalt regierte, wie noch heute in allen anderen gro­ßen, dichtbevölkerten Ländern. Anders war bei China nur, daß der politische Einigungsprozeß sehr viel früher begann. Er umfaßte eine drastische Homogenisierung einer riesigen Region in einem frühzeitlichen Schmelz­tiegel, die Neubesiedlung Südostasiens und die massi­ve Beeinflussung der Entwicklung in Japan, Korea und vielleicht sogar Indien. Die Geschichte Chinas bildet so­mit den Schlüssel zum Verständnis der Geschichte ganz Ostasiens. In diesem Kapitel werde ich davon erzählen, wie China chinesisch wurde.

Als Ausgangspunkt bietet sich eine Sprachenkarte Chi­nas an (siehe Abb. 15.1). Schon ein kurzer Blick dar­auf verdeutlicht, daß es mit der monolithischen Ein­heit nicht weit her ist. Neben den acht »großen« Spra­chen – Mandarin und seinen sieben engen Verwandten, die oft zusammen als »Chinesisch« bezeichnet und von jeweils zwischen elf und 800 Millionen Menschen ge­sprochen werden – existieren in China noch über 130 »kleine« Sprachen, von denen viele nur wenige tausend Sprecher haben. All diese Sprachen, »große« und »klei­ne«, lassen sich vier verschiedenen Sprachfamilien zu­ordnen, deren Verbreitungsgebiete sich in ihrer Größe stark unterscheiden.

Das eine Extrem bildet Mandarin mit seinen Verwand­ten, also die chinesische Untergruppe der sinotibetischen Sprachfamilie, die ein geschlossenes Verbreitungsgebiet von Nord- bis Südchina aufweist. Würde man von der Mandschurei im Norden Chinas bis zum Golf von Ton­king im Süden wandern, brauchte man nie das Gebiet zu verlassen, dessen Bewohner als Muttersprache Man­darin oder eine verwandte Sprache sprechen. Die ande­ren drei Sprachfamilien haben stärker zersplitterte Ver­breitungsgebiete; sie gleichen Inseln in einem Meer von Chinesisch und anderen Sprachfamilien.

Am stärksten zersplittert ist das Verbreitungsgebiet der Miao-Yao-Sprachfamilie mit sechs Millionen Sprechern und etwa fünf Sprachen, die so bunte Namen haben wie Rot-Miao, Weiß-Miao, Schwarz-Miao, Grün-Miao (auch Blau-Miao genannt) und Yao. Miao-Yao-Sprecher leben in Dutzenden kleiner Enklaven, die alle von anderen Sprachfamilien umgeben und über ein Gebiet von fast eineinhalb Millionen Quadratkilometern verstreut sind, das von Südchina bis nach Thailand reicht. Durch über 100 000 Miao-Sprecher, die nach dem Ende des Viet­namkriegs aus ihrer Heimat flohen, wurde die Verbrei­tung dieser Sprachfamilie in jüngster Zeit auch auf die USA ausgedehnt.

Eine weitere Gruppe von Sprachen ohne geschlosse­nes Verbreitungsgebiet ist die austroasiatische Sprachfa­milie mit den bedeutendsten Vertretern Vietnamesisch und Kambodschanisch. Die 60 Millionen Sprecher au­stroasiatischer Sprachen leben verstreut im Raum zwi­schen Vietnam im Osten, der Malaiischen Halbinsel im Süden und Nordindien im Westen. Die vierte und letz­te Sprachfamilie Chinas ist die Tai-Kadai-Familie (Thai und Lao), deren 50 Millionen Sprecher in dem Gebiet zwischen Südchina, Südthailand und Myanmar im We­sten beheimatet sind (Abb. 15.1).

