KAPITEL 6
Wie eine Mandel zur Mandel gemacht wird
Die unabsichtliche Züchtung der ersten Anbaupflanzen
Wer durch die Natur wandert und einmal Lust auf Abwechslung von der Alltagskost verspürt, wird es besonders reizvoll finden, hier und da am Wegesrand wildwachsende Früchte zu probieren. Von einigen Wildpflanzen, wie etwa Walderdbeeren oder Heidelbeeren, wissen wir, daß sie gut schmecken und nicht giftig sind. Sie besitzen genügend Ähnlichkeit mit bekannten Kulturpflanzen, um es uns leicht zu machen, sie zu erkennen, auch wenn sie viel kleiner sind als die Früchte, die in unseren Gärten und Treibhäusern reifen. Noch mutigere Wanderer essen sogar Pilze – nicht ohne Vorsicht, weiß man doch, daß viele Arten starke Gifte enthalten. Doch nicht einmal ein begeisterter Nußesser würde auf die Idee kommen, wilde Mandeln zu verspeisen, von denen mehrere Dutzend Arten genug Cyanid (das Gift, das in den Gaskammern der Nazis verwendet wurde) enthalten, um den Unvorsichtigen ins Jenseits zu befördern. Die Wälder sind voller Pflanzen, deren Früchte ebenfalls als ungenießbar gelten.
Nun stammen aber alle heutigen Kulturpflanzen von wilden Ursprungsarten ab. Wie kam es, daß manche Wildformen in Kulturformen verwandelt wurden? Besondere Rätsel geben jene Pflanzen auf, deren wildwachsende Vorfahren tödliches Gift enthalten oder schlecht schmecken, aber auch solche, die (wie Mais) ganz anders aussehen als ihre wilden Ahnen. Welcher Höhlenmensch mag auf die Idee gekommen sein, eine Pflanze zu domestizieren, und wie gelang ihm das wohl?
Die Pflanzendomestikation kann so definiert werden, daß eine Pflanze in ihren genetischen Eigenschaften – bewußt oder unbewußt – in einer Weise verändert wird, die sie für den Menschen nützlicher macht als ihre wilden Ahnen. Heute ist die Entwicklung neuer Kulturpflanzen das Betätigungsfeld hochqualifizierter Wissenschaftler. In Kenntnis Hunderter bestehender Nutzpflanzen bemühen sie sich, weitere zu züchten. Um dieses Ziel zu erreichen, pflanzen sie eine Vielzahl verschiedener Samen oder Wurzeln, wählen die besten Resultate aus und pflanzen den neuen Samen wieder in die Erde; dies alles geschieht unter Anwendung von Kenntnissen der Erbbiologie und vielleicht sogar neuester gentechnischer Methoden zur Übertragung besonders wertvoller Gene. Wir haben es mit einer hochspezialisierten Wissenschaft zu tun. So ist an der University of California ein ganzes Institut dem Apfel gewidmet (»Seminar für Pomologie«), ein anderes den Weinbeeren und dem Wein (»Seminar für Weinbau und Önologie«).
Die Anfänge der Pflanzendomestikation liegen jedoch über 10 000 Jahre zurück, woraus folgt, daß die ersten Ackerbauern ohne Molekulargenetik auskommen mußten. Sie besaßen nicht einmal Vorbilder in Gestalt existierender Nutzpflanzen, an denen sie sich hätten orientieren können. Deshalb konnten sie auch nicht ahnen, daß bei dem, was sie taten, schmackhafte Früchte herauskommen würden.
Wie kam es dann zur unbewußten Domestikation von Pflanzen durch die ersten Ackerbauern? Oder genauer, wie verwandelten sie beispielsweise, ohne genaues Ziel vor Augen, giftige Mandeln in ungiftige? Welche Veränderungen nahmen sie an Wildpflanzen noch vor, außer einige zu vergrößern oder ihren Giftgehalt zu verringern? Selbst bei wertvollen Kulturpflanzen variieren die Zeitpunkte der Domestikation beträchtlich: So war die Erbse um 8000 v. Chr. domestiziert, die Olive um 4000 v. Chr., die Erdbeere erst im Mittelalter und die Pekannuß nicht vor 1846. Viele Wildpflanzen, deren Früchte heute von Millionen Menschen gepriesen werden, wie etwa die Eiche, deren Früchte in vielen Teilen der Welt gegessen werden, verweigern sich bis jetzt der Domestikation. Warum waren einige Pflanzen offenbar soviel leichter domestizierbar oder luden mehr dazu ein als andere? Warum gelang die Domestikation des Olivenbaums schon in der Steinzeit, während die Eiche selbst den begabtesten Agronomen unserer Zeit erfolgreich trotzt?
Beginnen wir mit einer Betrachtung der Domestikation aus der Sicht der Pflanzen. Für sie ist der Mensch nichts weiter als eine von Tausenden von Tierarten, die unbewußt Pflanzen »domestizieren«. – Wie alle Tierarten (einschließlich des Menschen) müssen auch Pflanzen das Problem lösen, ihre Ableger an einen Ort zu bringen, wo sie wachsen, gedeihen und die elterlichen Erbanlagen weitergeben können. Tierjunge können sich per pedes oder mit Hilfe von Flügeln an einen solchen Ort begeben, doch Pflanzen fehlt diese Möglichkeit, so daß sie fremde Hilfe in Anspruch nehmen müssen. Während die Samen einiger Wildpflanzenarten so beschaffen sind, daß sie durch die Luft segeln oder auf dem Wasser treiben können, bedienen sich viele andere eines Tricks, mit dem sie Tiere einspannen, um ihren Samen zu transportieren. Der Trick besteht darin, die Samen mit wohlschmeckenden Früchten zu umhüllen und deren Reife durch Farben oder Gerüche zu signalisieren. Ein Tier auf Nahrungssuche pflückt und verschluckt die Frucht, läuft oder fliegt davon und speit die Samenkörner in größerer Entfernung vom Ort der Mutterpflanze aus oder scheidet sie mit dem Kot aus. Auf diese Weise können Samen Entfernungen von mehreren tausend Kilometern überwinden.
Es mag überraschen, daß Pflanzensamen den Verdauungsprozeß in den Gedärmen unbeschadet überstehen, so daß sie nach ihrer Ausscheidung noch keimen. Wer es genau wissen will und nicht zu zimperlich ist, kann aber selbst die Probe machen. In vielen Fällen sind die Samen von Wildpflanzen sogar auf die Passage durch den tierischen Verdauungstrakt regelrecht angewiesen, um keimen zu können. Das gilt zum Beispiel für eine afrikanische Melonenart, die so gut an ihren Platz auf dem Speiseplan des Erdferkels, einer hyänenartigen Kreatur, angepaßt ist, daß sie am häufigsten dort zu finden ist, wo Erdferkel ihren Kot hinterlassen.
