KAPITEL 9

Achsen und das Rad der Geschichte

Warum die Ausbreitung der Landwirtschaft auf verschiedenen Kontinenten in unterschiedlichem Tempoverlief

Vergleichen Sie auf der Weltkarte (Abbildung 9.1) einmal Form und Lage der verschiedenen Kontinente. Ein Unterschied fällt sofort ins Auge: Nord- und Südamerika haben eine viel größere Nord-Süd (über 14 000 km) als Ost-West-Ausdehnung (weniger als 5000 km, mit einer Verengung bis auf ca. 65 km in Panama). Die Hauptachse des amerikanischen Doppelkontinents verläuft mit anderen Worten in Nord-Süd-Richtung. Das gleiche gilt für Afrika, wenn auch in weniger starker Ausprägung. Demgegenüber verläuft die Hauptachse Eurasiens von Ost nach West. Ob wohl diese Unterschiede in der Ausrichtung der Kontinentalachsen für den Verlauf der Menschheitsgeschichte bedeutsam waren? Und wenn ja, inwiefern? In diesem Kapitel geht es um die nach meiner Auffassung äußerst schwerwiegenden, in mancher Hinsicht tragischen Konsequenzen des unterschiedlichen Achsenverlaufs. Die Nord-Süd- beziehungsweise Ost-West-Ausrichtung der Kontinente beeinflußte das Tempo der Ausbreitung von Kulturpflanzen und Haustieren, aber möglicherweise auch der Schrift, des Rades und ande­rer Erfindungen. Auf diese Weise trug ein Grundmerk­mal der Geographie unseres Planeten in entscheidender Weise zu den sehr unterschiedlichen Schicksalen bei, die den Bewohnern Amerikas, Afrikas und Eurasiens in den letzten 500 Jahren zuteil wurden.

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Abbildung 9.1 Hauptachsen der Kontinente

Die Ausbreitung der Landwirtschaft war für die Her­ausbildung der Ungleichheit menschlicher Gesellschaf­ten im Grunde von ebenso großer Bedeutung wie ihre Entstehung, die uns in den vorangegangenen Kapiteln beschäftigte. Der Grund liegt darin, daß es – wie wir in Kapitel 4 erfahren haben – auf der ganzen Welt höch­stens neun (und vielleicht sogar nur fünf) Regionen gab, in denen die Landwirtschaft unabhängig entstand. Schon in vorgeschichtlicher Zeit wurde jedoch außer in den wenigen ursprünglichen Entstehungs gebieten in vielen weiteren Regionen Landwirtschaft betrieben. Möglich wurde dies in allen Fällen durch die Ausbreitung von Kulturpflanzen, Haustieren und bäuerlichen Kenntnis­sen beziehungsweise in einigen Fällen durch die Zuwan­derung von Ackerbauern und Viehzüchtern. Die bedeu­tendsten derartigen Ausbreitungsbewegungen verliefen von Vorderasien nach Europa, Ägypten und Nordafrika, Äthiopien, Zentralasien und ins Industal; von der Sa­helzone und Westafrika nach Ost- und Südafrika; von China nach Südostasien – einschließlich der Philippi­nen und Indonesiens – sowie nach Korea und Japan; und von Mesoamerika nach Nordamerika. Daneben wurde die Landwirtschaft selbst in ihren ursprüngli­chen Herkunftsgebieten durch zusätzliche Anbaupflan­zen, Viehsorten und Techniken aus anderen Entstehungs­gebieten ergänzt und bereichert.

So, wie sich einige Regionen als besonders geeignet für die Entstehung von Ackerbau und Viehzucht erwie­sen, zeigten sich auch bei deren Ausbreitung große re­gionale Unterschiede. Einige Regionen mit ausgespro­chen günstigen Umweltbedingungen wurden in vorge­schichtlicher Zeit überhaupt nicht landwirtschaftlich genutzt, obwohl sie nicht weit von Regionen entfernt la­gen, in denen die Landwirtschaft bereits Einzug gehalten hatte. Die auffallendsten Beispiele sind das präkolumbia­nische Kalifornien, wohin Ackerbau und Viehzucht aus dem amerikanischen Südwesten nicht vordrangen; Au­stralien, das trotz der Nähe Neuguineas und Indonesiens landwirtschaftlich unberührt blieb; und die südafrika­nische Kapprovinz, die landwirtschaftliches Brachland blieb, obwohl im nahegelegenen Natal längst Ackerbau betrieben wurde. Überdies unterschieden sich selbst bei all jenen Regionen, in die sich die Landwirtschaft in vor­geschichtlicher Zeit ausbreitete, Tempo und Zeitpunkt der Ausbreitung erheblich. Ein Extrem bildete die rasche Ausbreitung entlang der Ost-West-Achsen: von Vordera­sien westwärts nach Europa und Ägypten beziehungs­weise ostwärts zum Industal (mit einer durchschnittli­chen Geschwindigkeit von ca. 1,1 Kilometer pro Jahr) sowie von den Philippinen ostwärts nach Polynesien (5,1 Kilometer pro Jahr). Das umgekehrte Extrem bildete die langsame Ausbreitung entlang der Nord-Süd-Achsen: von Mexiko nordwärts in den Südwesten der heutigen USA mit weniger als 800 Metern pro Jahr, von Mexiko in den Osten der heutigen USA, wo Mais und Bohnen um 900 n. Chr. eingeführt wurden, mit knapp 500 Me­tern pro Jahr, und von Peru nordwärts nach Ecuador (in Gestalt des Lamas) mit ca. 300 Metern pro Jahr. Die Unterschiede wären noch viel gravierender, wenn Mais in Mexiko nicht erst um 3500 v. Chr. domestiziert wur­de, wie ich für diese Berechnungen angenommen habe,

sondern schon viel früher, wie die meisten Archäolo­gen bis vor kurzem glaubten (viele vertreten noch heu­te diese Meinung).