Natürlich war die Zersplitterung der Gebiete, in de­nen Miao-Yao-Sprachen gesprochen werden, nicht etwa eine Folge davon, daß ihre Sprecher in grauer Vorzeit per Hubschrauber über die Landschaft schwebten und hier und dort abgesetzt wurden. Vielmehr ist anzuneh­men, daß sie einst ein geschlosseneres Siedlungsgebiet besaßen, in das dann aber Sprecher anderer Sprachen vordrangen, von denen die Miao-Yao-Sprecher entweder verdrängt oder zur Aufgabe ihrer eigenen Sprachen ver­anlaßt wurden. Da sich der Prozeß der sprachlichen Zer­splitterung weitgehend innerhalb der letzten 2500 Jahre abspielte, wissen wir über seinen Verlauf relativ gut Be­scheid. Die Vorfahren der heutigen Thai-, Lao- und Bir­manischsprecher wanderten alle in historischer Zeit von Südchina und den angrenzenden Regionen in ihre heu­tigen Siedlungsgebiete, in denen bis dahin die Nachfah­ren älterer Wanderungsbewegungen lebten. Als beson­ders tatkräftig erwiesen sich bei der Verdrängung und sprachlichen »Bekehrung« anderer ethnischer Gruppen die Sprecher chinesischer Sprachen, die sich überlegen wähnten und auf alle anderen als primitiv herabblickten. Während der Herrschaft der Chou-Dynastie (1100–221 v. Chr.) wurden die meisten in China ansässigen Völker, deren Sprache nicht Chinesisch war, unterworfen und in Staaten von Chinesischsprechern eingegliedert.

Für den Versuch, die Sprachenkarte Ostasiens von vor mehreren tausend Jahren zu rekonstruieren, bieten sich mehrere Methoden an. Erstens können wir die be­kannten sprachlichen Expansions bewegungen der letz­ten Jahrtausende auf der Landkarte rückwärts verfolgen. Zweitens können wir in den Fällen, in denen heute ein großes, geschlossenes Gebiet von Sprechern einer einzi­gen Sprache oder Sprachgruppe bewohnt wird, auf eine erst in jüngerer Zeit erfolgte geographische Expansion dieser Gruppe schließen, was den Grund dafür liefert, daß noch keine Differenzierung in eine Vielzahl von Sprachen stattgefunden hat. Drittens können wir umge­kehrt folgern, daß Gebiete, in denen viele verschiedene Sprachen der gleichen Familie gesprochen werden, dich­ter an dem Zentrum liegen, von dem einst die Verbrei­tung der jeweiligen Sprachfamilie ausging.

Dreht man die linguistische Uhr auf diese Weise zu­rück, so ergibt sich, daß Nordchina ursprünglich von Sprechern chinesischer und anderer sinotibetischer Spra­chen bewohnt war, daß verschiedene Teile Südchinas von Sprechern der Miao-Yao-, der austroasiatischen und der Tai-Kadai-Sprachen besiedelt waren und daß Spre­cher sinotibetischer Sprachen in Südchina die meisten dieser anderen Sprachfamilien ersetzt haben. Noch dra­matischer müssen die sprachlichen Umwälzungen ge­wesen sein, die sich in Südostasien vollzogen – in Thai­land, Myanmar, Laos, Kambodscha, Vietnam und auf der Malaiischen Halbinsel. Die Sprachen, die dort ur­sprünglich gesprochen wurden, müssen allesamt aus­gestorben sein, denn bei den heutigen Sprachen dieser Länder handelt es sich offenbar ausnahmslos um neuere Eindringlinge von hauptsächlich südchinesischer und in einigen Fällen indonesischer Herkunft. Da die Miao-Yao-Sprachen dem Aussterben nur knapp entgangen sind, ist zu vermuten, daß in Südchina einst neben Miao-Yao, austroasiatischen und Tai-Kadai-Sprachen noch andere Sprachfamilien beheimatet waren, von denen aber keine bis in die Gegenwart überlebt hat. Wie wir noch sehen werden, könnte die austronesische Sprachfamilie (der alle philippinischen und polynesischen Sprachen ange­hören) eine solche Familie sein, die vom chinesischen Festland verschwand und die wir nur kennen, weil sie sich in der Inselwelt des Pazifiks ausbreitete und dort bis heute überlebt hat.