Nehmen wir als Beispiel dafür, wie sich manche Pflanzen ihre »Mitfahrgelegenheit« beschaffen, einmal die Walderdbeere. Wenn Erdbeersamen noch zu jung zum Keimen sind, ist das Fruchtfleisch grün, sauer und hart. Sind die Samen endlich reif, hat sich auch die Beere verwandelt: Ihr Fruchtfleisch ist rot, süß und weich. Die Farbveränderung dient als Signal, das Vögel wie etwa Misteldrosseln anlockt, die dann die Beeren pflücken und mit ihnen davonfliegen, um die Samenkörner später wieder auszuspeien oder mit dem Kot auszuscheiden.
Natürlich verfolgten die Erdbeeren nicht planvoll das Ziel, just in dem Moment, in dem ihre Samen reif und zum Ausstreuen bereit waren, Vögel anzulocken. Und natürlich ging es den Misteldrosseln auch nicht darum, Erdbeeren zu domestizieren. Die Evolution der Erdbeerpflanzen erfolgte vielmehr durch natürliche Selektion. Je grüner und saurer die jungen Erdbeeren waren, desto weniger Samenkörner wurden von Vögeln vernichtet, die vorzeitig Beeren pflückten; je süßer und roter die Erdbeeren am Ende waren, desto mehr wurden von Vögeln gepflückt, die damit auch die reifen Samenkörner verbreiteten.
Zahllose andere Pflanzen besitzen ebenfalls Früchte, die an Verzehr und Verbreitung durch bestimmte Tierarten angepaßt sind. Wie Erdbeeren an Vögel, so sind Eicheln an Eichhörnchen, Mangofrüchte an Fledermäuse und einige Arten von Riedgräsern an Ameisen angepaßt. Damit ist ein Teil unserer Definition der Pflanzendomestikation erfüllt, nämlich die genetische Veränderung einer Wildpflanze in der Weise, daß ihr Nutzen für Konsumenten erhöht wird. Niemand würde diesen evolutionären Prozeß jedoch ernsthaft als Domestikation bezeichnen, da Vögel, Fledermäuse und andere tierische Konsumenten den zweiten Teil der Definition nicht erfüllen: Sie bauen Pflanzen nicht bewußt an. Ähnlich bestanden die unbewußten Anfangsphasen der Domestikation von Wildpflanzen durch Menschen darin, daß sich Pflanzen im Zuge ihrer Evolution so veränderten, daß Menschen dazu verleitet wurden, ihre Früchte zu essen und zu verbreiten, ohne die betreff enden Pflanzen zunächst jedoch bewußt anzubauen. Womöglich waren menschliche Latrinen, wie jene der Erdferkel, Versuchsstätten der ersten unbewußten Pflanzenzüchter.
Latrinen sind nur einer der vielen Orte, an denen die Samen von Wildpflanzen unabsichtlich ausgesät wurden. Wenn wir eßbare Früchte von Wildpflanzen pflücken und heimtragen, fallen uns unterwegs oder zu Hause ein paar davon herunter. Manche verfaulen, während die in ihnen verborgenen Samen völlig unversehrt bleiben, und landen ungegessen auf dem Müll. Von den verschiedenen Früchten, die wir verspeisen, haben etwa Erdbeeren so winzige Samenkörner, daß sie unweigerlich verschluckt und beim Stuhlgang ausgeschieden werden; andere sind jedoch so groß, daß wir es vorziehen, sie auszuspucken. Unsere Spucknäpfe und Müllkippen zählten deshalb neben den stillen Örtchen zu den ersten landwirtschaftlichen Versuchslabors.
Unabhängig davon, in welchem dieser »Labors« die Samen im einzelnen landeten, stammten sie doch in der Regel von ganz bestimmten einzelnen Vertretern eßbarer Pflanzenarten – nämlich solchen, denen wir aus dem einen oder anderen Grund den Vorzug gaben. Wer einmal Beeren gesammelt hat, weiß, daß man sich bestimmte Beeren beziehungsweise Sträucher oder Büsche ausguckt. Als die ersten Ackerbauern begannen, Samen bewußt zu säen, waren es unweigerlich Samen jener Pflanzen, auf die ihre Wahl beim Pflücken gefallen war – auch wenn ihnen die Regeln der Erbbiologie unbekannt waren, nach denen aus den Samenkörnern großer Beeren mit hoher Wahrscheinlichkeit Sträucher mit ebenfalls großen Beeren wachsen. – Bahnt man sich also an einem schwülen Tag den Weg durch ein dorniges Gestrüpp voller Mücken, dann sicher nicht wegen einer xbeliebigen Erdbeerstaude. Stets trifft man Entscheidungen – wenn auch vielleicht unbewußt – darüber, welche Pflanze am vielversprechendsten aussieht und ob sich die Mühe überhaupt lohnt. Welches sind unsere unbewußten Kriterien?
Eins betrifft natürlich die Größe. Große Beeren werden bevorzugt, da es Zeitvergeudung wäre, sich wegen einer Handvoll mickriger Beeren einen Sonnenbrand und Mückenstiche zu holen. Damit ist teilweise erklärt, warum viele Nutzpflanzen wesentlich größere Früchte tragen als ihre wildwachsenden Vorfahren. Besonders vertraut ist uns der Vergleich der geradezu gigantischen Erdbeeren und Heidelbeeren im Supermarkt mit denen, die uns in der Natur begegnen; diese Unterschiede sind erst in den letzten Jahrhunderten entstanden.
Bei anderen Pflanzen gehen derartige Größenunterschiede auf die Anfänge der Landwirtschaft zurück, als zum Beispiel Erbsen durch die Auslese des Menschen immer schwerer wurden, bis sie zehnmal soviel wogen wie Wilderbsen. Die kleineren Wilderbsen hatten Jäger und Sammler schon seit Jahrtausenden geerntet, so wie wir heute noch kleine Heidelbeeren im Wald pflücken, bevor das selektive Ernten und Pflanzen der ansprechendsten, größten Wilderbsen – also das, was wir Züchtung nennen – automatisch zu einer Steigerung der durchschnittlichen Erbsengröße von einer Generation zur nächsten führte. Ähnliches gilt für Äpfel, deren in Supermärkten angebotene Vertreter meist einen Durchmesser von 7–8 cm haben, während es Wildäpfel nur auf 2–3 cm bringen. Waren die ältesten Maiskolben kaum mehr als 1 cm lang, so hatten mexikanische Indianer gegen 1500 n. Chr. bereits bis zu 15 cm lange Kolben gezüchtet. Heute findet man sogar Maiskolben von über 40 cm Länge.