Große Unterschiede bestanden auch im Umfang der Ausbreitung der in einem Gebiet domestizierten Anbau­pflanzen und Haustiere, die ebenfalls auf stärkere bezie­hungsweise schwächere Barrieren hindeuten. Während beispielsweise die meisten Gründerpflanzen und -vieh­arten Vorderasiens den Weg westwärts nach Europa und ostwärts ins Industal fanden, gelangte von den Haustie­ren der Anden (Lama/Alpaka, Meerschweinchen) in prä­kolumbianischer Zeit kein einziges bis nach Mesoame­rika. Diese verblüffende Tatsache schreit geradezu nach einer Erklärung. Immerhin entwickelten sich in Meso­amerika bäuerliche Kulturen mit hoher Siedlungsdich­te und komplexen gesellschaftlichen Strukturen, so daß die in den Anden domestizierten Tiere (wären sie denn verfügbar gewesen) als wertvolle Nahrungs- und Woll­lieferanten beziehungsweise Zugtiere sicher äußerst will­kommen gewesen wären. Abgesehen von Hunden gab es in Mesoamerika nämlich keine heimischen Säugetiere, die diese Bedürfnisse hätten befriedigen können. Eini­ge Anbaupflanzen aus Südamerika, wie Maniok, Süß­kartoffeln und Erdnüsse, gelangten aber dennoch nach Mesoamerika. Welche selektive Barriere mag es gewe­sen sein, die diese Pflanzen passieren ließ, Lamas und Meerschweinchen indes fernhielt?

Auf noch subtilere Weise finden die geographisch un­terschiedlichen Ausbreitungsgeschwindigkeiten Aus­druck im Phänomen der »präventiven Domestikation«. Das Erbgut der wildwachsenden Pflanzenarten, von de­nen unsere Kulturpflanzen abstammen, variiert gene­tisch von Region zu Region, was daher rührt, daß sich in den Populationen der Ahnenpflanzen in verschiede­nen Gebieten unterschiedliche Mutationen durchsetzten. Ebenso können die Veränderungen, deren es zur Trans­formation von Wildpflanzen zu Kulturpflanzen bedarf, im Prinzip durch unterschiedliche neue Mutationen be­ziehungsweise Auslesevorgänge hervorgerufen werden, die jeweils zum gleichen Ergebnis führen. Vor diesem Hintergrund kann eine in vorgeschichtlicher Zeit weit­verbreitete Kulturpflanze daraufhin untersucht werden, ob alle Varietäten die gleiche wilde beziehungsweise transformative Mutation aufweisen. Zweck der Analy­se ist die Klärung der Frage, ob die betreffende Pflanze in nur einer Region oder unabhängig in mehreren ver­schiedenen Regionen domestiziert wurde.

Bei Anwendung dieser genetischen Analyse auf die wichtigsten klassischen Kulturpflanzen der Neuen Welt stößt man bei den meisten auf zwei oder mehr unter­schiedliche Wildformen beziehungsweise zwei oder mehr transformative Mutationen. Daraus kann gefolgert wer­den, daß die betreffende Kulturpflanze in mindestens zwei Regionen eigenständig domestiziert wurde und daß einige Varietäten die spezielle Mutation eines bestimm­ten Gebiets, andere dagegen die eines anderen Gebiets in ihrem Erbgut bewahren. Aufgrund solcher Untersuchun­gen gelangten Botaniker zu dem Schluß, daß Limaboh­nen (Phaseolus lunatus), Gartenbohnen (Phaseolus vulga­ris) und Paprika der Sorten Capsicum annuum/chinense jeweils in mindestens zwei Regionen unabhängig von­einander domestiziert wurden, einmal in Mesoamerika und einmal in Südamerika; und daß der Kürbis Cucur­bita pepo und die Samenpflanze Gänsefuß jeweils min­destens zweimal unabhängig voneinander domestiziert wurden, einmal in Mesoamerika und einmal im Osten der USA. Demgegenüber findet man bei den meisten der klassischen Anbaupflanzen Vorderasiens nur jeweils eine der wilden Varianten beziehungsweise transformativen Mutationen, woraus geschlossen werden kann, daß alle heutigen Varietäten der jeweiligen Pflanze auf einer ein­zigen Domestikation beruhen.

Welche Konsequenzen hat es aber, wenn ein und die­selbe Anbaupflanze in verschiedenen Teilen ihres natür­lichen Verbreitungsgebiets mehrmals und nicht nur ein einziges Mal in nur einem Gebiet domestiziert wurde? Wie wir bereits sahen, geht es bei der Pflanzendomesti­kation darum, Wildpflanzen so zu verändern, daß ihr Nutzen für den Menschen wächst, beispielsweise durch größere Samen, einen weniger bitteren Geschmack oder andere Eigenschaften. Steht bereits eine produk­tive Pflanze zur Verfügung, werden angehende Acker­bauern sicherlich diese verwenden, statt ganz von vorne anzufangen und einen weniger nützlichen wildwachsen­den Verwandten zu domestizieren. Beweise dafür, daß nur eine Domestikation vorlag, lassen somit den Schluß zu, daß eine neu domestizierte Anbaupflanze rasch in andere Teile ihres Verbreitungsgebiets gelangte und so­mit weitere unabhängige Domestikationen der gleichen Pflanze überflüssig machte. Gibt es jedoch Anzeichen dafür, daß die gleiche wildwach sende Ahnenpflanze in verschiedenen Gebieten eigenständig domestiziert wur­de, können wir daraus schließen, daß sich die betreffen­de Kulturpflanze zu langsam ausbreitete, um einer Do­mestikation an anderen Orten vorzubeugen. Die Indi­zien dafür, daß in Vorderasien in erster Linie Einzel-, in Nord- und Südamerika jedoch wiederholt Mehrfachdo­mestikationen stattfanden, zeigen somit, daß die Aus­breitung von Kulturpflanzen in Vorderasien auf weniger Hindernisse stieß als in Nord- und Südamerika.