Das Verschwinden von Sprachen in Ostasien erinnert an die Ausbreitung europäischer Sprachen, insbesonde­re des Englischen und Spanischen, in der Neuen Welt, wo einst tausend oder mehr indianische Sprachen ge­sprochen wurden. Aus unserer eigenen Geschichte wis­sen wir, daß Englisch die Indianersprachen in den USA nicht deshalb ablöste, weil die Sprache der Weißen in den Ohren der Indianer so schön melodisch klang. Vielmehr war der Triumphzug des Englischen davon begleitet, daß englischsprechende Einwanderer die meisten Indianer gewaltsam oder durch eingeschleppte Krankheiten ins Jenseits beförderten und anschließend die Überlebenden mit Nachdruck dazu trieben, die neue Mehrheitsspra­che zu übernehmen. Unmittelbare Ursache dieser Vor­gänge war die technische und politische Überlegenheit der fremden Eindringlinge aus Europa, deren eigent­liche Ursache wiederum in der frühen Entstehung der Landwirtschaft in Eurasien lag. Es waren im Grunde die gleichen Vorgänge, die in Australien zur Verdrängung der Aborigines-Sprachen durch Englisch und in Afrika südlich der Sahara zur Verdrängung der Pygmäen- und Khoisan-Sprachen durch Bantu-Sprachen führten.

Die sprachlichen Umwälzungen in Ostasien werfen so­mit die Frage auf, was es denn war, das den Sprechern si notibetischer Sprachen die Ausbreitung von Nord- nach Südchina und den Sprechern austroasiatischer und an­derer ursprünglich in Südchina beheimateter Sprachen die Ausbreitung nach Südostasien ermöglichte. Zur Be­antwortung dieser Frage wollen wir uns an die Archäo­logie wenden, die uns vielleicht Hinweise auf technische, politische und landwirtschaftliche Vorteile liefern kann, die einige Völker Asiens gegenüber anderen erlangten.

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Abbildung 15.1
Die vier Sprachfamilien Chinas und Südostasiens

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Abbildung 15.2
Heutige politische Grenzen in Ost- und Südostasien als Interpre­tationshilfe für Abbildung 15.1

Wie überall auf der Welt kamen an den archäologischen Fundstätten in Ostasien größtenteils Hinterlassenschaf­ten von Jägern und Sammlern zutage, die ungeschlif­fene Steinwerkzeuge benutzten und die Töpferei noch nicht kannten. Die ersten Anzeichen für einen Wandel in Ostasien stammen aus China, wo um 7500 v. Chr. Überreste von Kulturpflanzen, Knochen von Haustie­ren, Töpferwaren und geschliffene (neolithische) Stein­werkzeuge auftauchten. Dieser Zeitpunkt und der Be­ginn von Jungsteinzeit und Landwirtschaft in Vordera­sien liegen höchstens tausend Jahre auseinander. Da über das Jahrtausend davor für China nur wenig ar­chäologische Erkenntnisse vorliegen, läßt sich gegen­wärtig nicht entscheiden, ob die Landwirtschaft in Chi­na, verglichen mit dem Fruchtbaren Halbmond, etwa zur gleichen Zeit, etwas früher oder etwas später auf den Plan trat. Kein Zweifel besteht jedoch an Chinas Rang als eines der ältesten Zentren der Domestikation von Pflanzen und Tieren.