Ein weiterer offenkundiger Unterschied zwischen den Samen, die wir in der Landwirtschaft verwenden, und vielen ihrer wilden Vorfahren liegt im Geschmack. Im Laufe der Evolution nahmen viele wilde Samen einen bitteren, üblen Geschmack an oder wurden sogar giftig, was sie davor schützte, von Tieren gefressen zu werden. Somit hat die natürliche Selektion auf Samen und Früchte eine entgegengesetzte Wirkung. Pflanzen mit wohlschmeckenden Früchten lassen ihre Samen zwar von Tieren ausstreuen, doch der Samen selbst, der sich in der Frucht verbirgt, muß möglichst ungenießbar sein. Denn sonst würde das Tier, das die Frucht frißt, auch den Samen zerkauen, und er könnte nicht mehr sprießen.
Mandeln geben ein bemerkenswertes Beispiel für bittere Samen und ihre Veränderung durch Domestikation ab. Die meisten wilden Mandelsorten enthalten einen äußerst bitteren Stoff mit dem Namen Amygdalin, bei dessen Aufspaltung das schon erwähnte Gift Cyanid entsteht. Eine kleine Portion wilder Mandeln enthält genug von diesem Gift, um einen Menschen, der so leichtsinnig ist, die Warnung des bitteren Geschmacks in den Wind zu schlagen, umzubringen. Da das erste Stadium der unbewußten Domestikation mit dem Sammeln von Samen zwecks Verzehr verbunden ist, fragt man sich, wie dann überhaupt die Domestikation wilder Mandeln dieses Stadium erreichen konnte?
Die Erklärung lautet, daß einzelne Mandelbäume gelegentlich ein mutiertes Gen aufweisen, das die Synthese des bitteren Amygdalins verhindert. In der Natur hinterlassen solche Bäume keinen Nachwuchs, da die Veränderung von Vögeln entdeckt wird, die daraufhin alle Samen auffressen. Neugierige oder hungrige Kinder der frühen Bauern, die an den Wildpflanzen ihrer Umgebung herumknabberten, dürften aber ebenfalls dann und wann auf diese nichtbitteren Mandeln gestoßen sein. (Ähnlich erkennt und schätzt man in manchen Gegenden Europas noch heute einzelne Eichbäume mit süßen statt bitteren Eicheln.) Nur jene nichtbitteren Mandeln hätten die angehenden Bauern gepflanzt, zunächst unabsichtlich auf ihren Müllhaufen, später bewußt in Gärten und Plantagen.
Schon um 8000 v. Chr. tauchten wilde Mandeln in Griechenland auf, wie archäologische Funde belegen. Bis 3000 v. Chr. waren sie in verschiedenen Gegenden im östlichen Mittelmeerraum domestiziert. Als der ägyptische König Tutanchamun um 1325 v. Chr. starb, gab man ihm unter anderem Mandeln als Zehrung für das Leben nach dem Tod mit in sein Grab. Limabohnen, Wassermelonen, Kartoffeln, Auberginen und Kohl zählen zu den vielen anderen heute bekannten Gemüsesorten mit bitteren oder giftigen Wildvorfahren, von denen einzelne süße Vertreter rund um die stillen Örtchen frühzeitlicher Wanderer gesprossen sein müssen.
Neben Größe und Geschmack als naheliegendsten Kriterien, die Jäger und Sammler bei der Auswahl von Wildpflanzen leiteten, spielten noch weitere eine Rolle: fleischige oder kernlose Früchte, ölhaltige Samen und lange Fasern. Während bei wilden Kürbissen kein oder nur wenig Fruchtfleisch die Kerne umhüllt, führten die Vorlieben der frühen Bauern dazu, daß die Frucht bald mehr Fleisch als Samenkerne enthielt. Bei Bananen führte die Auslese schon vor langer Zeit dazu, daß sie ganz aus Fruchtfleisch ohne Kerne bestehen, was moderne Agrarwissenschaftler zur Züchtung kernloser Apfelsinen, Weinbeeren und Wassermelonen inspirierte. Kernlosigkeit ist ein gutes Beispiel dafür, wie von der ursprünglichen Funktion einer Frucht, nämlich die Verbreitung der Art zu gewährleisten, durch die Auslese des Menschen oft nichts mehr übrigbleibt.
Auch nach dem Kriterium der Ölhaltigkeit wurden in vorgeschichtlicher Zeit etliche Pflanzen ausgewählt.
Einer der ältesten im Mittelmeerraum domestizierten Obstbäume ist die Olive, die seit etwa 4000 v. Chr. wegen ihres Öls kultiviert wurde. Domestizierte Oliven sind nicht nur größer, sondern auch ölhaltiger als ihre wilden Verwandten. Ähnlich verfuhren die frühen Bauern auch mit Sesam, Senf, Mohn und Flachs, um Öl aus Samen zu gewinnen, was ihnen moderne Wissenschaftler mit Sonnenblumen, Färberdistel und Baumwolle nachmachten.
Bevor Baumwolle zur Ölgewinnung genutzt wurde, was erst seit kurzem der Fall ist, baute man sie bekanntlich wegen ihrer Fasern an, aus denen Stoffe gewebt wurden. Bei den Fasern (Lint genannt) handelt es sich um Haare, die an den Baumwollsamen sitzen; frühe Bauern in Amerika und in der Alten Welt wählten unabhängig voneinander bestimmte Baumwollsorten wegen ihrer langen Fasern aus. Bei Flachs und Hanf, zwei weiteren Pflanzen, die im Altertum zur Stoffherstellung angebaut wurden, stammen die Fasern dagegen vom Stengel, so daß bei der Auslese lange, gerade Stengel das Kriterium waren. Mag man, wenn von Kulturpflanzen die Rede ist, auch zuerst an Eßbares denken, so ist doch Flachs eine der ältesten Anbaupflanzen des Menschen (Domestikation um 7000 v. Chr.). Aus ihm wurde Leinen hergestellt, das in Europa der wichtigste Stoff blieb, bis nach der industriellen Revolution Baumwolle und Kunstfasern an seine Stelle traten.
Bei allen bisher erörterten Veränderungen im Zuge der Evolution von Wildzu Kulturformen ging es um Eigenschaften, die von frühen Bauern wahrgenommen werden konnten – wie Fruchtgröße, Bitterkeit, Fleischigkeit, Ölgehalt und Faserlänge. Durch Selektion einzelner Pflanzen, die bevorzugte Eigenschaften in besonders hohem Ausmaß besaßen, trugen frühzeitliche Völker unbewußt zur Verbreitung dieser Pflanzen bei und brachten sie auf den Weg, der zu ihrer Domestikation führen sollte.
