KAPITEL 12

Mutter der Not

Die Evolution der Technik

Am 3. Juli 1908 machten Archäologen bei Ausgra­bungsarbeiten in der minoischen Ruinenstätte von Phaistos auf Kreta einen der bedeutendsten Funde der Technikgeschichte. Auf den ersten Blick sah der Gegen­stand, der da ans Licht gekommen war, gar nicht wie etwas Besonderes aus: Es handelte sich um eine kleine, flache, runde unbemalte Tonscheibe mit einem Durch­messer von etwas mehr als 16 cm. Bei näherer Unter­suchung stellte sich heraus, daß die Scheibe auf beiden Seiten Schriftzeichen trug, angeordnet auf einer Linie, die in fünf Spiraldrehungen vom Rand zur Mitte lief. Die insgesamt 241 Zeichen oder Buchstaben waren fein säuberlich durch vertikale Linien in Gruppen aus meh­reren Zeichen aufgeteilt, die möglicherweise Wörter darstellten. Der Schreiber mußte seine Arbeit penibel geplant haben, so daß der Platz auf der Spirallinie voll­ständig ausgefüllt war und zugleich ausreichte.

Seit dem Tag ihrer Ausgrabung gibt die Scheibe Schriftforschern Rätsel auf. Die Zahl unterschiedlicher Zeichen (45) läßt auf eine Silbenschrift und nicht auf ein Alphabet schließen. Ihre Entzifferung gelang bisher jedoch nicht, und die Formen der Zeichen weisen kei­nerlei Ähnlichkeit mit denen irgendeines anderen be­kannten Schriftsystems auf. In den 90 Jahren seit ihrer Entdeckung tauchte keine einzige weitere Tafel mit den seltsamen Zeichen auf. Deshalb steht bis heute die Fra­ge im Raum, ob es sich um eine auf Kreta entstandene Schrift oder einen Import von außen handelte.

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Die Scheibe von Phaistos

Für Historiker, die sich mit Technikgeschichte befas­sen, wirft die Scheibe von Phaistos ein noch größeres Rätsel auf. Das geschätzte Datum ihrer Entstehung (um 1700 v. Chr.) macht sie mit Abstand zum ältesten Zeug­nis der Druckkunst. Statt von Hand, wie bei allen Tex­ten der späteren Linear-A- und Linear-B-Schriften, wa­ren die Zeichen auf der Scheibe mit Hilfe von Stempeln in weichen, anschließend durch Brennen gehärteten Ton geprägt worden. Offenbar verfügte der Drucker über ei­nen Satz von mindestens 45 Stempeln, einen für jedes auf der Scheibe vorkommende Zeichen. Die Herstellung der Stempel muß sehr zeitaufwendig gewesen sein, und man darf wohl annehmen, daß sie nicht nur zum Drucken dieses einen Dokuments bestimmt waren. Ihr An­wender war sicher ein fleißiger Schreiber, der sein Werk mit Hilfe, der Stempel wesentlich schneller und sauberer erledigen konnte, als wenn er jedes der komplizierten Zeichen von Hand in den Ton hätte prägen müssen.

Die Scheibe von Phaistos war so etwas wie ein Vor­bote der nächsten Druckversuche der Menschheit, die ebenfalls das Prinzip von Druckformen und -lettern zur Grundlage hatten, es aber auf Papier und Tinte übertru­gen. Diese Versuche sollten jedoch erst 2500 Jahre spä­ter in China und 3100 Jahre später im mittelalterlichen Europa erfolgen. Wie kam es, daß sich die frühe Ton­scheiben-Drucktechnik auf Kreta oder an anderen Or­ten des antiken Mittelmeerraums nicht in großem Stil durchsetzte? Warum wurde dieses Druckverfahren um 1700 v. Chr. auf Kreta erfunden und nicht zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in Mesopotamien, Mexiko oder an einem der anderen frühen Entstehungsorte der Schrift? Warum vergingen danach Tausende von Jahren, bis die nächsten Schritte hin zu Papier, Tinte und Druckerpres­se getan wurden? Die Scheibe von Phaistos hat für Hi­storiker einen bedrohlichen Aspekt. Wenn Erfindungen derart unvorhersehbar sind, wie es die Scheibe nahezu­legen scheint, dann sind womöglich alle Versuche, in der Geschichte der Technik Gesetzmäßigkeiten zu entdecken, von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Technik in Form von Waffen und Transportmitteln gab einigen Völkern die unmittelbaren Instrumente zur Erweiterung ihres Herrschaftsgebiets und zur Unterwer­fung anderer Völker. Damit kommt ihr eine zentrale Be­deutung für den Gang der Geschichte zu. Warum aber waren Eurasier und nicht amerikanische Indianer oder subsaharische Afrikaner die Erfinder von Feuerwaffen, seetüchtigen Schiffen und Ausrüstungen aus Stahl? Die gleiche Frage könnte für die meisten anderen wichtigen technischen Errungenschaften gestellt werden, von der Druckerpresse über Glas bis hin zur Dampfmaschine. Warum waren immer Eurasier die Erfinder? Und warum verwendeten alle Neuguineer und australischen Abori­gines im Jahr 1800 n. Chr. immer noch ähnliche Stein­werkzeuge wie die, denen die Bewohner Eurasiens und des größten Teils von Afrika schon Jahrtausende zuvor Lebewohl gesagt hatten (und das, obwohl Neuguinea und Australien über reiche Kupfer- und Eisenerzvor­kommen verfügen)? All das erklärt die verbreitete An­nahme, Eurasier seien erfinderischer und intelligenter als andere Völker.

Falls auf der anderen Seite Unterschiede in der mensch­lichen Neurobiologie, welche die unterschiedliche tech­nische Entwicklung der Kontinente erklären könnten, nicht existieren, stellt sich die Frage, was denn die wirk­lichen Gründe sind. Eine Erklärungsalternative bietet die Theorie des erfinderischen Genius. Ihr zufolge geht der technische Fortschritt in hohem Maße auf das Konto einer kleinen Zahl genialer Erfinder wie Johannes Gu­tenberg, James Watt, Thomas Edison und der Brüder Wright. Alle waren Europäer oder Nachfahren von Eu­ropäern, die nach Amerika ausgewandert waren. Auch Archimedes und andere geniale Geister der Antike wa­ren Europäer. Hätten derartige Genies ebensogut in Tas­manien oder Namibia das Licht der Welt erblicken kön­nen? Sollte die Geschichte der Technik etwa von den zu­fälligen Geburtsorten einer kleinen Schar von Erfindern bestimmt worden sein?

Nach einem dritten Erklärungsansatz kommt es nicht auf die Erfindungsgabe des einzelnen an, sondern auf die Innovationsbereitschaft von Gesellschaften. Eini­ge seien hoffnungslos konservativ, trieben nur Nabel­schau und stünden jeder Veränderung feindselig gegen­über. Einen solchen Eindruck gewinnen viele Bewohner des Westens, die sich für die Entwicklung der Dritten Welt einsetzen und nach einiger Zeit resigniert aufge­ben. Den einzelnen Menschen in den jeweiligen Ländern scheint es nicht an Intelligenz zu mangeln; das Problem scheint vielmehr auf gesellschaftlicher Ebene zu liegen. Wie sonst ist zu erklären, daß die Aborigines im au­stralischen Nordosten nie Pfeil und Bogen übernahmen, deren Nutzen ihnen von den Bewohnern der Inseln in der Torresstraße, mit denen sie Handel trieben, vor Au­gen geführt wurde? Kann es sein, daß sämtliche Gesell­schaften eines ganzen Kontinents innovationsfeindlich sind und der langsamere technische Fortschritt darauf zurückgeht? In diesem Kapitel wollen wir endlich ver­suchen, eine Antwort auf eine der zentralen Fragen die­ses Buchs zu geben: Warum vollzog sich der technische Fortschritt auf den verschiedenen Kontinenten in so un­terschiedlichem Tempo?

Ausgangspunkt unserer Diskussion ist die Volksweis­heit, die sich in dem Sprichwort »Not macht erfinde­risch« offenbart. Danach werden Erfindungen stets dann gemacht, wenn eine Gesellschaft ihre Bedürfnis­se durch bestimmte Techniken nicht oder nur unbefrie­digend erfüllt sieht. Angespornt von der Aussicht auf Ruhm und Reichtum, greifen Erfinder in spe ein Bedürfnis auf und versuchen, eine Antwort zu finden. Ir­gend jemand kommt schließlich auf eine Lösung, die der bisherigen, unbefriedigenden Technik überlegen ist. Sofern sie nicht kulturellen Werten widerspricht oder mit anderen Techniken inkompatibel ist, wird diese dann von der jeweiligen Gesellschaft übernommen.