Möglicherweise gab es in China sogar zwei oder meh­rere voneinander unabhängige Orte, an denen die Land­wirtschaft entstand. Auf die ökologischen Unterschiede zwischen dem kühlen, trockenen Norden und dem war­men, niederschlagsreicheren Süden habe ich ja bereits hingewiesen. Deutliche Unterschiede gibt es aber auch auf gleicher geographischer Breite zwischen dem Küsten­tiefland und den Hochebenen im Landesinneren. In so verschiedenartigen Umgebungen sind natürlich auch un­terschiedliche Wildpflanzen heimisch, so daß angehen­den Bauern in verschiedenen Regionen Chinas jeweils anderes Ausgangsmaterial zur Verfügung gestanden hät­te. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß die ältesten bekannten Anbaupflanzen in Nordchina zwei dürreresistente Sorten Hirse waren, in Südchina aber Reis, was getrennte Zentren der Pflanzendomestikation in Nord- und Südchina als möglich erscheinen läßt.

An den Fundstätten mit den ältesten Überresten von Kulturpflanzen fand man auch Knochen domestizierter Schweine, Hunde und Hühner. Zu den ersten Haustieren und Anbaupflanzen gesellten sich nach und nach die vie­len anderen in China domestizierten Pflanzen und Tiere. Von den Tieren spielte sicher der Wasserbüffel die wich­tigste Rolle (als Zugtier, um ihn vor den Pflug zu span­nen), aber auch Seidenraupen, Enten und Gänse hatten ihre Bedeutung. Bekannte chinesische Kulturpflanzen aus späterer Zeit waren Sojabohnen, Hanf, Zitrusfrüchte, Tee, Aprikosen, Pfirsiche und Birnen. Überdies erlaubte die Ost-West-Achse Eurasiens, die ja in frühgeschichtli­cher Zeit die Ausbreitung vieler chinesischer Haustiere und Anbaupflanzen nach Westen ermöglichte, umge­kehrt auch die Ausbreitung zahlreicher domestizierter Pflanzen und Tiere aus dem westlichen Teil Asiens in Richtung Osten nach China, wo sie Bedeutung erlang­ten. Wichtige Beiträge zur frühen chinesischen Land­wirtschaft, die aus dem Westen stammten, waren Wei­zen und Gerste, Kühe und Pferde sowie (von geringerer Bedeutung) Schafe und Ziegen.

Wie überall auf der Welt führte die Landwirtschaft in China nach und nach auch zu den anderen Kennzeichen der »Zivilisation«, die wir in den Kapiteln 10–13 erör­terten. Eine äußerst kunstvolle Bronzeverarbeitung ent­stand im 3. Jahrtausend v. Chr.; auf ihrer Grundlage be­gann die Herstellung von Gußeisen in China viel früher als irgendwo sonst auf der Welt, nämlich schon um 500 v. Chr. In den 1500 Jahren danach folgte eine Vielzahl weiterer Erfindungen (siehe Kapitel 12); hierzu zählten unter anderem Papier, Kompaß, Schubkarre und Schieß­pulver. Aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. stammen die er­sten befestigten Städte, deren Friedhöfe mit einer großen Bandbreite von karg und üppig ausgestatteten Gräbern nunmehr von Klassenunterschieden zeugen. Beweise für die Existenz von Gesellschaften mit sozialer Schichtung, deren Herrscher große Heere von Arbeitskräften mo­bilisieren konnten, sind auch die Stadtmauern mit ge­waltigen Ausmaßen, riesige Paläste und nicht zuletzt der Große Kanal (längster Kanal der Welt mit fast 1800 Kilometern Länge), der Nord- und Südchina verbindet. Die Existenz der Schrift ist in China erstmals für das 2. Jahrtausend v. Chr. belegt, vermutlich entstand sie aber schon früher. Von jener Zeit an wird unser archäologi­sches Wissen über Chinas werdende Städte und Staaten durch schriftliche Aufzeichnungen über die ersten chi­nesischen Dynastien ergänzt, beginnend mit der Hsia-Dynastie, die um 2000 v. Chr. begründet wurde.