Daneben gab es jedoch mindestens vier andere wichtige Arten von Veränderungen, die nicht daraus resultierten, daß die Beerensammler eine Auswahl aufgrund sichtbarer Merkmale trafen. Vielmehr lösten sie Veränderungen entweder durch das Ernten solcher Früchte aus, die sich ihnen anboten, während andere dies aus unsichtbaren Gründen nicht taten, oder durch Einwirkung auf die Selektionsbedingungen, denen die Pflanzen unterlagen.
Die erste derartige Veränderung richtete sich auf natürliche Verbreitungsmittel. Viele Pflanzen besitzen besondere Mechanismen zum Ausstreuen ihrer Samen (die zugleich Menschen davon abhalten, sie in Mengen zu ernten). Nur mutierte Samen, denen diese Mechanismen fehlten, konnten geerntet werden und wurden so zu Vorfahren von Kulturpflanzen.
Ein anschauliches Beispiel liefern Erbsen, deren Samen (die wir als Gemüse essen) in Hülsen sitzen, die sie zum Keimen verlassen müssen. Dazu diente bei Wilderbsen ein Gen, das bewirkt, daß die Hülse aufspringt und die Erbsen herausgeschleudert werden. Bei vereinzelt vorkommenden mutierten Erbsen ist das jedoch nicht der Fall. In der Natur sind solche Mutanten dazu verdammt, in ihren Hülsen zu verkümmern, während nur die Erbsen aus aufspringenden Hülsen in der Lage sind, ihr Erbgut weiterzugeben. Umgekehrt sind jedoch die einzigen Hülsen, die darauf warten, vom Menschen gepflückt zu werden, eben jene, die nicht aufspringen. Sobald der Mensch begann, wilde Erbsen als Nahrung zu ernten, begann deshalb sofort eine Auslese zugunsten jenes mutierten Gens. Auch bei Linsen, Flachs und Mohn fiel die Wahl auf Mutanten, deren Hülsen nicht aufspringen wollten.
Statt in einer Hülse mit Aufspringmechanismus wachsen die Körner von Wildweizen und -gerste in Ähren an der Halmspitze, die, wenn die Zeit gekommen ist, brüchig werden, zerfallen und die Körner zum Keimen auf den Boden werfen. Ein einziges mutiertes Gen bewirkt, daß die Samenkörner nicht abgeworfen werden. In der Natur wäre diese Mutation für die Pflanze verhängnisvoll, da die Samen an den Halmen vertrocknen würden, statt im Erdreich Wurzeln zu schlagen. Es waren aber ausgerechnet jene mutierten Samenkörner, die von Menschen bequem geerntet werden konnten. Bei späterer Aussaat boten sich an den Halmen der nächsten Generation wieder besonders die mutierten Körner zum Ernten und Aussäen an, während die normalen Körner abgeworfen wurden und deshalb nicht in Frage kamen. Dies bedeutet, daß die frühen Bauern die Richtung der natürlichen Selektion um 180 Grad verkehrten: Das zuvor erfolgreiche Gen wurde verhängnisvoll, und das zuvor verhängnisvolle mutierte Gen wurde plötzlich erfolgreich. Jene unbewußte Selektion von Weizen- und Gerstenhalmen, die ihre Körner nicht abwarfen, war vor über 10 000 Jahren offenbar die erste bedeutende »Verbesserung« einer Pflanze durch den Menschen. Dieser Schritt markierte zugleich den Beginn der Landwirtschaft im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds.
Der zweite Veränderungstyp war für frühzeitliche Wanderer noch weniger sichtbar. Bei einjährigen Pflanzen, die in Gebieten mit besonders unberechenbarem Klima wuchsen, konnte es katastrophal sein, wenn alle Samen binnen eines kurzen Zeitraums gleichzeitig keimten. Wo dies geschah, konnten in einer einzigen Dürre- oder Frostperiode alle Sämlinge eingehen, so daß für die Fortpflanzung der Art keine Samen mehr übrig waren. Um ihre Chancen auf Fortpflanzung zu erhöhen, entwickelten deshalb viele einjährige Pflanzen als Schutzmechanismus den sogenannten Keimverzug, der bewirkt, daß die Samen zunächst in einem Ruhezustand »schlummern« und die Keimung über mehrere Jahre verteilt erfolgt. Auf diese Weise bleiben immer einige Samen für später intakt, selbst wenn die meisten durch anhaltendes Unwetter eingehen.
Eine bei Wildpflanzen häufig vorkommende Anpassung, die der Erhöhung der Keimungschancen dient, ist eine dicke Schale um die Samen. Zu den zahlreichen Wildpflanzen, die dafür Beispiele liefern, zählen Weizen, Gerste, Erbsen, Flachs und Sonnenblumen. Während solche spätsprießenden Samen in der Natur am Ende doch zum Zuge kommen, brachte das Aufkommen der Landwirtschaft einen drastischen Wandel mit sich. Die frühen Bauern dürften durch Ausprobieren herausgefunden haben, daß sie ihre Ernteerträge steigern konnten, wenn sie den Boden vor der Aussaat bestellten und bewässerten. Als dies geschah, wuchsen Samen, die prompt keimten, zu Pflanzen heran, deren Samen geerntet und im folgenden Jahr zur Aussaat verwendet wurden. Viele der wilden Samen keimten jedoch nicht sofort und kamen deshalb nicht dazu, geerntet und im Folgejahr ausgesät zu werden.
Den sporadisch auftretenden mutierten Wildpflanzen mangelte es an dicken Samenschalen oder anderen Möglichkeiten, die Keimung zu verzögern. Sie keimten sofort, und von den Samen, die sie hervorbrachten, wurden wiederum die mutierten geerntet. Die frühen Bauern dürften den Unterschied nicht in der Weise bemerkt haben, wie sie große Beeren erkannten und selektiv ernteten. Der Kreislauf von Säen-Wachsen-Ernten-Säen führte jedoch sofort und unbewußt zu einer Begünstigung der Mutanten. Ebenso wie die Veränderungen in den natürlichen Samenverbreitungsmitteln ist der Verlust des Keimverzugs kennzeichnend für Weizen, Gerste, Erbsen und viele andere Kulturpflanzen im Unterschied zu ihren wildwachsenden Vorfahren.
Der letzte Haupttyp einer in der Entstehungsphase der Landwirtschaft für Bauern unsichtbaren Veränderung betrifftdiepflanzliche Reproduktion. Ein generelles Problem bei der Züchtung von Kulturpflanzen liegt darin, daß die vereinzelt auftretenden mutierten Formen für Menschen nützlicher sind als die normalen (z. B. wegen ihrer größeren oder weniger bitteren Samen). Wenn sich diese wünschenswerten Mutanten dann aber mit normalen Pflanzen kreuzten, wurde die Mutation sofort abgeschwächt oder ging wieder verloren. Unter welchen Umständen blieb sie im Interesse der frühen Bauern bewahrt?