Mit diesem Standpunkt, der dem Alltagsverständnis entspricht und die Not als Mutter der Erfindung ansieht, deckt sich eine relativ große Zahl von Erfindungen. Im Jahr 1942 initiierte die US-Regierung auf dem Höhe­punkt des Zweiten Weltkriegs das sogenannte Manhat­tan-Projekt mit dem ausdrücklichen Ziel, die zum Bau der Atombombe benötigte Technik zu entwickeln, bevor Hitler den Alliierten zuvorkommen konnte. Das Projekt führte nach drei Jahren zum Erfolg, die Kosten beliefen sich auf zwei Milliarden Dollar (nach heutigem Geld­wert über 20 Milliarden Dollar). Weitere Beispiele sind Eli Whitneys Maschine zur Trennung von Lint und Sa­men aus dem Jahr 1794, die im Süden der USA das um­ständliche Verfahren der Reinigung von Baumwolle per Hand überflüssig machen sollte, sowie die Erfindung der Dampfmaschine durch James Watt im Jahr 1769, die zur Lösung des Problems gedacht war, wie sich das Wasser aus britischen Kohlebergwerken abpumpen ließe.

Diese bekannten Beispiele sind insofern trügerisch, als sie zu der Annahme verleiten, andere bedeutende Erfin­dungen seien ebenfalls Reaktionen auf vorhandene Be­dürfnisse gewesen. In Wirklichkeit gehen viele, ja viel­leicht sogar die meisten Erfindungen auf das Konto von Menschen, die von Neugier oder Bastelfreude getrieben waren, ohne daß zunächst ein bestimmtes Bedürfnis im Vordergrund stand, für das sie eine Lösung suchten. Erst nach der Erfindung stellte sich die Frage nach der pas­senden Verwendung. Und erst später, nachdem das ent­sprechende Produkt längere Zeit in Gebrauch war, stellte sich bei den Benutzern das Gefühl ein, es handele sich um etwas für sie »Notwendiges«. Bei anderen Erfindun­gen setzte sich am Ende ein ganz anderer Zweck durch als der, für den sie ursprünglich gedacht waren. Es mag überraschen, daß in die Kategorie der Erfindungen, de­ren Zweck am Anfang keineswegs feststand, die meisten großen technischen Errungenschaften fallen, vom Flug­zeug und Automobil über den Verbrennungsmotor und die elektrische Glühbirne bis hin zum Grammophon und Transistor. So gesehen war die Erfindung häufiger die Mutter der Not als umgekehrt.

Ein gutes Beispiel ist die Geschichte von Thomas Edi­sons Phonograph, der wohl originellsten Erfindung jenes bedeutendsten Erfinders der Neuzeit. Als Edison im Jahr 1877 den ersten Phonographen baute, veröffentlichte er dazu einen Artikel, in dem er zehn Verwendungsmög­lichkeiten vorschlug. Unter anderem nannte er die Auf­zeichnung der letzten Worte Sterbender, die Aufnahme von Büchern für Blinde, die Ansage der Uhrzeit und Un­terricht in Rechtschreibung. Die Wiedergabe von Mu­sik stand auf seiner Prioritätenliste ganz unten. Weni­ge Jahre später ließ Edison seinen Assistenten wissen, er halte seine Erfindung für kommerziell nicht verwertbar. Nachdem einige weitere Jahre vergangen waren, hatte er es sich anders überlegt und mit dem Verkauf von Phono­graphen begonnen – jedoch als Diktiergeräte fürs Büro. Als andere erfinderische Geister die Jukebox ersannen, die aus einem Phonographen bestand, der Schallplatten mit Unterhaltungsmusik spielte, wenn man eine Münze einwarf, wandte sich Edison energisch gegen diese Art der Nutzung, die in seinen Augen eine Entwürdigung seiner Erfindung darstellte und den Blick auf ernsthaf­tere Verwendungszwecke verstellte. Rund 20 Jahre spä­ter mußte er widerstrebend zugeben, daß die Aufnahme und Wiedergabe von Musik zum Hauptverwendungs­zweck seines Phonographen geworden war.

Das Kraftfahrzeug ist eine weitere Errungenschaft, de­ren Nutzen heute kaum bestritten wird. Seine Erfindung war jedoch keineswegs die Reaktion auf einen vorhan­denen Bedarf. Als Nikolaus Otto 1866 den ersten Ben­zinmotor baute, hatten Pferde seit fast 6000 Jahren das Bedürfnis des Menschen nach einem Transportmittel für den Verkehr zu Lande gedeckt; an ihre Seite hatten sich seit einigen Jahrzehnten zunehmend dampfgetriebene Eisenbahnen gesellt. Weder wurden die Pferde knapp, noch war man unzufrieden mit den Dampfrossen.

Da Ottos Maschine zunächst nicht viel leistete, über zwei Meter groß war und sehr viel wog, war ihre Über­legenheit gegenüber Pferden alles andere als klar. Erst 1885 war die Entwicklung des Motors so weit fortge­schritten, daß Gottfried Daimler erstmals ein Fahrrad damit ausstatten konnte und auf diese Weise das erste Motorrad schuf; mit dem ersten Lkw ließ er sich noch Zeit bis 1896.

Noch im Jahr 1905 waren Kraftfahrzeuge ein teures, unzuverlässiges Spielzeug für die Reichen. Die übrige Be­völkerung begnügte sich bis zum Ersten Weltkrieg ohne Murren mit Pferden und Eisenbahnen, doch dann ver­kündeten die Generäle, daß unbedingt Lkw her müß­ten. Nach dem Krieg ließ sich die Öffentlichkeit durch intensives Werben von Lkw-Herstellern und Militärs schließlich davon überzeugen, daß Lkw auch im zivi­len Bereich ein Segen seien, woraufhin diese in den in­dustrialisierten Ländern nach und nach an die Stelle von Pferdefuhrwerken traten. Selbst in den größten ameri­kanischen Städten gingen über diese Umstellung jedoch 50 Jahre ins Land.

Erfinder müssen oft lange ungewollt in der Phase des Bastelns und Herumprobierens verharren, wenn sich niemand für ihre Erfindung interessiert, da die ersten Modelle noch keine wirklich nützliche Leistung erbringen. Die ersten Kameras, Schreibmaschinen und Fern­sehgeräte waren ebensowenig berauschend wie Ottos zwei Meter hoher Benzinmotor. Für den Erfinder ist es deshalb schwer vorhersehbar, ob sein plumper Proto­typ irgendwann zu etwas nütze sein wird und ob sich insofern der Aufwand an Zeit und Kosten für die wei­tere Entwicklung lohnt. Jedes Jahr werden in den USA rund 70 000 Patente angemeldet, von denen nur weni­ge den Sprung in die kommerzielle Verwertung schaf­fen. Auf jede große Erfindung, die sich am Ende durch­setzt, kommen unzählige, denen der Erfolg versagt bleibt. Selbst Erfindungen, die für ihren vorgesehenen Zweck tauglich sind, erweisen sich später oft auf ganz ande­rem Gebiet als wertvoll. So lieferte die Dampfmaschine, die James Watt zum Abpumpen von Wasser aus Berg­werken erfand, bald Energie für Baumwollspinnereien und später (mit weit höherem Nutzen) für Lokomoti­ven und Schiffe.

So kehrt das Alltagsverständnis von Erfindungen, das wir an den Anfang unserer Betrachtung stellten, die übliche Reihenfolge von Erfindung und Bedürfnis um. Überdies rückt sie seltene Genies wie Watt und Edison viel zu sehr ins Rampenlicht. Diese Sichtweise wird al­lerdings vom Patentrecht gefördert, das von jedem An­tragsteller den Nachweis verlangt, daß die von ihm ein­gereichte Erfindung etwas völlig Neues darstellt. Hier­durch erhalten Erfinder einen finanziellen Anreiz für die Abwertung oder Verheimlichung der Arbeit ande­rer. Aus der Sicht eines Patentanwalts ist die ideale Er­findung diejenige, die ohne jeden Vorläufer quasi aus dem Nichts auftaucht – etwa so wie Athene, die in voller Rüstung dem Haupt des Göttervaters Zeus entsprang.