Die rasche Ausbreitung einer Kulturpflanze beugt möglicherweise nicht nur der Domestikation der glei­chen wildwachsenden Ahnenpflanze an anderen Orten vor, sondern auch der Domestikation verwandter Ar­ten. Ein Bauer beispielsweise, der ertragreiche Erbsen anbaut, hat natürlich keinen Grund, bei Null anzufan­gen und die gleiche Ahnenerbse erneut zu domestizie­ren. Genauso sinnlos wäre es, eng verwandte Arten zu domestizieren, wenn sich das Resultat von den bereits domestizierten Erbsensorten kaum unterscheiden wür­de. Sämtliche Gründerpflanzen Vorderasiens kamen im gesamten westlichen Eurasien der Domestikation ihrer engen Verwandten zuvor. Aus der Neuen Welt sind da­gegen zahlreiche Fälle bekannt, in denen eng verwandte, aber doch unterschiedliche Arten in Meso- und Süda­merika domestiziert wurden. So gehören beispielswei­se 95 Prozent der heute weltweit angebauten Baumwolle zu der Sorte Gossypium hirsutum, die in vorgeschichtli­cher Zeit in Mesoamerika domestiziert wurde. Auf den Feldern prähistorischer südamerikanischer Acker bauern wuchs jedoch Baumwolle der verwandten Art Gossypi­um barbadense. Offenbar war es für die Baumwolle aus Mesoamerika so schwer, nach Südamerika zu gelangen, daß sie die Domestikation einer anderen Baumwollsorte dort in vorgeschichtlicher Zeit nicht verhindern konnte (und umgekehrt). Paprikas, Kürbisse und Fuchsschwanz­gewächse sind weitere Beispiele für Anbaupflanzen, bei denen verschiedene verwandte Arten in Meso- und Sü­damerika domestiziert wurden, ohne daß sich eine Art schnell genug ausbreiten und der Domestikation der an­deren zuvorkommen konnte.

Wir haben es also mit vielen verschiedenen Phäno­menen zu tun, die alle darauf hindeuten, daß sich die Landwirtschaft von Vorderasien aus schneller verbreite­te als innerhalb Nord- und Südamerikas, möglicherwei­se auch schneller als in Afrika südlich der Sahara. Diese Phänomene waren im einzelnen: die Tatsache, daß die Landwirtschaft in eine Reihe von Regionen mit günsti­gen Umweltbedingungen nicht vordrang, Unterschiede in Tempo und Selektivität der Ausbreitung der Landwirt­schaft sowie Unterschiede darin, ob die ältesten dome­stizierten Anbaupflanzen der erneuten Domestikation der gleichen beziehungsweise eng verwandter Arten zu­vorkamen. Woran lag es, daß die Ausbreitung der Land­wirtschaft in Nord- und Südamerika und in Afrika auf viel größere Schwierigkeiten stieß als in Eurasien?

Zur Beantwortung dieser Frage wollen wir zunächst die rasche Ausbreitung der Landwirtschaft von ihrem Entstehungsgebiet im Bereich des Fruchtbaren Halb­monds näher untersuchen. Schon bald nach dem Auf­kommen der Landwirtschaft in dieser Region um 8000 v. Chr. wurde eine Welle in Bewegung gesetzt, die sie in immer weiter entfernte Teile des westlichen Eurasien und Nordafrikas trug. Ich habe eine interessante Kar­te (Abbildung 9.2) wiedergegeben, die von dem Gene­tiker Daniel Zohary und der Botanikerin Maria Hopf erstellt wurde, um zu verdeutlichen, wie die Welle um 6500 v. Chr. Griechenland, Zypern und den indischen Subkontinent, kurz nach 6000 v. Chr. Ägypten, bis 5400 v. Chr. Mitteleuropa, bis 5200 v. Chr. Südspanien und um 3500 v. Chr. Großbritannien erreichte. In jeder die­ser Regionen waren an der Entstehung der Landwirt­schaft mehrere der domestizierten Pflanzen und Tie­re beteiligt, die auch in Vorderasien eine maßgebende Rolle gespielt hatten. Auch südwärts bis nach Äthiopi­en drangen vorderasiatische Anbaupflanzen und Haus­tiere vor; der genaue Zeitpunkt ist jedoch noch nicht bekannt. In Äthiopien wurden allerdings auch zahlrei­che heimische Pflanzen domestiziert, so daß wir noch nicht wissen, ob die dortige Landwirtschaft durch eige­ne Gewächse oder fremde Ankömmlinge aus der Tau­fe gehoben wurde.

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Abbildung 9.2 Die Symbole markieren Fundstätten von Über­resten vorderasiatischer Kulturpflanzen, die mit Hilfe der Radio­karbon-Methode datiert wurden. D = Fruchtbarer Halbmond (äl­ter als 7000 v. Chr.). Beachten Sie bitte, daß die Datierungen mit zunehmender Entfernung vom Bereich des Fruchtbaren Halb­monds immer jünger werden. Die Karte basiert auf Karte 20 von Zohary und Hopf in »Domestication of Plants in the Old World«, wobei die unkalibrierten Radiokarbon-Datierungen, die Zoharyund Hopf verwendeten, durch kalibrierte ersetzt wurden.

Natürlich gelangten nicht alle Elemente des vordera­siatischen Bündels in jede der entfernteren Regionen. So war es in Ägypten für Einkornweizen zu heiß. Zudem trafen in einigen Regionen verschiedene Elemente des Bündels zu unterschiedlichen Zeitpunkten ein. Beispiels­weise waren Schafe in Südwesteuropa früher verbreitet als Getreide. In einigen Regionen wurden zusätzlich lo­kale Pflanzenarten domestiziert, wie Mohn in Westeur­opa und, so wird vermutet, Wassermelonen in Ägypten. Die Hauptrolle spielten in all diesen Regionen jedoch zu­nächst Pflanzen und Tiere aus Vorderasien. Ihnen folg­ten binnen relativ kurzer Zeit weitere Innovationen, de­ren Ursprung ebenfalls in Vorderasien oder benachbar­ten Regionen lag. Darunter waren das Rad, die Schrift, Techniken zur Metallverarbeitung, die Melkkunst, Obst­bäume sowie die Bier- und Weinerzeugung.

Warum war im gesamten westlichen Eurasien das glei­che Pflanzenbündel an der Entstehung der Landwirt­schaft beteiligt? Lag der Grund darin, daß in vielen Ge­bieten die gleiche Kombination von Pflanzen natürlich vorgefunden und genau wie im Bereich des Fruchtba­ren Halbmonds für nützlich befunden und eigenstän­dig domestiziert wurde? Sicher nicht. Erstens kommen die meisten Gründerpflanzen Vorderasiens außerhalb dieser Region gar nicht vor. So ist keine der acht wich­tigsten Gründerpflanzen mit Ausnahme der Gerste in Ägypten heimisch. Das Niltal weist in ökologischer Hin­sicht starke Ähnlichkeit mit den Tälern von Euphrat und Tigris in Vorderasien auf. Deshalb war die Kombinati­on von Pflanzen und Tieren, die im Zweistromland so erfolgreich war, auch für das Niltal gut genug geeignet, um als Auslöser des Aufstiegs der ägyptischen Kultur zu Macht und Glanz zu dienen. Die dafür benötigten Nahrungsmittel fehlten in Ägypten jedoch ursprünglich. Sphinx und Pyramiden wurden von Menschen errich­tet, die sich von Anbaupflanzen ernährten, deren Hei­mat nicht Ägypten, sondern Vorderasien war.