Bei Arten, bei denen sich die einzelnen Individuen ohne »fremde Hilfe« fortpflanzen, bleibt eine Mutation automatisch erhalten. Das gilt für Pflanzen mit ungeschlechtlicher Fortpflanzung (Bildung von Nachwuchs aus einer Knolle oder Wurzel der Ausgangspflanze) oder für zwittrige Pflanzen mit der Fähigkeit zur Selbstbefruchtung. Bei der großen Mehrzahl der Wildpflanzen erfolgt die Reproduktion jedoch nicht auf diese Weise. Entweder sind sie zweigeschlechtlich ohne die Fähigkeit zur Selbstbefruchtung, so daß sie sich mit zwittrigen Artgenossen gegenseitig begatten müssen (»mein männlicher Teil befruchtet deinen weiblichen Teil, dein männlicher Teil befruchtet meinen weiblichen Teil«), oder es handelt sich um getrennte männliche und weibliche Individuen, wie wir es von den Säugetieren her kennen. Beides war höchst unerfreulich für die frühen Bauern, denen dadurch alle vorteilhaften Mutanten verlorengingen, ohne daß sie den Grund kannten.
Die Lösung hing mit einem weiteren Typ unsichtbarer Veränderungen zusammen. Viele Mutationen betreffen die Fortpflanzungsbiologie selbst. So wuchsen an einigen mutierten Pflanzen Früchte ohne vorherige Bestäubung – ein Umstand, dem wir kernlose Bananen, Weinbeeren, Apfelsinen und Ananas verdanken. Einige mutierte Zwitter gewannen die Fähigkeit zur Selbstbefruchtung, die ihnen vorher fehlte, was unter anderem bei zahlreichen Obstbäumen wie Pflaumen, Pfirsichen, Äpfeln, Aprikosen und Kirschen der Fall war. Einige mutierte Weinbeeren, die normalerweise getrennt in männlicher und weiblicher Form auftreten, wurden ebenfalls zu selbstbefruchtenden Zwittern. Auf diese und andere Weise gelangten frühzeitliche Bauern auch ohne Kenntnis der pflanzlichen Reproduktionsbiologie in den Besitz wertvoller, sich reinrassig vermehrender Kulturformen, deren Aussaat lohnender war als die anfangs vielversprechender Mutanten, deren Nachkommen sich als nutzlos erwiesen.
Die Auslese einzelner Pflanzen erfolgte somit nicht nur auf der Grundlage wahrnehmbarer Eigenschaften (wie Größe und Geschmack), sondern auch anhand unsichtbarer Merkmale (wie Verbreitungsmittel, Keimverzug und Reproduktionsbiologie). Als Resultat zielte die Auslese bei verschiedenen Pflanzen auf ganz unterschiedliche oder sogar entgegengesetzte Merkmale. Bei einigen (zum Beispiel bei der Sonnenblume) war das Ziel die Vergrößerung der Samen, bei anderen (zum Beispiel Bananen) waren dagegen Früchte mit winzigen Samenkernen oder ganz ohne solche gewünscht. Beim Kopfsalat wurden üppige Blätter auf Kosten von Samen oder Früchten gezüchtet, bei Weizen und Sonnenblumen Samenkörner auf Kosten der Blätter und beim Kürbis die Frucht auf Kosten der Blätter. Besonders aufschlußreich sind Fälle, in denen eine einzige Wildform zu verschiedenen Zwecken gezüchtet wurde, so daß mehrere Kulturformen mit sehr unterschiedlichem Aussehen entstanden. Bei Rüben, die schon in babylonischen Zeiten wegen ihrer Blätter angebaut wurden (wie die heutigen Sorten, die wir Mangold nennen), interessierte man sich später für die eßbaren Wurzeln und schließlich (im 18. Jahrhundert) für ihren Zuckergehalt (Zuckerrüben). Die Vorfahren des heutigen Kohls, die ursprünglich möglicherweise wegen ihrer ölhaltigen Samen angebaut wurden, erlebten eine noch größere Variierung: Sie wurden zu verschiedenen Zeitpunkten wegen der Blätter (heutiger Kohl, Grünkohl), Stiele (Kohlrabi), Knospen (Rosenkohl) und Sprossen (Blumenkohl, Brokkoli) gezüchtet.
Bisher haben wir erörtert, wie aus Wildformen durch die – bewußte oder unbewußte – Auslese des Menschen Kulturformen entstanden: Bauern wählten zunächst die Samen einzelner Wildpflanzen aus, um sie in Gärten zu säen; dann wählten sie von den Nachkommen jedes Jahr bestimmte Samen aus und verwendeten sie im nächsten Jahr als Saatgut. Zu einem großen Teil war die Domestikation aber auch Resultat einer »Selbstauslese« der Pflanzen. Darwins Begriff von der »natürlichen Zuchtwahl« bedeutet, daß bestimmte Angehörige einer Art unter natürlichen Bedingungen im »Kampf ums Dasein« und/ oder bei der Fortpflanzung erfolgreicher sind als ihre Artgenossen. Ändern sich die Bedingungen, meistern womöglich andere Typen von Individuen den Überlebenskampf besser und hinterlassen mehr Nachkommen, haben mithin einen Selektionsvorteil mit der Folge eines evolutionären Wandels innerhalb der betreffenden Population. Ein klassisches Beispiel ist die Entstehung des sogenannten Industriemelanismus bei britischen Nachtfaltern: Im Zuge der Verschmutzung der Umwelt im 19. Jahrhundert traten Nachtfalter mit dunkler Körperoberfläche häufiger auf als solche mit hellerer Färbung, weil dunkle Nachtfalter, die an einem verrußten Baumstamm saßen, der Aufmerksamkeit ihrer Feinde eher entgingen als leichter erspähbare helle Falter.
Wie die industrielle Revolution die Umwelt der Nachtfalter verän derte, so veränderte die Landwirtschaft die Umwelt vieler Pflanzen. Ein bestellter, gedüngter, bewässerter und gejäteter Garten bietet völlig andere Wachstumsbedingungen als ein trockener, ungedüngter Berghang. Viele Veränderungen, die Pflanzen im Zuge der Domestikation erfuhren, rührten von solchen veränderten Umweltbedingungen her.