In Wirklichkeit verbergen sich hinter jeder berühm­ten und angeblich bahnbrechenden Erfindung, die in der Neuzeit gemacht wurde, kaum beachtete Wegbe­reiter, die die kühne Behauptung »X erfand Y« relativie­ren. Zum Beispiel wird immer wieder verkündet, »James Watt erfand 1769 die Dampfmaschine«, wozu ihn angeb­lich der zischende Dampf eines Teekessels inspirierte. Wahrheitsgemäß müßte es eigentlich heißen, daß ihm die Idee zu seiner speziellen Dampfmaschine kam, als er gerade ein Modell von Thomas Newcomens Dampf­maschine reparierte. Newcomen hatte sie 57 Jahre zu­vor erfunden, und als Watt an ihr zu werkeln begann, waren davon in England bereits über 100 Stück produ­ziert worden. Newcomens Maschine war wiederum die Nachfolgerin der Dampfmaschine, die sich der Englän­der Thomas Savery im Jahr 1698 hatte patentieren lassen und die wiederum der Dampfmaschine des Franzosen Denis Papin nachfolgte, die dieser um 1680 entworfen (aber nicht gebaut) hatte und die ihrerseits Vorläufer in den Ideen des holländischen Wissenschaftlers Christiaan Huygens und anderer hatte. Damit soll keineswegs ge­leugnet werden, daß Watt die Maschine von Newcomen stark verbesserte (unter anderem, indem er getrennte Kondensierungskammern einbaute und die Vakuumbe­dingungen verbesserte), wie auch Newcomens Dampf­maschine eine starke Verbesserung gegenüber der von Savery darstellte.

Ähnliches läßt sich über alle modernen Erfindungen berichten, sofern sie nur ausreichend dokumentiert sind. Der große Erfinder, der die Lorbeeren erntet, konnte stets auf Vorgänger zurückgreifen, die etwas Vergleichbares im Sinn hatten und bereits Entwürfe, Modelle oder (wie im Fall der Dampfmaschine von Newcomen) sogar kom­merziell erfolgreiche Typen angefertigt hatten. Edisons berühmte »Erfindung« der elektrischen Glühbirne am Abend des 21. Oktober 1879 stellte eine Verbesserung zahlreicher anderer Glühbirnen dar, für die zwischen 1841 und 1878 Patente angemeldet worden waren. Ähn­lich hatte das bemannte motorisierte Flugzeug der Brü­der Wright als Vorläufer die bemannten unmotorisierten Hängegleiter von Otto Lilienthal und das unbemannte motorisierte Flugzeug von Samuel Langley; dem Tele­graphen von Samuel Morse waren die von Joseph Hen­ry, William Cooke und Charles Wheatstone vorausge­gangen; und Eli Whitneys »Cotton Gin« zum Reinigen kurzstapeliger Baumwolle stellte im Grunde eine Ver­besserung von Geräten dar, die seit Jahrtausenden zum Reinigen langstapeliger Baumwolle gedient hatten.

All das soll nicht heißen, daß Watt, Edison, die Brü­der Wright, Morse und Whitney keine beeindrucken­den Fortschritte machten, und es soll auch nicht ab­gestritten werden, daß erst durch sie die kommerzielle Nutzung der jeweiligen Erfindung möglich oder verbes­sert wurde. Die letztendlich erfolgreiche Form der Er­findung könnte ohne den Beitrag des »offiziellen« Erfin­ders in der Tat anders aussehen. Uns interessiert jedoch die Frage, ob die Weltgeschichte völlig anders verlaufen wäre, wenn ein bestimmter genialer Erfinder nicht an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit geboren worden wäre. Die Antwort ist eindeutig: Einen solchen Menschen hat es nie gegeben. Alle anerkannten berühmten Erfinder hatten fähige Vorgänger und Nach­folger, und alle leisteten ihren Beitrag zu einem Zeit­punkt, zu dem die Gesellschaft, der sie angehörten, für die Neuheit reif war, sprich sie zu nutzen wußte. Wie wir sehen werden, bestand die Tragödie des Schöpfers der Stempel, mit denen die Schriftzeichen in die Scheibe von Phaistos geprägt wurden, darin, daß er etwas schuf, mit dem die Gesellschaft, in der er lebte, noch nicht viel anfangen konnte.

Bei den bisherigen Beispielen ging es um die moder­ne Technik, deren Vorgeschichte wohlbekannt ist. Mei­ne beiden wichtigsten Folgerungen lauten, daß er­stens die Entwicklung von Techniken kumulativ und nicht in heroischen Einzelakten erfolgt und zweitens die meisten Anwendungen erst gesucht werden, nach­dem eine Erfindung bereits gemacht ist, und nicht um­gekehrt. Diese Folgerungen gelten sicher in noch stär­kerem Maße für die Geschichte frühzeitlicher Techni­ken, über die wir kaum etwas wissen. Als eiszeitliche Jäger und Sammler an ihren Feuerstellen auf verglühte Reste von Quarzsand und Kalkstein blickten, konnten sie unmöglich die lange, verschlungene Kette von Ent­deckungen vorhersehen, die über die ersten Glasuren (um 4000 v. Chr.), die ersten freistehenden Glasobjek­te Ägyptens und Mesopotamiens (um 2500 v. Chr.) und das erste gläserne Gefäß (um 1500 v. Chr.) zu den ersten römischen Glasfenstern (um 1 n. Chr.) führen sollte.

Wir wissen nichts über die Entstehungsgeschichte je­ner ältesten bekannten Glasuren. Jedoch können wir auf die bei prähistorischen Erfindungen angewandten Me­thoden schließen, indem wir das Verhalten technisch »primitiver« Völker der Gegenwart beobachten, wie etwa der Neuguineer, mit denen ich viel Zeit bei mei­nen Forschungen verbringe. Ich erwähnte bereits ihre Kenntnisse über Hunderte lokaler Pflanzen- und Tier­arten sowie deren Eßbarkeit, medizinischen Nutzen und sonstige Verwendbarkeit. Neuguineer berichteten mir auch über rund ein Dutzend verschiedene Gesteins­arten ihrer Umgebung, deren Härte, Farbe, Verhalten, wenn man sie zerschlägt, und Verwendbarkeit. All die­ses Wissen wird durch Beobachtung und Ausprobieren erworben. Ich erlebe den Prozeß des »Erfindens« jedes­mal aufs neue, wenn ich Neuguineer auf Exkursionen mitnehme, deren Ziel außerhalb ihrer gewohnten Um­gebung liegt. Beim Marsch durch den Dschungel heben sie ständig Dinge auf, die ihnen fremd sind, hantieren damit herum und nehmen sie mit nach Hause, wenn sie einen interessanten Nutzen darin sehen. Ähnliches ge­schieht, wenn ich einen Lagerplatz verlasse und Bewoh­ner der Umgebung herbeiströmen, um nach Dingen zu stöbern, die ich vielleicht liegengelassen habe. Sie spie­len mit den fortgeworfenen Gegenständen und versu­chen herauszufinden, ob sie für sie nützlich sein könn­ten. Fortgeworfene Blechdosen sind ein klarer Fall: Sie eignen sich gut als Behälter. Andere Gegenstände wer­den auf ihre Tauglichkeit für Zwecke getestet, für die sie nie bestimmt waren. Wie würde sich wohl dieser gelbe Bleistift als Schmuckstück machen, vielleicht durch ein Ohrläppchen oder die Nasenwand geschoben? Und ob diese Glasscherbe wohl scharf genug ist, um etwas da­mit zu schneiden? Heureka!

Das Rohmaterial, das vorgeschichtlichen Völkern zur Verfügung stand, waren natürliche Stoffe wie Stei­ne, Holz, Knochen, Häute und Felle, Fasern, Ton, Sand, Kalkstein und Mineralien, die alle in großer Vielfalt vor­handen waren. Im Laufe der Zeit lernten die Menschen, aus einigen Arten von Gestein, Holz und Knochen Werk­zeuge zu fertigen, bestimmte Tonarten zu Töpferwaren und Ziegelsteinen zu verarbeiten, Mischungen aus Sand, Kalkstein und anderen Stoffen des Erdreichs in Glas zu verwandeln und im Reinzustand vorkommende Weich­metalle wie Kupfer und Gold zu bearbeiten, später dann Metalle aus Erzen zu gewinnen und schließlich Hart­metalle wie Bronze und Eisen zu bearbeiten.