Zweitens können wir selbst bei solchen Anbaupflanzen, deren wildwachsende Vorfahren auch außerhalb Vor­derasiens vorkommen, darauf vertrauen, daß die mei­sten dieser Gewächse, die in Europa und Indien angebaut werden, aus Vorderasien stammten und nicht das Er­gebnis örtlicher Domestikationen waren. Wilder Flachs beispiels weise ist im Westen bis nach Großbritannien und Algerien und im Osten bis zum Kaspischen Meer verbreitet, während wilde Gerste sogar noch in Tibet anzutreffen ist. Bei den meisten Gründerpflanzen aus Vorderasien finden wir jedoch bei allen heute kultivier­ten Varietäten von den vielen Chromosomenanordnun­gen, die bei den wildwachsenden Vorfahren auftreten, nur eine einzige; oder sie haben nur eine einzige Muta­tion (von den vielen möglichen) gemeinsam, durch die sich die kultivierten Varietäten von den wildwachsen­den Vorfahren in für uns nützlicher Weise unterschei­den. So weisen alle kultivierten Erbsen das gleiche re­zessive Gen auf, das verhindert, daß reife Schoten nicht, wie bei Wilderbsen, spontan aufspringen und ihren In­halt auf die Erde werfen.

Offensichtlich wurden die meisten Gründerpflanzen aus Vorderasien nach ihrer anfänglichen Domestikati­on nie anderswo erneut domestiziert. Wäre es anders gewesen, so hätte dies Spuren in Form unterschiedlich angeordneter Chromosomen oder verschiedener Muta­tionen hinterlassen. Wir haben es demnach mit typi­schen Beispielen für das oben erwähnte Phänomen der »präventiven Domestikation« zu tun. Die rasche Aus­breitung des Bündels von Anbaupflanzen und Haustie­ren aus dem Bereich des Fruchtbaren Halbmonds kam möglichen Versuchen innerhalb oder außerhalb dieser Region zuvor, die gleichen wildwachsenden Ahnenpflan­zen zu domestizieren. Nachdem die Kulturformen ein­mal vorhanden waren, brauchte man ihre Früchte nicht mehr in der Natur zu sammeln und den mühsamen Weg der Domestikation erneut zu beschreiten.

Die Vorfahren der meisten Gründerpflanzen haben in Vorderasien, aber auch in anderen Regionen wild­wachsende Verwandte, die ebenfalls zur Domestikati­on geeignet gewesen wären. Erbsen beispielsweise gehö­ren zur Gattung Pisum, die zwei wildwachsende Arten umfaßt: Pisum sativum, aus der unsere Gartenerbse ge­züchtet wurde, und Pisum fulvum, die nie domestiziert wurde. Wilderbsen der Art Pisum fulvum haben aller­dings in frischer oder getrockneter Form ebenfalls ei­nen angenehmen Geschmack und sind in der Natur weit verbreitet. Ähnlich besitzen die domestizierten Formen von Weizen, Gerste, Linsen, Kichererbsen, Bohnen und Flachs zahlreiche wildwachsende Verwandte. Bei Ger­ste und Bohnen wurden einige der verwandten Arten tatsächlich in Nord- und Südamerika beziehungsweise in China eigenständig domestiziert, also weit entfernt vom Ort der frühen Domestikation in Vorderasien. Im westlichen Eurasien wurde jedoch von mehreren poten­tiell nützlichen Wildarten nur eine einzige domestiziert – wahrscheinlich deshalb, weil sich diese eine so rasch verbreitete, daß die Menschen sich bald von den wild­wachsenden Verwandten abwendeten und nur noch die Früchte der Kulturform verzehrten. Auch hier war es wieder die rasche Ausbreitung der Kulturform, die wei­teren Versuchen zur Domestikation verwandter Arten beziehungsweise zur erneuten Domestikation der Ah­nenpflanze zuvorkam.

Warum vollzog sich die Ausbreitung von Kulturpflanzen aus Vorderasien in so raschem Tempo? Einen Teil der Antwort liefert die Ost-West-Achse Eurasiens, auf die ich bereits am Anfang dieses Kapitels hingewiesen habe. An Orten, die östlich oder westlich voneinander auf demselben geographischen Breitengrad liegen, sind die Tage genau gleich lang, und auch die jahreszeitlichen Schwankungen sind identisch. Übereinstimmung, obwohl weniger stark, herrscht auch bei Temperaturen und Niederschlagsmengen, Krankheiten und Lebensräumen beziehungsweise Biomen (Vegetationsty­pen). So ist beispielsweise die klimatische Ähnlichkeit zwischen Süditalien, dem Nordiran und Japan, die alle ungefähr auf demselben Breitengrad, nur jeweils etwa 6500 km östlich beziehungsweise westlich voneinander, liegen, erheblich größer als zwischen jeder dieser Regio­nen und nur 1500 km weiter südlich gelegenen Orten. Auf allen Kontinenten beschränkt sich der Lebensraum­typus, den wir als tropischen Regenwald bezeichnen, auf einen Raum, der sich zwischen dem 10. Grad nördlicher und südlicher Breite erstreckt, während mediterranes Buschland (wie beispielsweise der kalifornische Cha­parral und der europäische Maquis) etwa zwischen 30 und 40 Grad nördlicher Breite zu finden ist. Keimung, Wachstum und Krankheitsresistenz der Pflanzen sind aber genau an die Merkmale des jeweiligen lokalen Kli­mas angepaßt. Jahreszeitliche Unterschiede der Tages­länge, Temperatur und Nieder schlagsmenge geben Sa­men das Signal zur Keimung, Sämlingen das Signal zum Wachsen und ausgewachsenen Pflanzen das Signal zur Blüten-, Samen- und Fruchtbildung. Jede Pflanzen­population wird durch die natürliche Selektion gene­tisch darauf programmiert, richtig auf diese im Jahres­zeitenrhythmus variierenden Signale, an die sie sich im Laufe der Evolution angepaßt hat, zu reagieren. Je nach geographischer Lage unterscheiden sich die Signale er­heblich. So sind die Tage am Äquator das ganze Jahr über gleich lang, während sie in den gemäßigten Brei­ten in den Monaten zwischen Winter- und Sommer­sonnenwende länger und die nächsten sechs Monate wieder kürzer werden. Die Zeit des Pflanzenwachstums – also die Monate mit Temperaturen und Tageslängen, die dem Wachstum der Pflanzen förderlich sind – ist in den hohen Breitengraden am kürzesten und in Äqua­tornähe am längsten. Darüber hinaus besitzen Pflanzen auch eine Anpassung an die in ihrem Lebensraum ver­breiteten Krankheiten.