Sät beispielsweise ein Bauer die Saat in einem Garten dicht aus, entsteht unter den Samen ein heftiger Konkurrenzkampf. Große Samen können die guten Bedingungen ausnutzen und mit raschem Wachstum quittieren, so daß sie im Vorteil gegenüber kleineren Samen sind, die an trockenen, ungedüngten Berghängen mit geringerer Samenzahl und weniger hartem Konkurrenzkampf die Oberhand hatten. Eine in dieser Weise verschärfte Konkurrenz unter den Pflanzen spielte eine wichtige Rolle beim Größerwerden der Samen und vielen anderen Veränderungen, die sich bei der Verwandlung von Wild- in Kulturpflanzen einstellten.
Was erklärt nun aber die großen Unterschiede in der Schwierigkeit der Domestikation verschiedener Pflanzen, so daß einige Arten schon sehr früh, andere erst im Mittelalter und wieder andere trotz aller Bemühungen bis heute nicht domestiziert werden konnten? Viele der Gründe lassen sich aus der zeitlichen Abfolge ableiten, in der verschiedene Kulturpflanzen im Nahen Osten auftraten.
Wie sich zeigt, stammten die frühesten Kulturpflanzen im Gebiet des Fruchtbaren Halbmonds, wie Weizen, Gerste und Erbsen, die vor rund 10 000 Jahren domestiziert wurden, von Wildpflanzen ab, die schon viele Vorzüge besaßen. So waren sie auch in der Wildform eßbar und ertragreich. Ihr Anbau war relativ einfach, man brauchte sie bloß zu säen oder zu pflanzen. Sie wuchsen zudem rasch und konnten schon wenige Monate nach der Saat geerntet werden, was gerade in einer Zeit noch fließender Übergänge zwischen nomadischem Jägertum und seßhaftem Dorfleben einen großen Vorteil darstellte. Ein weiterer Pluspunkt war die gute Lagerfähigkeit im Gegensatz zu vielen späteren Kulturpflanzen, etwa Erdbeeren und Kopfsalat. Die meisten frühen Anbaupflanzen waren Selbstbestäuber und konnten so ihre nützlichen Erbanlagen unverändert weitergeben, statt sich mit anderen, für den Menschen weniger nützlichen Unterarten kreuzen zu müssen. Und schließlich bedurfte es zur erfolgreichen Domestikation der wilden Vorfahren der frühesten Kulturpflanzen nur sehr weniger genetischer Veränderungen. Beim Weizen genügten beispielsweise schon die Mutationen, die das Abwerfen der Körner vom Halm verhinderten und eine rasche, einheitliche Keimung bewirkten.
In der nächsten Phase wurden um 4000 v. Chr. die ersten Obst- und Nußbäume domestiziert. Dazu zählten Oliven, Feigen, Datteln, Granatäpfel und Weinbeeren. Gegenüber Getreide und Hülsenfrüchten hatten sie den Nachteil, daß nach der Anpflanzung mindestens drei Jahre vergingen, bis die ersten Früchte wuchsen, und daß ein ganzes Jahrzehnt verstreichen konnte, bis die volle Ertragskraft erreicht war. Damit kam ihr Anbau nur für wirklich seßhafte Gemeinschaften in Frage. Immerhin zählten die frühen Obst- und Nußbäume zu den am einfachsten zu domestizierenden Gewächsen dieser Art. Im Unter schied zu später domestizierten Bäumen ließen sie sich direkt durch Einpflanzen von Ablegern oder sogar Samen ziehen. Ableger hatten den Vorteil, daß alle Nachkommen identische Erbanlagen besaßen.
Eine dritte Phase beinhaltete Obstbäume – Äpfel, Birnen, Pflaumen und Kirschen –, deren Domestikation erheblich größere Schwierigkeiten aufwarf. Sie können nämlich nicht aus Ablegern gezogen werden, und auch das Einpflanzen von Samenkörnern ist vergeudete Mühe, da die Nachkommen selbst einzelner Prachtexemplare dieser Arten stark variieren und meist wertlose Früchte tragen. Um diese Obstbäume zu züchten, müssen komplizierte Veredelungsverfahren angewandt werden, die lange nach den Anfängen der Landwirtschaft in China entwickelt wurden. Sie sind sehr arbeitsintensiv, auch wenn das Prinzip schon bekannt ist. Um es zu entdecken, bedurfte es aber zunächst einmal bewußter Experimente. Die Erfindung der Pflanzenveredelung hatte wenig mit dem Erlebnis einer Nomadenfrau gemein, die sich an einem stillen Örtchen erleichterte und dort einige Zeit später von leckeren Früchten überrascht wurde.
Bei diesen spät domestizierten Obstbäumen trat ein weiteres Problem auf, das darin bestand, daß ihre Wildvorfahren das genaue Gegenteil von Selbstbestäubern waren. Zur Fortpflanzung bedurften sie der Kreuzbestäubung durch Pflanzen einer genetisch verschiedenen Unterart. Die frühen Bauern mußten deshalb entweder mutierte Bäume finden, die ohne Kreuzbestäubung auskamen, oder bewußt genetisch verschiedene Unterarten beziehungsweise männliche und weibliche Bäume nahe beieinander pflanzen. All diese Probleme führten dazu, daß Äpfel, Birnen, Pflaumen und Kirschen erst im klassischen Altertum domestiziert wurden. Etwa zur gleichen Zeit trat, ohne daß es vergleichbarer Anstrengungen bedurfte, eine weitere Gruppe von Kulturpflanzen auf den Plan, die sich zunächst als Unkraut auf den Feldern angesiedelt hatten. Zu diesen Nachzüglern gehörten Roggen, Hafer, Steckrüben, Radieschen, Rüben, Lauch und Kopfsalat.
Die zeitliche Abfolge, die ich für den Fruchtbaren Halbmond beschrieben habe, stimmt teilweise mit der in anderen Regionen der Welt überein. Der Weizen und die Gerste Vorderasiens sind Beispiele für eine Klasse von Kulturpflanzen, die zur Familie der Gräser gehören und als Getreide bezeichnet werden, während die Erbsen und Linsen der gleichen Region Vertreter der Klasse der Hülsenfrüchte sind (Familie der Leguminosen, zu der auch Bohnen gehören). Getreide hat den Vorteil, daß es schnell wächst, reich an Kohlehydraten ist und bis zu einer Tonne Nahrung pro Hektar liefert. Das hat dazu geführt, daß heute über die Hälfte des Kalorienverzehrs der Menschheit auf verschiedene Getreidearten entfällt. Fünf der zwölf bedeutendsten Kulturpflanzen der Gegenwart sind Getreide (Weizen, Mais, Reis, Gerste und Sorghum). Viele Getreidearten haben einen niedrigen Eiweißgehalt, doch dieses Manko wird von Hülsenfrüchten mit oft 25prozentigem Eiweißgehalt (Sojabohnen sogar 38 Prozent) wettgemacht. Zusammen liefern Getreide und Hülsenfrüchte somit viele der nötigen Bestandteile einer ausgewogenen Ernährung.