Ein gutes Beispiel für Erfolge mit der Probiermetho­de ist die Entwicklung von Schießpulver und Benzin aus natürlichen Materialien. Brennbare Stoffe, die in der Natur vorkommen, machen gelegentlich von selbst auf sich aufmerksam, etwa wenn ein harzhaltiges Holz­scheit im Lagerfeuer explodiert. Um 2000 v. Chr. wur­de in Mesopotamien tonnenweise Erdöl durch Erhit­zung von Naturasphalt gewonnen. Die alten Griechen entdeckten die Verwendungsmöglichkeit verschiedener Mischungen von Erdöl, Pech, Harz, Schwefel und un­gelöschtem Kalk als Brandbomben, die mit Schleudern, Pfeilgeschossen und Schiffen zum Ziel befördert wur­den. Die Destillationskenntnisse, die sich moslemische Alchemisten im Mittelalter aneigneten, um Alkohol und Parfüms herzustellen, verschafften ihnen auch die Mög­lichkeit, Erdöl in seine Bestandteile zu zerlegen, von de­nen sich einige als noch wirkungsvollere Brandstoffe er­wiesen. Abgefeuert mit Granaten, Raketen und Torpedos, hatten sie entscheidenden Anteil am Sieg der Moham­medaner über die Kreuzfahrer. Unterdessen hatte man in China zu jener Zeit bereits entdeckt, daß eine ganz bestimmte Mischung aus Schwefel, Holzkohle und Sal­peter, die als »Schießpulver« bekannt werden sollte, be­sonders explosive Eigenschaften besaß. Eine chemische Abhandlung moslemischer Wissenschaftler von ca. 1100 n. Chr. beschrieb sieben verschiedene Arten von Schieß­pulver; ein Traktat aus dem Jahr 1280 n. Chr. enthielt bereits Rezepte für über 70 Pulvermischungen, die sich für diverse Zwecke eigneten (unter anderem für Rake­ten und Kanonen).

Bei der neuzeitlichen Destillation von Erdöl entdeck­ten Chemiker im 19. Jahrhundert die Fraktion der Mit­teldestillate als nützlichen Brennstoff für Petroleumlam­pen. Die flüchtigste Fraktion (Rohbenzin) betrachteten sie als bedauerliches Abfallprodukt – bis man heraus­fand, daß sich dieser Stoff ideal für Verbrennungsmoto­ren eignete. Wer mag heute wohl glauben, daß Benzin, der Energielieferant Nummer 1 der modernen Zivilisa­tion, ebenfalls zu den Entdeckungen zählte, für die erst ein Verwendungszweck gesucht werden mußte?

Hat ein Erfinder für eine neue Technik einen Verwen­dungszweck gefunden, besteht der nächste Schritt dar­in, die Gesellschaft davon zu überzeugen. Ein größe­res, schnelleres, mächtigeres Etwas zur Verrichtung be­stimmter Aufgaben vorweisen zu können bedeutet noch keine Garantie für durchschlagenden Erfolg. Zahllose Techniken, die solche oder ähnliche Qualitäten für sich in Anspruch nehmen konnten, setzten sich nie oder erst nach längerem Widerstand durch. Bekannte Beispiele sind die Weigerung der amerikanischen Kongreßab­geordneten im Jahr 1971, der Entwicklung eines Über­schall-Transportmittels zuzustimmen, die ablehnende Haltung der internationalen Gemeinschaft gegenüber der Entwicklung einer effizienten Schreibmaschinen-Tastatur sowie die langjährige Abneigung Großbri­tanniens, elektrische Straßenbeleuchtung einzufüh­ren. Wovon mag es abhängen, ob eine Erfindung gesell­schaftliche Akzeptanz findet oder nicht?

Schauen wir zunächst einmal, wovon die Akzeptanz innerhalb einer Gesellschaft beeinflußt wird. Wie wir sehen werden, sind mindestens vier Faktoren von Be­deutung.

Der erste und naheliegendste Faktor sind die wirt­schaftlichen Vorteile gegenüber einer vorhandenen Tech­nik. Während das Rad in modernen Industriegesell­schaften zweifellos von großem Nutzen ist, war dies in anderen Gesellschaften nicht immer der Fall. In Mexi­ko wurden lange vor Ankunft der ersten Spanier Wä­gelchen mit Rädern an Achsen gebaut, die aber statt als Transportmittel nur als Spielzeug dienten. Das mag uns unglaublich erscheinen, aber wir müssen bedenken, daß die frühen Mexikaner keine Haustiere besaßen, die sie vor ihre Wagen hätten spannen können, so daß der Vor­teil gegenüber zweibeinigen Lastenträgern fehlte.

Ein zweiter Faktor ist soziales Prestige, das die Bedeu­tung wirtschaftlicher Vorteile (oder ihres Fehlens) über­flügeln kann. Millionen von Menschen kaufen heutzuta­ge Designerjeans zum doppelten Preis einer nicht min­der haltbaren normalen Jeanshose, da das Ansehen, das ihnen der Markenname auf der Designerhose ihrer Mei­nung nach verschafft, für sie mehr zählt als die höhe­ren Kosten. Ebenfalls in diese Kategorie fällt die Beibe­haltung des furchtbar umständlichen japanischen Kanji-Schriftsystems, das einem praktischeren Alphabet oder der japanischen Kana-Silbenschrift vorgezogen wird, da sich mit den Kanji-Zeichen so viel Prestige verbindet.

Ein weiterer Faktor ist die Frage der Vereinbarkeit mit den Interessen mächtiger Gruppen der Gesellschaft. Das Buch, das Sie vor sich haben, wurde wie wahrscheinlich alles andere, was Ihnen je an Gedrucktem zu Gesicht ge­kommen ist, auf einer QWERTY-Tastatur[3] gesetzt, also einer amerikanischen Schreibmaschinen- beziehungs­weise Computertastatur, in deren oberer linker Reihe die Buchstaben Q, W, E, R, T und Y angeordnet sind. Es mag unglaublich klingen, aber die Tastenbelegung, die aus dem Jahr 1873 stammt, zielte bewußt darauf ab, flinke Maschinenschreiber mit Hilfe einer ganzen Reihe von Tricks zu bremsen, beispielsweise durch verstreute An­ordnung der häufigsten Buchstaben in allen Reihen der Tastatur, vor allem aber auf der linken Hälfte (mit der sich Rechtshänder schwerer tun). Der Grund für all diese scheinbar widersinnigen Merkmale lag darin, daß sich die Typenhebel der Schreibmaschinen des Jahres 1873 verklemmten, wenn zwei benachbarte Hebel schnell hin­tereinander angeschlagen wurden, so daß die Hersteller daran interessiert waren, die Benutzer zu langsamerem Schreiben zu zwingen. Als später Schreibmaschinen mit besserer Mechanik das Problem verklemmter Typenhe­bel überwunden hatten, zeigten Versuche im Jahr 1932, daß eine günstigere Anordnung der Buchstaben zu ei­ner Verdoppelung der Schreibgeschwindigkeit und einer Senkung der Schreibanstrengung um 95 Prozent führen würde. Doch zu diesem Zeitpunkt saß die QWERTY-Tastatur bereits fest im Sattel. Das Interesse von hundert Millionen von QWERTY-Typisten, Ausbildern, Schreib­maschinen- und Computerverkäufern und -herstellern vereitelt seit mittlerweile über 60 Jahren alle Initiativen zur Schaffung einer effizienteren Tastatur.

Mag man auch über die Geschichte der QWERTY-Ta­statur schmunzeln, so hatten zahlreiche ähnliche Fälle doch viel ernstere wirtschaftliche Konsequenzen. Wis­sen Sie, warum Japan in der Unterhaltungselektronik heute weltweit eine derart beherrschende Stellung in­nehat, daß die Zahlungsbilanz mit den USA davon be­lastet wird, und das, obgleich die Transistortechnik in den USA erfunden und patentiert wurde? Weil Sony von Western Electric Lizenzrechte für Transistoren er­warb, als die amerikanischen Hersteller von Unterhal­tungselektronik noch in großem Stil Geräte mit Vaku­umröhren produzierten und davor zurückscheuten, ih­ren eigenen Produkten Konkurrenz zu machen. Und was meinen Sie, warum die Straßen Englands bis in die 20er Jahre dieses Jahrhunderts von Gaslaternen erhellt wurden, als in amerikanischen und deutschen Städten schon längst elektrische Lichter brannten? Weil die Kommu­nalbehörden in England große Summen in Gasbeleuch­tung investiert hatten und den Anbietern von Elektro­beleuchtung deshalb jedes erdenkliche Hindernis in den Weg legten.

Der letzte unserer vier Faktoren, welche die Akzep­tanz neuer Techniken beeinflussen, ist der Grad der Er­kennbarkeit ihrer Vorzüge. Im Jahr 1340, als Feuerwaf­fen in Europa noch weitgehend unbekannt waren, wur­den die englischen Grafen von Derby und Salisbury in Spanien zufällig Zeugen der Schlacht von Tarifa, in der die Araber Kanonen gegen die Spanier einsetzten. Be­eindruckt von dem, was sie gesehen hatten, setzten sich die Grafen dafür ein, daß die englische Armee eben­falls Kanonen erhielt. Der Vorstoß fand bei den Solda­ten großen Anklang, und schon sechs Jahre später wur­de in der Schlacht von Crécy mit Kanonen auf Franzo­sen geschossen.