Was Infektionskrankheiten betrifft, eines der unheil­volleren Nebenprodukte der Landwirtschaft, ist die Her­kunft der schlimmsten Erreger, deren Ursprung in der Alten Welt liegt, nicht genau feststellbar. Die Auswertung europäischer Quellen von den Zeiten Roms bis zum Mit­telalter ergibt jedoch, daß die Beulenpest und womög­lich auch die Pocken aus dem Osten kamen, so daß die­se Krankheiten chinesischen beziehungsweise ostasiati­schen Ursprungs sein könnten. Die Grippe (vom Schwein auf den Menschen übertragen) stammt mit noch grö­ßerer Wahrscheinlichkeit aus China, da Schweine dort sehr früh domestiziert wurden und große Bedeutung erlangten.

Chinas Größe und ökologische Vielfalt hatte die Ent­stehung einer Vielzahl örtlicher Kulturen zur Folge, die von Archäologen anhand besonderer Keramikstile und Artefakte unterschieden werden können. Im 4. Jahrtau­send v. Chr. begannen diese Kulturen, geographisch zu expandieren und sich gegenseitig zu beeinflussen, mit­einander zu konkurrieren und sich zu vereinigen. Wie der Austausch domestizierter Pflanzen und Tiere zwi­schen ökologisch verschiedenartigen Regionen eine Be­reicherung der chinesischen Landwirtschaft darstellte, so bereicherte auch der Austausch zwischen kulturell unterschiedlichen Regionen die chinesische Kultur und Technik, während erbitterte Auseinandersetzungen zwi­schen verfeindeten Häuptlingsreichen die Entstehung immer größerer und stärker zentralistisch organisier­ter Staaten vorantrieben (Kapitel 13).

Die Ausbreitung von Kulturpflanzen wurde in Nord-Süd-Richtung zwar durch die mit dem geographischen Gefälle einhergehenden klimatischen Veränderungen erschwert, sie stellten aber wegen der geringeren Nord-Süd-Ausdehnung Chinas keine so große Barriere dar wie in Afrika oder Nord- und Südamerika; zudem ist China weder wie Afrika und der Norden Mexikos durch eine Wüste noch wie Mittelamerika durch eine schma­le Landenge in zwei Teile geteilt. Im Gegenteil, Chinas große, von Westen nach Osten fließende Ströme (Gelber Fluß im Norden und Jangtse im Süden) erleichterten die Diffusion von Anbaupflanzen und Techniken zwischen Küste und Landesinnerem, während die breite Ost-West-Ausdehnung und das relativ ebene Terrain, das sogar die Verbindung der beiden Stromsysteme durch Kanäle zu­lassen sollte, den Austausch zwischen Chinas Norden und Süden erleichterte. All diese geographischen Fak­toren trugen zur frühen kulturellen und politischen Ei­nigung Chinas bei, während Westeuropa, das ähnlich groß ist, aber durch ein unwegsameres Gelände und das Fehlen einigender Flüsse geprägt ist, der kulturellen und politischen Einigung bis heute widersteht.

Einige Neuerungen fanden den Weg vom Süden in den Norden, zu erwähnen sind insbesondere die Eisenerz­verhüttung und der Reisanbau. Überwiegend gelangten jedoch Errungenschaften aus dem Norden in den Süden, wofür die Ausbreitung der Schrift das deutlichste Bei­spiel darstellt: Im Gegensatz zum westlichen Eurasien, das eine Fülle von Schriftsystemen hervorbrachte (sume­rische Keilschrift, ägyptische Hieroglyphen, hethitische Keilschrift, minoische Silbenschrift, semitisches Alpha­bet usw.), entstand in China nur ein einziges, gut doku­mentiertes Schriftsystem. Sein Ursprung lag in Nord­china, von wo es sich ausbreitete, um andere Systeme zu ersetzen beziehungsweise die Durchsetzung etwaiger im Entstehen begriffener Systeme zu verhindern und sich allmählich zu der chinesischen Schrift zu entwickeln, die noch heute verwendet wird. Andere wichtige Merkmale und Errungenschaften nordchinesischer Ge­sellschaften, die nach Süden gelangten, waren Bronzeve­rarbeitung, sinotibetische Sprachen und Staatenbildung. So waren die drei ersten chinesischen Dynastien, Hsia, Shang und Ghou, die im 2. Jahrtausend v. Chr. aufstie­gen, ausnahmslos nordchinesischen Ursprungs.