Tabelle 6.1 zeigt, daß die Landwirtschaft in vielen Regionen mit der Domestikation bestimmter örtlicher Kombinationen von Getreide und Hülsenfrüchten begann. Zu den bekanntesten Beispielen zählen die Kombination von Weizen und Gerste mit Erbsen und Linsen in Vorderasien, die Kombination von Mais mit verschiedenen Bohnensorten in Mesoamerika und die Kombination von Reis und Hirse mit Soja- und anderen Bohnen in China. Weniger bekannt sind die Kombination von Sorghum, afrikanischem Reis und Perlhirse mit Langbohnen und Erdnüssen in Afrika und die Kombination von Quinoa (einem Korn, das nicht zum Getreide zählt) mit verschiedenen Bohnensorten in den Anden.
Tabelle 6.1 zeigt auch, daß die frühe Domestikation von Flachs in Vorderasien zur Fasergewinnung Parallelen in anderen Regionen hatte. Hanf, vier Baumwollsorten, Yuccas und Agaven lieferten in China, Mesoamerika, Indien, Äthiopien, Afrika südlich der Sahara und Südamerika Fasern zur Herstellung von Seilen und Webstoffen, in einigen dieser Regionen ergänzt durch Wolle von Haustieren. Von allen frühen Zentren der Landwirtschaft mangelte es lediglich dem Osten der USA und Neuguinea an einer zur Fasergewinnung genutzten Pflanze.
In der Tabelle finden Sie die Namen wichtiger Kulturpflanzen aus den frühen Zentren der Landwirtschaft in verschiedenen Regionen der Welt. Eckige Klammern bedeuten, daß die ursprüngliche Domestikation an einem anderen Ort erfolgte. Nicht erwähnt sind Pflanzen, die erst später Bedeutung erlangten, wie beispielsweise Bananen in Afrika, Mais und Bohnen im Osten der heutigen USA und Süßkartoffeln in Neuguinea. Baumwolle (Gattung der Malvengewächse) tritt in vier Arten auf, von denen jede in einem anderen Teil der Welt heimisch ist, während Kürbisse (Gattung der Kürbisgewächse) in fünf Arten vorkommen. Man beachte, daß Getreide, Hülsenfrüchte und Faserpflanzen in den meisten Regionen bei der Entstehung der Landwirtschaft Pate standen, während Wurzeln, Knollen und Melonen nur an wenigen Orten schon früh von Bedeutung waren.
Tabelle 6.1 Bedeutende frühgeschichtliche Anbaupflanzen (Auswahl nach Regionen)
Trotz dieser Parallelen gab es aber auch erhebliche Unterschiede in den landwirtschaftlichen Systemen der verschiedenen Regionen. Einer bestand darin, daß in der Landwirtschaft der Alten Welt die Breitsaat, die Bestellung der Felder mit Monokulturen und schließlich der Pflug große Bedeutung erlangten. Das heißt, Samen wurden handvollweise ausgesät, so daß ein Feld einer einzigen Frucht gewidmet war. Nachdem Kühe, Pferde und andere Tiere domestiziert waren, wurden sie vor Pflüge gespannt und halfen bei der Feldbestellung. Dagegen wurde in der Neuen Welt niemals eine Tierart domestiziert, die sich zum Pflügen eignete. Die Felder wurden stets von Hand mit Hilfe von Stöcken oder Hacken bestellt, und die Samen wurden einzeln eingepflanzt und nicht handvollweise ausgestreut. Die meisten Felder in der Neuen Welt hatten deshalb nicht den Charakter von Monokulturen, sondern waren bunte Gärten mit vielerlei Gewächsen.
Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen den verschiedenen Anbausystemen lag darin, welche Pflanzen als Lieferanten von Kalorien und Kohlehydraten am wichtigsten waren. Wie wir sahen, übernahm in vielen Regionen Getreide die Funktion des Hauptnahrungslieferanten. In anderen teilten sich diese Rolle dagegen Wurzeln und Knollen, die im vorgeschichtlichen Vorderasien und in China so gut wie bedeutungslos waren.
Maniok (alias Tapioka) und Süßkartoffeln wurden im tropischen Südamerika zum Grundnahrungsmittel, Kartoffeln und Oka in den Anden, afrikanische Jamswurzeln in Afrika und indopazifische Jamswurzeln und Taro in Südostasien und Neuguinea. Baumfrüchte, insbesondere Bananen und Brotfrüchte, dienten ebenfalls in Südostasien und Neuguinea als kohlehydratreiche Grundnahrungsmittel. Als das Zeitalter Roms begann, wurden somit schon fast alle der bedeutendsten Kulturpflanzen der Gegenwart an diesem oder jenem Ort der Welt angebaut. Die frühzeitlichen Jäger und Sammler waren mit den Wildpflanzen ihrer jeweiligen Umgebung – ebenso wie mit der Tierwelt, wie wir später sehen werden (Kapitel 8) – gründlich vertraut, und offensichtlich entdeckten und domestizierten die frühen Bauern darunter nahezu alle, deren Domestikation der Mühe wert war. Gewiß, Erdbeeren und Himbeeren wurden erst im Mittelalter von Mönchen gezüchtet, und es stimmt natürlich auch, daß moderne Pflanzenzüchter immer noch an der Verbesserung der traditionellen Anbaupflanzen arbeiten, ja daß ihnen sogar die Züchtung einiger neuer gelang, bei denen es sich vor allem um Beeren (wie Blaubeeren, Preiselbeeren und Kiwis) und Nüsse (etwa Macadamia-, Pekan- und Cashewnüsse) handelte. Doch diese kleine Zahl neuzeitlicher Errungenschaften ist von bescheidener Bedeutung, vergleicht man sie mit Erfolgsgewächsen wie Weizen, Mais und Reis. Dennoch fehlen auf unserer Triumphliste viele Wildpflanzen, die trotz wertvoller Früchte bis heute nicht domestiziert werden konnten. Ein bemerkenswertes Beispiel ist die Eiche, deren Früchte ein Grundnahrungsmittel von Indianern in Kalifornien und im Osten der heutigen USA waren und die auch von europäischen Bauern nach Mißernten als Notnahrung verzehrt wurden. Wegen ihres hohen Stärke- und Ölgehalts stellen sie eine wertvolle Nahrung dar. Wie viele andere Früchte der Natur, die eigentlich eßbar sind, enthalten die meisten Eicheln bittere Tannine; Eichel-Liebhaber lernten jedoch, mit diesen Stoffen in der gleichen Weise umzugehen wie mit den Bitterstoffen in Mandeln und anderen Wildpflanzen: Entweder wurden die Tannine durch Mahlen und Herauslaugen aus den Eicheln entfernt, oder es wurden von vornherein nur die Früchte von gelegentlichen Mutanten mit niedrigem Tanningehalt gesammelt.