Wehe der Pflanze, deren genetisches Programm nicht zu dem Breitengrad paßt, an dem sie in die Erde ge­pflanzt wird! Man stelle sich einen kanadischen Bau­ern vor, der eine Maissorte anzubauen versucht, die an die Verhältnisse im viel weiter südlich gelegenen Mexi­ko angepaßt ist. Ihr genetisches Programm würde dieser Pflanze schon im März das Signal geben, ihre Triebe aus­zustrecken – um dann festzustellen, daß sie noch unter drei Meter Schnee begraben liegt. Wäre eine genetische Umprogrammierung möglich, so daß unser Pflänzlein zu einem für Kanada geeigneteren Zeitpunkt keimen würde, sagen wir Ende Juni, so würde gleich das näch­ste Problem auf sie warten. Unter Beachtung der in ih­rem Erbgut gespeicherten Informationen würde sie näm­lich ein gemächliches Wachstumstempo an den Tag le­gen und erst nach fünf Monaten voll ausgereift sein. Das wäre im milden Klima Mexikos kein Problem, in Kana­da jedoch verhängnisvoll, da der Herbstfrost die Pflan­ze abtöten würde, noch bevor die Maiskolben ausge­reift wären. Außerdem würden ihr die Gene fehlen, um sich gegen typische Krankheiten nördlicher Klimazonen zur Wehr zu setzen, während sie andererseits nutzlose Gene zum Schutz gegen Krankheiten des Südens besä­ße. Aus all diesen Gründen sind Pflanzen aus niedrigen geographischen Breiten schlecht an die Verhältnisse in hohen Breiten angepaßt und umgekehrt. Infolgedessen gedeihen die meisten Anbaupflanzen aus Vorderasien in Frankreich und Japan prächtig, am Äquator jedoch gar nicht gut.

Tiere sind ebenfalls an breitengradabhängige klimati­sche Gegebenheiten angepaßt. Das können wir sehr gut an uns selbst beobachten. Einige Menschen können die kalten nördlichen Winter mit ihren kurzen Tagen und typischen Krankheitserregern nicht vertragen, während andere das tropische Klima und tropische Krankheiten nicht verkraften. In den letzten Jahrhunderten richtete sich die Auswanderung von Kolonisten aus dem kühlen Nordeuropa vorzugsweise auf Regionen mit ebenfalls kühlem Klima in Nordamerika, Australien und Südafri­ka; in äquatornahen Ländern wie Kenia und Neuguinea ließen sich Europäer hauptsächlich in kühleren Hoch­landregionen nieder. Nordeuropäer, die in heiße tropi­sche Tieflandgebiete entsandt wurden, starben scharen­weise an Krankheiten wie Malaria, gegen die tropische Völker wenigstens teilweise resistent sind.

Hierin liegt ein weiterer Teil der Erklärung, warum sich die in Vorderasien domestizierten Tiere und Pflan­zen so rasch nach Westen und Osten ausbreiteten: Sie waren von vornherein gut an das Klima der Regionen, in die sie gelangten, angepaßt. Nachdem die Landwirtschaft das ungarische Tiefland passiert und um 5400 v. Chr. Mitteleuropa erreicht hatte, breitete sie sich so rasch aus, daß die ersten bäuerlichen Siedlungen in einem Gebiet, das von Polen bis nach Holland reichte, fast gleichzei­tig entstanden (erkennbar an den typischen Keramiken mit Linearornamenten). Zu Beginn unserer Zeitrech­nung waren die Getreidearten aus Vorderasien bereits in einem Raum verbreitet, der sich über mehr als 15 000 Kilometer von der Atlantikküste Irlands bis zur Pazi­fikküste Japans erstreckte. Die West-Ost-Ausdehnung Eurasiens stellt die größte Landentfernung auf unserem Planeten dar.

Es war also Eurasiens West-Ost-Achse zu verdanken, daß die Anbaugewächse aus Vorderasien binnen relativ kurzer Zeit in den verschiedenen Breiten der gemäßig­ten Klimazone, von Irland bis zum Industal, der Land­wirtschaft zur Entstehung verhelfen beziehungsweise die in Ostasien unabhängig entstandene Landwirtschaft be­reichern konnten. In umgekehrter Richtung fanden eu­rasische Kulturpflanzen, deren erste Domestikation weit von Vorderasien entfernt, aber auf gleicher geographi­scher Höhe erfolgt war, den Weg nach Vorderasien. Im heutigen Zeitalter des weltweiten Handelsverkehrs per Schiff und Flugzeug nimmt kaum noch jemand davon Notiz, daß sich unsere Nahrung aus einem geographi­schen Mischmasch zusammensetzt. Eine typische Mahl­zeit in einem amerikanischen Schnellrestaurant besteht zum Beispiel aus Huhn (Erstdomestikation in China) und Kartoffeln (aus den Anden) oder Mais (aus Mexi­ko), gewürzt mit Pfeffer (aus Indien) und herunterge­spült mit einer Tasse Kaffee (aus Äthiopien). Die alten Römer ernährten sich indes schon vor 2000 Jahren von einer bunten Mischung aus Lebensmitteln überwiegend fremder Herkunft. Von Roms Nahrungspflanzen wa­ren nur zwei – Hafer und Mohn – in Italien heimisch. Hauptsächlich speisten die Römer hingegen die Früch­te der Gründerpflanzen aus Vorderasien, ergänzt durch Quitten (aus dem Kaukasus), Hirse und Kreuzkümmel (in Zentralasien domestiziert), Gurken, Sesam und Zi­trusfrüchte (aus Indien) sowie Huhn, Reis, Aprikosen, Pfirsiche und Borstenhirse (ursprüngliche Herkunft aus China). Die in Rom verzehrten Äpfel waren zwar wenig­stens im westlichen Eurasien heimisch, doch die verwen­deten Veredelungstechniken stammten aus China.