Aus erhaltenen Schriften aus dem 1. Jahrtausend v. Chr. wissen wir, daß Chinesischstämmige schon zu jener Zeit gegenüber nichtchinesischen »Barbaren« ein Gefühl kul­tureller Überlegenheit hegten (wie es viele noch heute tun), wobei in Nordchina selbst Südchinesen als Bar­baren galten. So beschrieb ein Schriftsteller der späten Chou-Dynastie im 1. Jahrtausend v. Chr. die anderen Völker Chinas auf folgende Weise: »Die Völker dieser fünf Regionen – die Mittelstaaten und die Rong, Yi und die anderen wilden Stämme um sie her – hatten alle ihre eigene Natur, von der man sie nicht abbringen konn­te. Die Stämme im Osten wurden Yi genannt. Sie tru­gen ihr Haar offen und Tätowierungen auf dem Körper. Manche von ihnen aßen ihre Nahrung ungekocht.« Der Chou-Autor schilderte auch die wilden Stämme im Sü­den, Westen und Norden als recht barbarisch; ihm zu­folge drehten sie ihre Füße nach innen, tätowierten sich die Stirn, behängten sich mit Fellen, hausten in Höhlen, aßen kein Getreide und verspeisten natürlich alles roh.

Im Laufe des 1. Jahrtausends v. Chr. wurden nach dem Vorbild der Chou-Dynastie oder unter deren Mitwir­kung auch in Südchina eine Reihe von Staaten gegrün­det. Höhepunkt dieser Entwicklung war die politische Einigung Chinas unter der Qin-Dynastie im Jahr 221 v. Chr. Im gleichen Zeitraum beschleunigte sich auch der Prozeß der kulturellen Einigung. »Zivilisierte« Staa­ten mit Schrift schluckten analphabetische »Barbaren« oder wurden von diesen nachgeahmt. Zum Teil verlief die kulturelle Einigung recht brutal: So erklärte der erste Qin-Kaiser alle bisherigen Geschichtsbücher für wert­los und befahl ihre Verbrennung, sehr zum Leidwesen späterer Historiker und Schriftforscher. Diese und an­dere drakonische Maßnahmen müssen mit zur Ausbrei­tung der sinotibetischen Sprachen aus dem Norden in ganz China beigetragen haben, wobei Miao-Yao und an­dere Sprachfamilien in ihre heutige Zersplitterung ge­drängt wurden.

Innerhalb Ostasiens hatte Chinas Vorsprung in der Landwirtschaft, Technik, Schrift und Staatenbildung zur Folge, daß chinesische Innovationen auch auf die Entwicklung in benachbarten Regionen starken Einfluß nahmen. So lebten bis zum 4. Jahrtausend v. Chr. im größten Teil Südostasiens immer noch Jäger und Samm­ler, die Geröllwerkzeuge verwendeten und zur Hoa-Binh-Kultur, benannt nach dem Ort Hoa-Binh in Vietnam, gezählt werden. Danach verbreiteten sich Kulturpflan­zen aus China, neolithische Technik, dörfliche Seßhaf­tigkeit und Töpferei im Stil Südchinas auch in Südosta­sien, wahrscheinlich begleitet vom Vorrücken südchine­sischer Sprachfamilien. Die historische Südwanderung von Birmanen, Laoten und Thais aus Gebieten in Süd­china vervollständigte die Sinifizierung Südostasiens. Alle drei Völker sind jüngere Ableger ihrer südchinesischen Vettern.