Räder, Designerjeans und QWERTY-Tastaturen veran­schaulichen, warum eine Gesellschaft für unterschied­liche Erfindungen nicht gleich empfänglich ist. Umge­kehrt unterscheidet sich auch die Akzeptanz ein und derselben Erfindung in verschiedenen Gesellschaften der Gegenwart außerordentlich stark. Jeder hat sicher schon einmal die These vernommen, bäuerliche Gesell­schaften der Dritten Welt seien weniger innovations­freundlich als die Industriegesellschaften des Westens. Selbst innerhalb der Gruppe der Industrieländer bege­gnet man Neuerungen nicht überall mit gleicher Aufge­schlossenheit. Solche Unterschiede, falls sie denn auch zwischen den Kontinenten existierten, könnten erklä­ren, warum die technische Entwicklung auf einigen Kon­tinenten schneller voranschritt als auf anderen. Wenn beispiels weise sämtliche australischen Aborigines-Ge­sellschaften aus irgendeinem Grund jedem Wandel ab­hold waren, könnte dies die Erklärung dafür liefern, daß sie weiter Steinwerkzeuge benutzten, als auf allen ande­ren Kontinenten schon lange Metallwerkzeuge in Ge­brauch waren. Wie aber kommt es zur Entstehung der­art unterschiedlicher Haltungen von Gesellschaften ge­genüber Innovationen?

Als Antwort auf diese Frage haben Technikhistoriker bisher mindestens 14 verschiedene Faktoren ins Feld ge­führt. Einer davon ist die Lebenserwartung, die Erfin­dern in spe im Prinzip die zum Erwerb umfangreicher technischer Kenntnisse nötige Zeit und Geduld gibt, um sich auf langwierige Projekte, die erst viel später Früchte tragen, einlassen zu können. Die aufgrund des medizi­nischen Fortschritts in den letzten Jahrhunderten stark gestiegene Lebenserwartung könnte insofern dazu bei­getragen haben, den technischen Wandel zu beschleu­nigen.

Die nächsten fünf Faktoren haben mit wirtschaftli­cher und gesellschaftlicher Organisation zu tun: (1) Im klassischen Altertum wirkte billige Sklavenarbeit inno­vationshemmend, während hohe Löhne beziehungswei­se Arbeitskräftemangel in der heutigen Zeit der Suche nach technischen Lösungen Vorschub leisten. So schuf die Ankündigung neuer Einwanderungsgesetze, durch die der Zustrom billiger Saisonarbeiter aus Mexiko nach Kalifornien eingedämmt werden sollte, einen unmittel­baren Anreiz für die Züchtung einer Tomatengattung, die sich maschinell ernten läßt. (2) Das Patentrecht und andere Gesetze zum Schutz des geistigen Eigentums an Erfindungen schaffen im Westen einen positiven An­reiz für Innovationen, während das Fehlen entsprechen­der Gesetze im modernen China das Gegenteil bewirkt.

(3) Moderne Industriegesellschaften bieten ihren Bür­gern umfassende technische Ausbildungsmöglichkeiten, wie sie schon im mittelalterlichen Islam bestanden, im modernen Zaire jedoch nicht. (4) Der moderne Kapi­talismus ist im Gegensatz zu den Verhältnissen im al­ten Rom in einer Weise organisiert, daß sich der Kapi­taleinsatz für technische Neuerungen in der Regel be­zahlt macht. (5) Der ausgeprägte Individualismus der amerikanischen Gesellschaft bedingt, daß erfolgreiche Erfinder die Früchte ihres Schaffens selbst ernten kön­nen, während die engen Familienbande in Neuguinea dafür sorgen, daß der wirtschaftlich Erfolgreiche bald Dutzende von Familienangehörigen um sich versam­melt findet, die unter seinem Dach leben und von ihm versorgt werden wollen.

Die nächsten vier Erklärungsfaktoren sind eher im Be­reich der Werte und Einstellungen angesiedelt. (1) Risi­kobereitschaft, für Innovationen von entscheidender Be­deutung, ist in einigen Gesellschaften verbreiteter als in anderen. (2) Die wissenschaftlich orientierte Denkwei­se ist ein einzigartiges Merkmal der europäischen Kul­tur seit der Renaissance und hat wesentlichen Anteil an der Entstehung der technischen Vorreiterrolle der Gesellschaften des Westens. (3) Der tolerante Umgang mit abweichenden Meinungen und Ansichten schafft ei­nen günstigen Nährboden für Innovationen, während eine traditionsverhaftete Denkweise (wie in China, wo die Werke der alten Klassiker stets als Maß aller Dinge galten) dazu tendiert, Innovationen im Keim zu ersticken. (4) Religionen unterscheiden sich erheblich in ih­rer Einstellung zum technischen Wandel. Während ei­nige Richtungen des Judaismus und des Christentums als besonders fortschrittsfreundlich gelten, wird über manche Richtungen des Islam, Hinduismus und Brah­manismus das Gegenteil behauptet.

Alle zehn bisher genannten Hypothesen sind auf ihre Weise plausibel. Bei keiner spielt jedoch die Geographie zwangsläufig eine Rolle. Wenn Patentrechte, Kapitalis­mus und manche Religionen der technischen Entwick­lung förderlich sind, wie kam es dann, daß diese Fakto­ren in Europa nach dem Ausgang des Mittelalters zum Tragen kamen, nicht aber im heutigen China oder In­dien?

Wenigstens erscheint klar, in welche Richtung die ge­nannten zehn Faktoren die technische Entwicklung be­einflussen. Die verbleibenden vier Faktoren – Krieg, zen­tralistische Regierungsform, Klima und Rohstoffe – sind dem technischen Wandel dagegen in manchen Fällen förderlich, in anderen eher abträglich. (1) In der Ge­schichte der Menschheit war Krieg oft einer der großen Schrittmacher des technischen Fortschritts. So führten die gewaltigen Investitionen in Atomwaffen während des Zweiten Weltkriegs und in Flugzeuge und Lkw wäh­rend des Ersten Weltkriegs zur Entstehung völlig neuer technischer Domänen. Allerdings können Kriege dem technischen Fortschritt auch verheerende Rückschläge versetzen. (2) Starke Zentralregierungen sorgten im spä­ten 19. Jahrhundert in Deutschland und Japan für einen rasanten technischen Aufschwung, während das zen­tralistische Kaisertum in China in der Zeit nach 1500 n. Chr. dem technischen Fortschritt den Garaus mach­te. (3) Viele Nordeuropäer glauben, die Technik würde in rauhem Klima, in dem die Menschen zum Überleben auf Hilfsmittel angewiesen sind, besser gedeihen als in Regionen mit mildem Klima, wo Kleidung überflüssig ist und den Menschen die Früchte der Natur in den Mund wachsen. Aber auch die entgegengesetzte Ansicht wird vertreten, nämlich daß ein mildes Klima den Menschen den andauernden Existenzkampf erspart und ihnen die Muße gibt, um sich Innovationen zu widmen. (4) Dis­kutiert wurde auch, ob der technische Fortschritt eher durch Überfluß oder Mangel an natürlichen Rohstof­fen begünstigt wird. Eine reiche Ressour cenausstattung könnte eine gute Voraussetzung für Erfindungen dar­stellen, die diese Gaben der Natur nutzen, wie etwa die Wassermühlentechnik im regnerischen, von vielen Flüs­sen durchzogenen Nordeuropa – aber warum, so wäre zu fragen, setzte sich diese Technik nicht noch schnel­ler im viel niederschlagsreicheren Neuguinea durch? Die Zerstörung der englischen Wälder wurde als Grund für die frühe Entwicklung der Kohletechnik in Großbritan­nien genannt, aber warum hatte die Entwaldung in Chi­na nicht den gleichen Effekt?

Der Vorrat an Erklärungen für die unterschiedliche Innova tionsfreundlichkeit von Gesellschaften ist damit noch lange nicht erschöpft. Noch schlimmer ist aber, daß all diese Ansätze die Frage nach den eigentlichen Ursachen unbeantwortet lassen. Dies mag als entmuti­gender Rückschlag bei unserem Bemühen erscheinen, den Gang der Geschichte zu verstehen, denn zweifel­los spielte die Technik eine sehr wichtige Rolle. Wie ich gleich zeigen werde, erleichtert die Vielfalt unabhängi­ger Faktoren, die dem technischen Wandel zugrunde liegen, das Verständnis des Geschichtsverlaufs jedoch eher, als daß sie ihm im Wege stünde.