Eurasien ist mit Abstand die größte Landmasse, deren einzelne Regionen grob gesehen auf gleicher geographi­scher Breite liegen, und stellt somit das krasseste Bei­spiel für die rasche Ausbreitung domestizierter Pflanzen und Tiere dar. Es gibt aber noch weitere Beispiele. Mit ähnlich hohem Tempo wie das vorderasiatische »Start­paket« verbreitete sich ein subtropisches Biobündel, das ursprünglich aus dem Süden Chinas stammte und bei seiner Ankunft im festländischen Südostasien, auf den Philippinen, in Indonesien und Neuguinea um weitere Komponenten ergänzt wurde. Innerhalb von 1600 Jahren hatte sich das so entstandene Paket aus Anbaupflanzen (Bananen, Taro, Jamswurzeln) und Haustieren (Hühner, Schweine, Hunde) über 8000 km weit ostwärts in den tropischen Pazifik hinein bis zur polynesischen Insel­welt ausgebreitet. Ein weiteres Beispiel war die Ost-West-Ausbreitung von Kulturgewächsen in der afrikanischen Sahelzone, deren Einzelheiten jedoch noch der näheren Erforschung durch Paläobotaniker bedürfen.

Man vergleiche die offenbar mühelose Ost-West-Aus­breitung durch die eurasischen Weiten mit den Proble­men der Nord-Süd-Ausbreitung in Afrika. Die meisten der Gründerpflanzen aus Vorderasien erreichten Ägyp­ten innerhalb relativ kurzer Zeit und gelangten von dort aus nach Süden bis ins kühle Hochland von Äthiopi­en, aber nicht weiter. Zwar wäre auch Südafrikas me­diterranes Klima ideal für sie geeignet gewesen, doch die über 3000 km breite tropische Klima- und Vege­tationszone zwischen Äthiopien und Südafrika erwies sich als unüberwindliches Hindernis. Geburtshelfer der Landwirtschaft in Afrika südlich der Sahara waren statt dessen Wildpflanzen (wie Sorghum und afrikanische Jamswurzeln), die in der Sahelzone und im tropischen Westafrika heimisch und an die warmen Temperaturen, Regenzeiten und die im Jahresverlauf relativ gleich lan­gen Tage in diesen Breiten angepaßt waren.

Klimatische Barrieren und Krankheiten (insbesonde­re die von der Tsetsefliege übertragene Schlafkrankheit) stoppten oder verlangsamten in Afrika auch den Vor­marsch von Haustieren aus Vorderasien. Das Pferd konn­te sich deshalb nie weiter südlich als in den westafrika­nischen Königreichen nördlich des Äquators etablieren. Der Vormarsch von Rindern, Schafen und Ziegen kam für 2000 Jahre am Nordrand der Serengeti zum Stehen; in dieser Zeit wurden neue Formen der Weidewirtschaft entwickelt und neue Viehrassen gezüchtet. Erst in den ersten beiden Jahrhunderten unserer Zeitrechnung, also 8000 Jahre nach ihrer Domestikation in Vorderasien, er­reichten Rinder, Schafe und Ziegen endlich Südafrika.

Kulturpflanzen aus dem tropischen Afrika stießen auf dem Weg nach Süden ebenfalls auf große Schwierigkei­ten. Im Gepäck schwarzhäutiger Bauernvölker (Bantus) trafen sie erst kurz nach der Ankunft der in Vorderasien domestizierten Haustiere in Südafrika ein. Dort konnten die afrikanischen Tropenpflanzen jedoch nie am ande­ren Ufer des Fish River, der die Grenze zur mediterra­nen Klimazone Südafrikas markiert, Fuß fassen.

Das Resultat war der bekannte Verlauf der südafrika­nischen Geschichte in den letzten 2000 Jahren. Einige der südafrikanischen Khoisan-Völker (früher Hotten­totten und Buschmänner genannt) gelangten in den Be­sitz von Vieh, wurden aber keine Ackerbauern. Nord­östlich des Fish River wurden sie von schwarzen bäu­erlichen Völkern, deren Wanderung nach Süden an diesem Fluß endete, zahlenmäßig überflügelt und ver­drängt. Erst als europäische Siedler im Jahr 1652 auf dem Seeweg eintrafen und das Pflanzenbündel aus Vor­derasien mitbrachten, hielt die Landwirtschaft auch in der mediterranen Zone Südafrikas Einzug. Der Zusam­menprall dieser Elemente bildete den Nährboden für die tragischen Entwicklungen im Südafrika der Neu­zeit: die rasche Dezimierung der Khoisan durch euro­päische Krankheiten und Waffen, ein Jahrhundert der Kriege zwischen Europäern und Schwarzafrikanern, ein weiteres Jahrhundert der rassistischen Unterdrückung und heute nun die gemeinsame Suche von Wei­ßen und Schwarzen nach einer neuen Form des Zusam­menlebens auf dem einstigen Land der Khoisan.

Vergleichen Sie die relativ mühelose Ost-West-Ausbrei­tung in Eurasien auch mit dem schwierigen Vordringen entlang der Nord-Süd-Achse des amerikanischen Dop­pelkontinents. Die Entfernung zwischen Mesound Sü­damerika – sagen wir, zwischen den Hochlandgebieten von Mexiko und Ecuador – beträgt weniger als 2000 km, was auf Eurasien übertragen in etwa der Entfer­nung zwischen dem Balkan und Mesopotamien ent­spricht. Der Balkan, der für die meisten Anbaupflanzen und Haustiere aus Mesopotamien ideale Voraussetzun­gen bot, empfing das Landwirtschaftsbündel aus Vor­derasien innerhalb von 2000 Jahren, nachdem es dort geschnürt worden war. Durch den rascheren Verlauf der Ausbreitung entging den Bewohnern des Balkans die Gelegenheit, die gleichen und verwandte Arten ih­rer Region selbst zu domestizieren. Hochlandgebiete in Mexiko und den Anden wären ganz ähnlich für viele Kulturpflanzen und Haustiere der jeweils anderen Re­gion geeignet gewesen. Einige wenige Pflanzen – hier sei insbesondere Mais aus Mexiko genannt – fanden denn auch schon in präkolumbianischer Zeit den Weg in die andere Region.