Die chinesische Dampfwalze hatte solche Wucht, daß die älteren Völker Südostasiens in der heutigen Bevöl­kerung kaum Spuren hinterlassen haben. Nur drei Jä­ger-Sammler-Völker – die Semang auf der Malaiischen Halbinsel, die Bewohner der Andamanen und die Wed­da in Sri Lanka – haben bis heute überlebt und geben Anlaß zu der Vermutung, daß die früheren Bewohner Südostasiens möglicherweise dunkelhäutig waren und Lockenhaar hatten, ganz so wie die modernen Neuguine­er und im Gegensatz zu den hellhäutigen, glatthaarigen Südchinesen und ihren Ablegern, den modernen Süd­ostasiaten. Jene Restpopulationen von Negritos in Süd­ostasien sind möglicherweise die letzten Überlebenden jener Bevölkerung, aus der sich die Besiedler Neugui­neas rekrutierten. Die Semang behaupteten sich als Jäger und Sammler, die mit benachbarten Bauernvölkern Han­del trieben und von ihnen eine austroasiatische Sprache übernahmen – ganz ähnlich wie philippinische Negri­tos und afrikanische Pygmäen, die ebenfalls Sprachen ihrer bäuerlichen Handelspartner übernahmen. Nur auf der entlegenen Inselgruppe der Andamanen haben sich Sprachen, die keine Verwandtschaft zu den südchine­sischen Sprachfamilien aufweisen, bis heute gehalten – als letzte Vertreter einer einstigen Vielfalt von vermut­lich Hunderten inzwischen ausgestorbener südostasia­tischer Sprachen.

Selbst Korea und Japan unterlagen dem starken Ein­fluß Chinas, obgleich die geographische Trennung be­wirkte, daß ihnen im Gegensatz zu den Bewohnern Süd­ostasiens weder ihre Sprachen noch ihre physische und genetische Eigenheit abhanden kamen. Korea und Japan übernahmen von China im 2. Jahrtausend v. Chr. den Reis, spätestens zu Beginn des 1. Jahrtausends v. Chr. die Bronzeverarbeitung und im 1. Jahrtausend n. Chr. die Schrift. Über China gelangten auch Weizen und Gerste aus dem westlichen Asien nach Korea und Japan.

Bei der Schilderung der Rolle Chinas als Wegbereiter der ostasiatischen Zivilisation sollten wir uns indes vor Übertreibung hüten. Nicht jeder kulturelle Fortschritt in dieser Region war chinesischen Ursprungs, und Ko­reaner, Japaner und Südostasiaten waren auch keine ein­fallslosen Barbaren, deren Beitrag zur kulturellen Ent­wicklung getrost vernachlässigt werden kann. So zäh­len japanische Keramiken zu den ältesten der Welt, und japanische Jäger und Sammler wurden lange vor An­kunft der Landwirtschaft in Dörfern seßhaft, um sich von den reichen Gaben des Meeres zu ernähren. Wahr­scheinlich wurden auch einige Kulturpflanzen in Japan, Korea und Südostasien zuerst oder jedenfalls eigenstän­dig domestiziert.

Nicht zu leugnen ist jedoch die ungeheuer wichtige Rolle Chinas. So steht die chinesische Kultur in Japan und Korea noch heute in so hohem Ansehen, daß man in Japan nicht daran denkt, das auf der chinesischen Schrift basierende Schriftsystem abzuschaffen, obwohl es sich nicht sehr gut zur Abbildung der japanischen Sprache eignet, während Korea erst jetzt angefangen hat, sein plumpes, ebenfalls von der chinesischen Schrift ab­geleitetes Schriftsystem durch das wunderbare koreani­sche Han’gul-Alphabet zu ersetzen. Diese Beharrlichkeit der chinesischen Schrift in Japan und Korea ist ein le­bendiges Vermächtnis der Domestikation von Pflanzen und Tieren in China vor fast 10 000 Jahren. Dank der Leistungen der ersten Bauern in Ostasien wurde China chinesisch, und Völker in einem Gebiet, das von Thai­land bis zur Osterinsel reichte (mehr dazu im nächsten Kapitel), wurden ihre Vettern.