Uns interessiert an den aufgezählten Faktoren vor al­lem, ob sie sich von Kontinent zu Kontinent systema­tisch unterschieden und so die Ursache einer unter­schiedlichen technischen Entwicklung waren. Die mei­sten Laien, aber auch viele Historiker gehen offen oder stillschweigend davon aus, daß die Antwort auf diese Frage ja lauten muß. So wird angenommen, die austra­lischen Aborigines hätten Grundeinstellungen gemein, die zu ihrer technischen Rückständigkeit beitrügen: Sie seien konservativ und lebten in ihrer Phantasie in ei­nem mystischen Schöpfungszeitalter, statt sich im Hier und Jetzt um die praktische Verbesserung ihrer Lebens­bedingungen zu kümmern. Ein prominenter Histori­ker und Afrikaforscher sagte einmal über die Afrikaner, sie seien nach innen gewandt und ließen jenen Ausbrei­tungsdrang vermissen, den die Europäer besäßen.

Behauptungen wie diese sind pure Spekulation. Noch nie wurde eine vergleichende Untersuchung einer Viel­zahl von Gesellschaften mit ähnlichen sozioökonomi­schen Lebensbedingungen auf zwei Kontinenten durch­geführt, die als Ergebnis systematische Unterschiede in den Grundeinstellungen der jeweiligen Bewohner ans Licht förderte. Statt dessen beißt sich die Argumentati­on meist in den Schwanz: Aus der Existenz technischer Unterschiede wird auf entsprechende Unterschiede in den Werten und Einstellungen geschlossen.

In der Realität beobachte ich in Neuguinea immer wie­der, daß sich die verschiedenen dortigen Gesellschaften in der Denkweise stark voneinander unterscheiden. Wie in Europa und Amerika existieren auch in Neuguinea konservative, jedem Wandel abholde Gesellschaften ne­ben innovativeren, die nach bewußter Auswahl Neues übernehmen. Ein Resultat dieser Vielfalt ist, daß die in­novationsfreudigeren Gesellschaften nach dem Eintref­fen der Europäer begannen, westliche Technik zu nut­zen, um die Oberhand über ihre konservativen Nach­barn zu erringen.

Dazu ein Beispiel: Als die Europäer in den 30er Jah­ren dieses Jahrhunderts erstmals das Hochland im Osten Neuguineas erreichten, »entdeckten« sie mehre­re Dutzende steinzeitlich lebender Stämme, die noch nie Kontakt zu Weißen gehabt hatten. Von ihnen zeigte der Stamm der Chimbu eine besonders hohe Bereitschaft zur schnellen Übernahme westlicher Technik. Nachdem Chimbu-Stammesangehörige weiße Siedler beim Pflan­zen von Kaffee beobachtet hatten, wurden sie selbst zu Kaffeepflanzern und verkauften die Ernte gegen klin­gende Münze. Einmal, im Jahr 1964, begegnete ich ei­nem 50jährigen Chimbu, der nicht lesen konnte, noch den traditionellen Grasrock trug und in einer Zeit auf­gewachsen war, als der Gebrauch von Steinwerkzeugen in seiner Umgebung noch die Norm war. Er hatte es als Kaffeepflanzer zu Reichtum gebracht und von seinem Vermögen 100 000 Dollar in eine Sägemühle investiert; obendrein hatte er sich eine Lkw-Flotte zugelegt, um Kaffeesäcke und Baumstämme zum Markt transportie­ren zu können. Im krassen Gegensatz zu den Chimbu steht das benachbarte Hochlandvolk der Daribi, die ich acht Jahre lang studiert habe. Sie sind äußerst konser­vativ und interessieren sich so gut wie überhaupt nicht für neue Technik. Als zum erstenmal ein Hubschrau­ber im Gebiet der Daribi landete, warfen sie nur einen kurzen Blick darauf und wandten sich gleich wieder ab. Ich bin ziemlich sicher, daß die Chimbu sofort versucht hätten, über die Möglichkeit eines Probeflugs zu verhan­deln. Dieser Mentalitätsunterschied hat dazu geführt, daß die Chimbu mittlerweile auf das Land der Daribis vorrücken, dort Plantagen anlegen und die Daribi für sich arbeiten lassen.

Auch auf jedem anderen Kontinent erwiesen sich be­stimmte Gesellschaften als besonders aufgeschlossen für Innovationen, übernahmen selektiv neue Techniken und integrierten sie erfolgreich in ihre Kultur. In Nigeria sind die Ibo das lokale Pendant zu den neuguineischen Chim­bu. Unter den nordamerikanischen Indianern sind heu­te die Navajo der zahlenmäßig größte Stamm. Bei der Ankunft der Europäer waren sie nur einer von mehreren hundert Stämmen, doch sie erwiesen sich als besonders robust und zeigten die Fähigkeit, die für sie geeigneten Innovationen geschickt auszuwählen. So übernahmen sie westliche Farbstoffe für ihre Webarbeit, wurden zu Silberschmieden und Ranchern und arbeiten heute als Lkw-Fahrer, ohne indes auf ihre traditionelle Wohnform zu verzichten.

Selbst unter den angeblich so konservativen austra­lischen Aborigines gibt es neben erzkonservativen Ge­sellschaften auch innovations freundliche. Das eine Ex­trem bilden die Tasmanier, die Steinwerkzeuge noch Zehntausende von Jahren nach deren Ablösung in Eu­ropa verwendeten, als sie auch auf dem australischen Festland weitgehend außer Gebrauch gekommen wa­ren. Am anderen Ende des Spektrums finden wir Ab­origines im Südosten Australiens, die raffinierte Me­thoden zur Fischzucht entwickelten, die unter anderem den Bau von Kanälen, Wehren und speziellen Fischfal­len umfassen.

Demnach gibt es zwischen den Gesellschaften ein und desselben Kontinents erhebliche Unterschiede in der Art und Anzahl von Erfindungen sowie der Einstellung zu ihnen. Außerdem kommt es im Laufe der Zeit innerhalb von Gesellschaften zu Veränderungen. So sind die isla­mischen Gesellschaften des Nahen Ostens heute relativ konservativ und bilden keineswegs die Speerspitze des technischen Fortschritts. Dagegen war der mittelalter­liche Islam in der gleichen Region technisch fortschritt­lich und innovationsfreudig. Der Alphabetisierungsgrad war dort in jener Zeit viel höher als in Europa, und das Erbe der klassischen griechischen Kultur wurde in ei­nem solchen Maße assimiliert, daß uns heute zahlreiche griechische Werke nur durch ihre arabischen Überset­zungen bekannt sind. Zu den islamischen Erfindungen von damals zählen raffinierte Windmühlen, die Trigo­nometrie und das Lateinersegel; große Fortschritte wur­den in der Metallverarbeitung, im Maschinenbau, in der Chemotechnik und im Bewässerungswesen gemacht; zu­dem wurden Papier und Schießpulver aus China über­nommen und nach Europa weitervermittelt. Im Mittel­alter verlief der Strom technischer Neuerungen eindeu­tig von islamischen Gegenden nach Europa und nicht, wie heute, andersherum. Erst ab ca. 1500 n. Chr. kehrte sich die Richtung langsam um.

Auch in China änderte sich die Innovationsfreudig­keit im Laufe der Geschichte. Bis ca. 1450 n. Chr. war das Reich der Mitte technisch sehr viel innovativer und fort­schrittlicher als Europa, ja selbst als der mittelalterliche Islam. Die lange Liste der Erfindungen chinesischen Ur­sprungs umfaßt beispielsweise Achterruder, ausgeklügel­tes Geschirr für Zugtiere, Drachen, Drucktechnik (sieht man von der Scheibe von Phaistos ab), Gußeisen, Ka­nalschleusen, Magnetkompaß, Papier, Porzellan, Schub­karre, Tiefbohrung und verbessertes Schießpulver. Dann endete Chinas innovative Phase aus Gründen, über die wir am Ende des Buchs spekulieren werden. Westeuropa und seine nordamerikanischen Ableger stehen aus heu­tiger Sicht an der vordersten Front der technischen Ent­wicklung, obgleich das westliche Europa noch am Ende des Mittelalters technisch rückständiger war als alle an­deren »zivilisierten« Regionen der Alten Welt.

Deshalb ist es falsch anzunehmen, daß es Kontinen­te mit eher innovativen Gesellschaften und solche mit eher konservativen gibt. Auf jedem Kontinent existier­ten zu jedem Zeitpunkt innovative neben konservativen Gesellschaften. Hinzu kommt, daß die Innovationsfreu­digkeit innerhalb einzelner Regionen im Laufe der Ge­schichte Schwankungen unterliegt.