Andere Anbaupflanzen und Haustiere schafften den Weg von Mesoamerika nach Südamerika oder umge­kehrt dagegen nicht. Das kühle Hochland von Mexiko hätte ideale Bedingungen für die Haltung von Lamas oder Meerschweinchen und den Anbau von Kartoffeln – alle wurden im kühlen Hochland der Anden dome­stiziert – geboten. Der Weg nach Norden wurde jedoch durch die feuchtheißen Tieflandgebiete Mittelamerikas, die als Barriere dazwischenliegen, versperrt. Rund 5000 Jahre nach der Domestikation des Lamas in den Anden waren die Olmeken, Mayas, Azteken und all die ande­ren Kulturen Mexikos immer noch ohne Packtiere und eßbare Haustiere mit Ausnahme von Hunden.

Umgekehrt hätten in Mexiko domestizierte Truthähne und im Osten der USA domestizierte Sonnenblumen in den Anden möglicherweise gut gedeihen können, wäre ihnen der Weg nach Süden nicht wiederum durch die tropische Klimazone verwehrt worden. Mais, Kürbisse und Bohnen wurden nach ihrer Domestikation in Me­xiko mehrere tausend Jahre lang durch eine Nord-Süd-Entfernung von nur 1100 km am Erreichen des ameri­kanischen Südwestens gehindert, während mexikanische Paprikas in vorgeschichtlicher Zeit überhaupt nicht bis dorthin vordrangen. Mais benötigte nach seiner Dome­stikation in Mexiko mehrere Jahrtausende, um sich bis in den Osten Nordamerikas mit seinem kühleren Kli­ma und der kürzeren Vegetationsperiode auszubreiten. Irgendwann in den beiden ersten Jahrhunderten unse­rer Zeitrechnung tauchte er dort schließlich auf, spielte jedoch lange Zeit noch eine untergeordnete Rolle. Erst ab 900 n. Chr., als mittlerweile widerstandsfähigere, an das nördliche Klima angepaßte Maissorten gezüchtet worden waren, leistete der Maisanbau einen Beitrag zum Aufblühen der am höchsten entwickelten Indianerkul­tur Nordamerikas, der Mississippi-Kultur – gerade noch rechtzeitig, bevor ihr von europäischen Krankheiten, die von Kolumbus und seinen Nachfolgern eingeschleppt wurden, gleich wieder der Garaus gemacht wurde.

Wie wir uns erinnern, wissen wir aus genetischen Un­tersuchungen, daß die meisten Anbaugewächse aus Vor­derasien auf eine einzige Domestikation zurückgehen, deren Ergebnis sich so rasch verbreitete, daß es mög­lichen Domestikationen der gleichen oder verwandter Arten in anderen Gebieten zuvorkam. Demgegenüber gehören viele der weitverbreiteten amerikanischen Kul­turpflanzen verwandten Arten oder sogar genetisch un­terschiedlichen Varietäten an, die unabhängig vonein­ander in Mesoamerika, Südamerika und im Osten der heutigen USA domestiziert wurden. Mit eng verwandten Arten haben wir es in unterschiedlichen Regionen bei den Fuchsschwanzgewächsen, Bohnen, Paprikas, Kür­bissen, Baumwoll- und Tabaksorten zu tun, mit unter­schiedlichen Varietäten dagegen bei Gartenbohnen, Li­mabohnen, den Paprikas Capsicum annuum/chinense und dem Kürbis Cucurbita pepo. Dieses Resultat wie­derholter unabhängiger Domestikationen ist ein weite­res Indiz für das langsame Tempo der Ausbreitung von Kulturpflanzen entlang der amerikanischen Nord-Süd-Achse.

Afrika und der amerikanische Doppelkontinent sind also die beiden größten Landmassen mit dominieren­der Nord-Süd-Achse und entsprechend langsamer Aus­breitung von Haustieren und Kulturpflanzen. Daneben gibt es jedoch noch weitere Regionen, in denen die lang­same Nord-Süd-Ausbreitung ebenfalls eine Rolle spielte, wenn auch in kleinerem Maßstab. Beispiele hierfür sind der Austausch von Anbaupflanzen zwischen dem paki­stanischen Industal und Südindien im Schneckentempo, das langsame Vordringen der Landwirtschaft von Süd­china zur Malaiischen Halbinsel und die Tatsache, daß die tropische Landwirtschaft aus Indonesien und Neu­guinea in vorgeschichtlicher Zeit nicht den Sprung in den Südwesten beziehungsweise Südosten von Australien schaffte. Dort befinden sich heute die australischen Kornkammern – allerdings über 3000 km südlich des Äquators. Die Landwirtschaft hielt erst Einzug, als Schif­fe aus dem fernen Europa eintrafen und Anbaupflanzen mitbrachten, die an das kühle europäische Klima und die kurzen Vegetationsperioden angepaßt waren.

Ich habe mich so ausführlich mit Breitengraden be­schäftigt, weil sie einen wichtigen Faktor im Zusam­menhang mit Klima, Pflanzenwachstum und Ausbrei­tungsbedingungen der Landwirtschaft darstellen. Na­türlich gibt es aber noch weitere Faktoren, und es muß auch in benachbarten Regionen gleicher geographi­scher Breite nicht unbedingt das gleiche Klima herr­schen (trotz notwendigerweise übereinstimmender Ta­geslängen). Topographische und ökologische Barrieren, die auf manchen Kontinenten sehr viel ausgeprägter sind als auf anderen, behinderten die Ausbreitung der Landwirtschaft auf lokaler Ebene.