Wie kommt es, daß wir bisher an der Domestikation einer so wertvollen Nahrungsquelle wie der Eiche scheiterten? Warum dauerte es so lange, bis Erdbeeren und Himbeeren domestiziert waren? Was ist das Besondere an diesen Pflanzen, das ihre Domestikation für die frühen Bauern, die doch schon so komplizierte Techniken wie die Veredelung von Obstbäumen beherrschten, zu einem schier unmöglichen Unterfangen machte?
Eichen besitzen drei Eigenschaften, die ihre Domestikation vereitelten. Erstens wachsen sie so langsam, daß sie die Geduld der meisten Bauern überstrapazieren würden. Während Weizen schon wenige Monate nach der Aussaat geerntet werden kann und eine Mandel nach dem Einpflanzen drei bis vier Jahre braucht, um einen Baum mit Früchten hervorzubringen, dauert es ein Jahrzehnt oder länger, bis eine Eiche zu tragen beginnt. Zweitens haben sich Eicheln in ihrem Geschmack und ihrer Größe im Laufe der Evolution an Eichhörnchen angepaßt, die ja jeder schon einmal beim emsigen Einbuddeln oder Ausgraben von Eicheln beobachtet hat. Junge Eichbäume wachsen aus Eicheln, die von diesen drolligen Gesellen zuweilen vergessen werden. In Anbetracht der Milliarden von Eichhörnchen, von denen jedes Jahr für Jahr Hunderte von Eicheln an praktisch alle für das Gedeihen neuer Eichbäume geeigneten Stellen verteilt, hatte der Mensch keine Chance, Eichen nach dem Kriterium, ob ihre Früchte seinem Geschmack entsprachen, auszulesen. Ähnliche Probleme – langsames Wachstum, flinke Eichhörnchen – erklären vermutlich auch, warum Buchen und Hickorybäume, deren Nüsse bei Europäern und amerikanischen Indianern durchaus beliebt waren, der Domestikation entgingen.
Der dritte und vielleicht wichtigste Unterschied zwischen Mandeln und Eicheln besteht darin, daß die Bitterkeit bei Mandeln von einem einzigen dominanten Gen gesteuert wird, bei Eicheln aber offenbar von einer Vielzahl verschiedener Gene. Wenn in vorgeschichtlicher Zeit Mandeln beziehungsweise Eicheln eines gelegentlichen mutierten Baums, dessen Früchte nicht bitter waren, eingepflanzt wurden, waren nach den Regeln der Vererbungslehre von den Nüssen der Bäume, die daraus wuchsen, im Fall der Mandeln die Hälfte ebenfalls nicht bitter, während bei den Eichen fast alle bitter waren. Das allein hätte schon genügt, um den Enthusiasmus eines angehenden Eichelbauern zu zerstören, der sich womöglich gegen die Eichhörnchen durchgesetzt und Geduld bewahrt hatte.
Bei Erdbeeren und Himbeeren hatten Menschen ähnliche Probleme, sich in der Konkurrenz mit Drosseln und anderen Vögeln, die gern Beeren naschen, zu behaupten. Es mag stimmen, daß in den Gärten der alten Römer wilde Erdbeeren wuchsen. Doch angesichts Milliarden europäischer Drosseln, die an jedem denkbaren Ort (einschließlich römischer Gärten) ihr Geschäft verrichteten und Erdbeersamen ausschieden, blieben Erdbeeren so klein, wie es den Drosseln gefiel, und wurden nicht groß nach dem Geschmack des Menschen. Erst in jüngerer Vergangenheit, als Treibhäuser und dünne Netze zum Schutz von Erdbeerbeeten erfunden waren, konnten wir endlich die Drosseln besiegen und Erdbeeren und Himbeeren nach unseren Vorstellungen züchten.
Wir wissen nun also, daß die Unterschiede zwischen riesigen Supermarkt-Erdbeeren und winzigen Walderdbeeren nur ein Beispiel für die diversen Merkmale sind, in denen sich Kulturpflanzen von ihren wildwachsenden Vorfahren unterscheiden. Den Ausgangspunkt bildete die natürliche Variation unter den Wildpflanzen selbst. Ein Teil dieser Variation, beispielsweise in der Beerengröße oder der Bitterkeit von Nüssen, war für die frühen Bauern leicht bemerkbar. Andere Unterschiede, etwa bei den natürlichen Samenverbreitungsmitteln oder der Keimruhe, konnten ohne moderne botanische Kenntnisse nicht festgestellt werden. Ungeachtet der Frage, ob bei der Selektion eßbarer Wildpflanzen durch frühzeitliche Wanderer bewußte oder unbewußte Kriterien eine Rolle spielten, vollzog sich die Evolution von Wildzu Kulturpflanzen zunächst in Form eines unbeabsichtigten Prozesses. Er war das unweigerliche Resultat der Auswahl, die wir unter verschiedenen Wildpflanzen trafen, sowie des Konkurrenzkampfs unter den einzelnen Pflanzen in Gärten, in denen andere Bedingungen herrschten als in der Natur.
Aus diesem Grund begann Darwin sein berühmtes Buch »Über die Entstehung der Arten« nicht mit einer Darstellung der natürlichen Selektion, sondern mit einer ausführlichen Erörterung der Frage, wie unsere domestizierten Pflanzen und Tiere durch die Auswahl des Menschen entstanden. Statt über die Vögel der Galapagosinseln zu schreiben, wie man es von Darwin wohl eher erwartet hätte, stellte er eine Erörterung der Art und Weise, wie Bauern verschiedene Stachelbeersorten züchten, an den Anfang seines Buches! Wörtlich heißt es darin:
»In Gartenbaubüchern wird häufig die große Geschicklichkeit der Gärtner gerühmt, die mit dürftigem Material herrliche Erfolge erzielten. Aber ihre Kunst war sehr einfach; zumeist gelangten sie unabsichtlich zu ihren Erfolgen. Die ganze Kunst bestand darin, daß immer wieder der Same der besten Varietät ausgesät wurde; sobald sich später zufällig eine noch bessere Varietät zeigte, wurde dann diese wieder auserlesen usw.« Diese Grundsätze der Pflanzenzucht durch künstliche Selektion stellen immer noch das verständlichste Modell für die Entstehung der Arten durch natürliche Selektion dar.