Bei Abwägung des Gesagten kommt man zu dem Schluß, daß auch nichts anderes zu erwarten wäre, wenn eine Vielzahl unabhängiger Faktoren die Innovations­freudigkeit einer Gesellschaft bestimmt. Ohne genaue Kenntnis all dieser Faktoren ist keine Vorhersage mög­lich. Sozialwissenschaftler forschen deshalb weiter nach den spezifischen Gründen, warum sich die Innovations­bereitschaft des Islam, Chinas und Europas änderte und warum die Chimbu, Ibo und Navajo gegenüber neuen Techniken aufgeschlossener waren als ihre Nachbarn.

Bei der Suche nach dem groben Verlaufsmuster der Geschichte interessiert jedoch nicht, welches in jedem dieser Fälle die spezifischen Gründe waren. Paradoxer­weise macht die Vielzahl der Faktoren, die über die In­novationsfreudigkeit oder -feindschaft von Gesellschaf­ten entscheiden, dem Historiker die Arbeit leichter, er­halten doch die Unterschiede zwischen verschiedenen Gesellschaften so im Grunde den Charakter einer Zu­fallsvariablen. Demnach wird sich bei Betrachtung einer genügend großen geographischen Einheit (beispielsweise eines ganzen Kontinents) zu jedem beliebigen Zeitpunkt ein Teil der dortigen Gesellschaften mit hoher Wahr­scheinlichkeit als innovationsfreudig erweisen.

Welchen Ursprung haben eigentlich Innovationen? Für die meisten Gesellschaften mit Ausnahme der wenigen, die in völliger Isolation existierten, lautet die Antwort hierauf, daß viele, wenn nicht gar die Mehrzahl neu­er Techniken nicht selbst erfunden, sondern von ande­ren Gesellschaften übernommen wurden. Die relative Bedeutung lokaler Erfindungen, verglichen mit denen fremder Herkunft, hängt von zwei Hauptfaktoren ab: erstens, wie naheliegend die Erfindung einer bestimm­ten Technik war, und zweitens, wie weit die betreffende Gesellschaft räumlich von anderen entfernt war.

Einige Erfindungen resultierten unmittelbar aus dem Umgang mit den Stoffen der Natur. Sie hatten viele un­abhängige Ursprünge an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeitpunkten der Geschichte. Ein Beispiel, das wir schon ausführlich behandelt haben, ist die Pflan­zendomestikation mit ihren mindestens neun unabhän­gigen Geburtsstätten. Ein weiteres ist die Töpferei, mög­licherweise entstanden aus der Beobachtung des Verhal­tens erhitzter und getrockneter Tonerde in der Natur. Die ersten Töpferwaren tauchten in Japan vor rund 14 000 Jahren auf, in Vorderasien und China vor rund 10 000 Jahren und später auch im Amazonasgebiet, in der afri­kanischen Sahelzone, im Südosten Nordamerikas und in Mexiko.

Ein Beispiel für eine sehr viel schwierigere Erfindung ist die Schrift, zu der man nicht durch Beobachtungen in der Natur geleitet wird. Wie wir in Kapitel 11 sahen, hatte die Schrift nur sehr wenige unabhängige Entste­hungsorte, und wie es scheint, wurde das Alphabet sogar nur ein einziges Mal in der Geschichte erfunden. Andere schwierige Erfindungen waren beispielsweise das Was­serrad, die Handmühle, der Magnetkompaß, die Wind­mühle und die Camera obscura – alle wurden in der Al­ten Welt nur ein- oder zweimal und in der Neuen Welt überhaupt nicht gemacht.

Derart komplexe Erfindungen wurden gewöhnlich von außen übernommen, da sie sich schneller ausbreiteten, als sie an verschiedenen Orten neu erfunden werden konnten. Ein gutes Beispiel ist das Rad, das erstmals für die Zeit um 3400 v. Chr. im Gebiet des Schwarzen Mee­res belegt ist und dann innerhalb der nächsten Jahrhun­derte an vielen Orten Europas und Asiens auftauchte. All diese frühen Räder der Alten Welt sind nach dem glei­chen Prinzip konstruiert: Es handelte sich um hölzer­ne Scheiben aus drei zusammengefügten Holzstücken, nicht etwa um eine Felge mit Speichen. Dagegen waren die einzigen Räder indianischer Kulturen, die uns von Darstellungen auf mexikanischen Tongefäßen bekannt sind, aus einem Stück Holz gefertigt, was auf eine zwei­te unabhängige Erfindung schließen läßt – wofür auch andere Erkenntnisse über die Isolation der Neuen Welt von den Zivilisationen der Alten Welt sprechen.

Niemand käme auf die Idee, daß jene sonderbare Bau­weise des Rades in der Alten Welt nur zufällig im Ab­stand von wenigen Jahrhunderten an vielen verschie­denen Orten der Alten Welt auftauchte, nachdem der Mensch zuvor sieben Millionen Jahre lang radlos exi­stiert hatte. Vielmehr war es sicher so, daß sich das Rad aufgrund seiner Nützlichkeit rasch von dem einen Ort seiner Erfindung in verschiedene Richtungen ausbrei­tete. Andere komplizierte Techniken, die nach ihrer Er­findung im westlichen Asien den Weg in viele andere Teile der Alten Welt fanden, waren unter anderem das Türschloß, der Flaschenzug, die Handmühle, die Wind­mühle – und natürlich das Alphabet. Ein Beispiel aus der Neuen Welt ist die Metallverarbeitung, die sich von den Anden über Panama nach Mesoamerika ausbreitete.

Wenn eine Erfindung von offensichtlichem Nutzen ir­gendwo auftaucht, breitet sie sich meist auf einem von zwei Wegen aus. Entweder erfahren andere Gesellschaf­ten von ihr, sind für sie empfänglich und übernehmen sie, oder die Gesellschaften, die nicht im Besitz der neuen Erfindung sind, verlieren gegenüber der Erfindergesell­schaft an Macht und werden von ihr unterworfen oder ausgelöscht, wenn die neu gewonnene Überlegenheit ent­sprechend groß ist. Ein anschauliches Beispiel für eine solche Entwicklung ist die Verbreitung von Musketen unter den neuseeländischen Maori-Stämmen. Um 1818 gelangte der Stamm der Ngapuhi in den Besitz von Mus­keten, die sie von europäischen Händlern erwarben. In den nächsten 15 Jahren wurde Neuseeland von den so­genannten Musketenkriegen erschüttert, in deren Ver­lauf musketenlose Stämme sich entweder ebenfalls in den Besitz von Musketen brachten oder von Stämmen, die bereits damit ausgerüstet waren, unterjocht wurden. Die Kriege führten dazu, daß sich die Muskete bis 1833 auf ganz Neuseeland durchgesetzt hatte: Alle überleben­den Maori-Stämme waren nun Musketenbesitzer.

Die Übernahme von Techniken fremden Ursprungs kann in viele verschiedene Kontexte eingebettet sein. Hierzu zählen unter anderem friedlicher Handel (wie bei der Diffusion der Transistortechnik von den USA nach Japan im Jahr 1954), Spionage (Schmuggel von Sei­denraupen von Südostasien in den Nahen Osten im Jahr 552 n. Chr.), Emigration (europaweite Diffusion fran­zösischer Techniken zur Glas- und Bekleidungsherstel­lung nach der Vertreibung von 200 000 Hugenotten aus Frankreich im Jahr 1685) und Krieg. Ein Beispiel für die letztere Variante sind die in China entwickelten Papier­herstellungstechniken, die dem Islam nach dem Sieg ei­nes arabischen über ein chinesisches Heer in Zentrala­sien im Jahr 751 in den Schoß fielen. Als man unter den Kriegsgefangenen einige Papiermacher entdeckte, brach­te man sie nach Samarkand, um dort eine eigene Papier­herstellung aufzubauen.

In Kapitel 11 sahen wir, daß die kulturelle Diffusion entweder in Form detaillierter »Blaupausen« oder durch vage Ideen erfolgen kann, die den Anstoß zur erneuten Erfindung geben. Die in Kapitel 11 am Beispiel der Ausbreitung der Schrift dargestellten Alternativen gelten im Bereich der Technik ganz genauso. Während im vori­gen Abschnitt einige Beispiele für Blaupausen-Kopien genannt wurden, haben wir es beim Transfer der chi­nesischen Porzellanherstellung nach Europa mit einem Beispiel für langwierige Ideendiffusion zu tun. Porzel­lan, ein transparentes feinkeramisches Erzeugnis, wur­de ungefähr im 7. Jahrhundert n. Chr. in China erfun­den. Nachdem es im 14. Jahrhundert über die Seiden­straße nach Europa gelangt war (aber ohne das Rezept für seine Herstellung), erfreute es sich dort bald großer Beliebtheit in vornehmen Kreisen und zeitigte eine Viel­zahl erfolgloser Imitationsversuche. Erst 1707 fand der deutsche Alchimist Johann Böttger nach zahllosen Ex­perimenten, bei denen er diverse Mineralien und Ton­sorten vermischte, die Lösung und gründete wenig spä­ter die heute berühmte Meißener Porzellanmanufaktur. Hiervon mehr oder weniger unabhängige Experimente führten später zur Gründung englischer und französi­scher Porzellanmanufakturen in Sèvres, Wedgwood und Spode. Europäische Keramiker hatten die chinesischen Herstellungstechniken somit gezwungenermaßen neu erfunden; allerdings schwebte ihnen das gewünschte Er­gebnis stets vor Augen und diente als Inspiration.