So verlief die Ausbreitung von Anbaupflanzen vom Südosten zum Südwesten der heutigen USA und umge­kehrt äußerst langsam und selektiv, obwohl beide Regio­nen auf gleicher geographischer Breite liegen. Der Grund war, daß sich mit Texas und der südlichen Prärie ein trockenes, für Ackerbau ungeeignetes Gebiet zwischen beiden Regionen erstreckte. Ein ähnliches Beispiel in Eurasien betrifft die Ostgrenze des Ausbreitungsgebiets der Anbaupflanzen aus dem Bereich des Fruchtbaren Halbmonds, die westwärts rasch bis zum Atlantik und ostwärts bis zum Industal vordrangen, ohne auf größe­re Hindernisse zu stoßen. Östlich des Industals führ­te jedoch der Wechsel von vorwiegend winterlichen zu vorwiegend sommerlichen Niederschlägen zu einer star­ken Verzögerung des weiteren Vordringens der Landwirt­schaft in die Gangesebene im Nordwesten Indiens, ein­hergehend mit der Nutzung anderer Anbaupflanzen und -techniken. Noch weiter östlich waren die klimatisch ge­mäßigten Regionen Chinas von Gebieten des westlichen Eurasien, in denen ein ähnliches Klima herrschte, durch die Wüsten Zentralasiens, das Hochland von Tibet und den Himalaja getrennt. Die ursprüngliche Entstehung der Landwirtschaft in China erfolgte deshalb unabhän­gig von Entwicklungen, die auf gleicher geographischer Breite in Vorderasien stattfanden, und brachte ganz an­dere Arten von Kulturpflanzen hervor. Selbst die gewalti­gen Barrieren, die China vom westlichen Eurasien trenn­ten, wurden jedoch im 2. Jahrtausend v. Chr. zumindest teilweise überwunden, als Weizen, Gerste und Pferde aus dem westlichen Asien nach China gelangten.

Andererseits hatte eine Nord-Süd-Entfernung von 3000 Kilometern nicht überall die gleiche trennende Wirkung. Vom Gebiet des Fruchtbaren Halbmonds brei­tete sich die Landwirtschaft nach Süden über eine Ent­fernung von etwa dieser Größenordnung nach Äthiopi­en aus, während die Bantu-Landwirtschaft vom Gebiet der großen Seen in Ostafrika innerhalb relativ kurzer Zeit südwärts bis nach Natal vordrang – in beiden Fällen waren die Regionen, die dazwischenlagen, durch ähnli­che Niederschlagsverhältnisse geprägt und für die Land­wirtschaft geeignet. Dagegen war die Ausbreitung von Kulturpflanzen von Indonesien in den Südwesten Au­straliens völlig unmöglich, und die wesentlich kürzere Distanz von Mexiko in den Südwesten und Südosten Nordamerikas konnte nur sehr langsam überwunden werden, weil dazwischen Wüstengebiete lagen, die für die Landwirtschaft nicht in Frage kamen. Das Fehlen eines Hochplateaus in Mesoamerika südlich von Gua­temala sowie Mesoamerikas extreme Verengung süd­lich von Mexiko und speziell in Panama spielten für das völlige oder weitgehende Ausbleiben eines Austauschs von Kulturpflanzen und Haustieren zwischen den Hoch­landgebieten Mexikos und der Anden eine mindestens ebenso wichtige Rolle wie die Unterschiede in der geo­graphischen Breite dieser Regionen.

Die unterschiedliche Ausrichtung der geographischen Hauptachsen der Kontinente beeinflußte nicht nur die Ausbreitung der Landwirtschaft, sondern auch die ande­rer Techniken und Erfindungen. So fand beispielsweise das um 3000 v. Chr. in Vorderasien erfundene Rad in­nerhalb weniger Jahrhunderte in großen Teilen Eurasi­ens Verbreitung, während die im prähistorischen Mexi­ko eigenständig erfundenen Räder nie südwärts in die Anden gelangten. Ähnlich breitete sich die Schrift, die im westlichen Teil Vorderasiens um 1500 v. Chr. erfun­den worden war, innerhalb von tausend Jahren west­wärts bis Karthago und ostwärts bis nach Indien aus. Die mesoamerikanischen Schriftsysteme, die in vorge­schichtlicher Zeit mindestens 2000 Jahre lang existier­ten, fanden dagegen nie den Weg in die Anden.

Räder und Alphabete stehen natürlich in keinem di­rekten Zusammenhang mit geographischer Breite und Tageslänge, wie es bei Anbaupflanzen der Fall ist. Die Verbindungen sind eher indirekt und führen meist über Agrarsysteme als Zwischenglied. Die ältesten Räder roll­ten an Ochsenkarren, die zum Transport landwirtschaft­licher Erzeugnisse dienten. Die Verwendung der ersten Schriften war auf Herrschaftskreise beschränkt, die von bäuerlichen Untertanen miternährt wurden, und diente Zwecken, die für wirtschaftlich und sozial differenzier­te Agrargesellschaften typisch waren (wie etwa Propa­ganda für den Herrscher, Buchhaltung usw.). So blieben Austauschbeziehungen typischerweise nicht beschränkt auf Anbaupflanzen, Haustiere und landwirtschaftliche Techniken, sondern erstreckten sich auch auf andere Be­reiche.

In einem in Amerika stolz gesungenen Lied, »America the Beautiful«, ist die Rede von Amerikas weiten Hori­zonten und seinen gelbbraunen, wogenden Kornfeldern, die von einem funkelnden Ozean zum anderen reichen. Im Grunde wird darin die Wirklichkeit auf den Kopf gestellt. Ähnlich wie in Afrika wurde die Ausbreitung heimischer Anbaupflanzen und Haustiere in Nord- und Südamerika durch geographische Barrieren aufgehalten. Keine Felder mit heimischem Getreide erstreckten sich je von der Atlantik­bis zur Pazifikküste Nordamerikas, von Kanada bis Patagonien oder von Ägypten bis nach Süd­afrika; dagegen reichten gelbbraune, wogende Weizen­und Gerstenfelder unter dem weiten Himmel Eurasiens sehr wohl vom Atlantik bis zum Pazifik. Die schnelle­re Ausbreitung der eurasischen im Vergleich zur india­nischen und afrikanischen Landwirtschaft südlich der Sahara spielte eine wichtige Rolle für die raschere Aus­breitung eurasischer Schriften, Technologien und Reiche (wie im nächsten Teil dieses Buches gezeigt wird).

Mit der Schilderung all dieser Unterschiede soll nicht der Eindruck erweckt werden, als seien weitverbreitete Anbaupflanzen an sich etwas Bewundernswertes oder als würden sie den größeren Einfallsreichtum der frü­hen eurasischen Bauern bezeugen. Sie sind vielmehr Aus­druck der günstigeren Ausrichtung der geographischen Hauptachse Eurasiens im Vergleich zu der Nord- und Südamerikas beziehungsweise Afrikas. Nicht zuletzt wa­ren es diese Achsen, um die sich das Rad der Geschich­te drehte.