Je nach geographischer Lage unterscheiden sich Gesell­schaften auch darin, wie leicht sie Techniken fremder Herkunft durch Diffusion empfangen können. Von al­len Völkern am stärksten isoliert waren in der jüngeren Vergangenheit die tasmanischen Aborigines, die auf ei­ner Insel gut 150 Kilometer vor Australien, dem abgele­gensten der Kontinente, lebten und keine seetüchtigen Schiffe besaßen. Die Tasmanier hatten 10 000 Jahre lang keinen Kontakt zu anderen Gesellschaften und erwar­ben neben den von ihnen selbst entwickelten Techniken keine weiteren von außen. Nach Australien und Neu­guinea, vom asiatischen Festland durch den indonesi­schen Archipel getrennt, floß nur ein spärlicher Strom von Erfindungen aus Asien. Vom Prozeß der Diffusi­on profitierten jene Gesellschaften am stärksten, die auf den großen Kontinenten angesiedelt waren. In ihnen verlief der technische Fortschritt am schnellsten, weil sie nicht nur eigene Erfindungen ansammelten, sondern auch solche aus anderen Gesellschaften. So gelangte der mittelalterliche Islam aufgrund seiner zentralen Lage in Eurasien in den Besitz von Erfindungen aus Indien und China sowie des geistigen Erbes der alten Griechen.

Welche Bedeutung dem Prozeß der Diffusion – und der geographischen Lage, die ihn ermöglicht – zukommt, wird auf verblüffende Weise durch einige anders nicht zu begreifende Fälle demonstriert, bei denen Gesellschaf­ten Techniken mit hohem Nutzwert den Rücken kehr­ten. Uns erscheint es selbstverständlich, daß nützliche Techniken, einmal erfunden, bis zum Erscheinen noch nützlicherer in Gebrauch bleiben. In der Realität müs­sen Techniken aber nicht nur erfunden, sondern auch gepflegt werden, und das bringt wiederum zahlreiche unberechenbare Faktoren ins Spiel. In jeder Gesellschaft erlangen zeitweise Strömungen die Oberhand, die wirt­schaftlich nutzlose Dinge auf- und nützliche Dinge ab­werten. Heute, wo fast jede Gesellschaft mit jeder in Kon­takt steht, können wir uns nicht vorstellen, daß solche vorübergehenden Erscheinungen tatsächlich die »Ver­schrottung« wichtiger Techniken zur Folge haben könn­ten. Eine Gesellschaft, die sich in einer Phase ihrer Ge­schichte gegen eine solche Technik entscheidet, würde sie bei benachbarten Gesellschaften weiter in Gebrauch sehen und könnte sie jederzeit erneut übernehmen (oder würde, falls sie es nicht täte, bald von den Nachbarn un­terjocht werden). In geographisch isolierten Gesellschaf­ten können vorüber gehende Erscheinungen jedoch leicht zum Dauerzustand werden.

Ein berühmtes Beispiel ist die Abkehr der Japaner vom Gewehr. Schußwaffen gelangten erstmals im Jahr 1543 nach Japan, als zwei mit Hakenbüchsen (primitiven Ge­wehren) bewaffnete portugiesische Abenteurer an Bord eines chinesischen Frachtschiffs eintrafen. Die Japaner waren von der neuen Waffe derart beeindruckt, daß es nicht lange dauerte, bis sie selbst Gewehre produzier­ten. Obendrein verbesserten sie die Funktionalität der Schießeisen deutlich, so daß Japan um 1600 n. Chr. mit besseren und einer größeren Zahl von Gewehren gerü­stet war als jedes andere Land der Welt.

Doch es gab innerhalb der japanischen Gesellschaft auch Kräfte, die der Akzeptanz von Schußwaffen im Wege standen. Das Land besaß eine zahlenmäßig star­ke Klasse von Kriegern, den Samurai, denen Schwerter als Symbole ihres Standes und als Kunstwerke galten (und als Mittel zum Unterjochen der niederen Klassen dienten). Im Mittelpunkt der Kriegführung hatten in Japan bis dahin Mann­gegen-Mann-Kämpfe zwischen schwertfechtenden Samurai gestanden, die auf offenem Feld rituelle Reden hielten und hernach ihren ganzen Stolz dareinsetzten, graziös zu kämpfen. Dieses tradi­tionelle Vorgehen wurde in Gegenwart gemeiner Solda­ten, die ganz ungraziös mit Gewehren herumballerten, rasch lebensgefährlich. Hinzu kam, daß Gewehre eine ausländische Erfindung darstellten und als solche in Ja­pan nach 1600 zunehmend in Verruf gerieten – wie alle anderen ausländischen Dinge auch. Die unter Samurai-Einfluß stehende Regierung begann, die Gewehrherstel­lung auf wenige Städte zu beschränken, führte sodann eine amtliche Genehmigungspflicht für dieses Gewer­be ein, erteilte Genehmigungen nur noch für Geweh­re, die im staatlichen Auftrag produziert wurden, und verringerte schließlich das Auftragsvolumen so weit, bis Japan am Ende wieder fast zur schußwaffenfreien Zone wurde.

Auch unter den europäischen Herrschern jener Zeit gab es einige, die Gewehre verschmähten und sich be­mühten, ihrer Verbreitung Schranken zu setzen. Ihnen war jedoch in Europa nie großer Erfolg beschert, da je­des Land, das Schußwaffen abschwor, fürchten mußte, von seinen schießwütigen Nachbarn prompt überrannt zu werden. Nur weil Japan eine bevölkerungsreiche, ab­gelegene Insel ist, konnte es sich die Ablehnung einer so wirksamen neuen Technik überhaupt leisten. Seine Sicherheit in der Isolation endete 1853 abrupt mit dem Besuch einer kanonengespickten amerikanischen Flot­te unter Kommodore Perry, die Japan von der Notwen­digkeit überzeugte, die Schußwaffenproduktion wieder­aufzunehmen.

Japans Abkehr von Gewehren und Chinas Abwen­dung von der Ozeanschiffahrt (wie auch von mechani­schen Uhren und wasserkraft getriebenen Spinnmaschi­nen) sind gut belegte historische Beispiele für techni­schen Rückschritt in mehr oder weniger stark isolierten Gesellschaften. Ähnliches ereignete sich schon in prähi­storischer Zeit. Den Extremfall bilden die tasmanischen Aborigines, die selbst Knochenwerkzeuge und Fischfang aufgaben, um auf das niedrigste technische Niveau der jüngeren Geschichte zu sinken (Kapitel 14). Von den au­stralischen Aborigines wird vermutet, daß sie Pfeil und Bogen zunächst übernahmen, später aber wieder darauf verzichteten. Die Bewohner der Inseln in der Torresstra­ße wandten sich vom Kanu ab, während die Gaua-In­sulaner es ihnen gleichtaten, diesen Schritt später aber wieder rückgängig machten. Die Töpferei geriet in ganz Polynesien aus der Mode. Die meisten Polynesier und viele Melanesier kehrten auch Pfeil und Bogen als Kriegs­waffe den Rücken. Die Polar-Eskimos gaben nicht nur Pfeil und Bogen, sondern auch das Kajak auf, während die Dorset-Eskimos außer auf Pfeil und Bogen auch auf den Bogenbohrer verzichteten und dem Hund als Haus­tier den Laufpaß gaben.

Diese zunächst grotesk anmutenden Beispiele veran­schaulichen den Stellenwert von Geographie und Dif­fusion in der Geschichte der Technik. Ohne Diffusion werden weniger Techniken erworben, und von den vor­handenen gehen mehr verloren.

Weil Technik wieder neue Technik zeugt, ist die Dif­fusion einer Erfindung von potentiell größerer Bedeu­tung als die Erfindung selbst. Die Geschichte der Tech­nik ist ein Beispiel für einen autokatalytischen Prozeß, das heißt einen Prozeß, dessen Tempo sich immer wei­ter beschleunigt, weil er sich selbst als Katalysator dient. Wir staunen heute über die rasante Entwicklung des technischen Fortschritts seit der industriellen Revoluti­on. Nicht minder eindrucksvoll war aber die Beschleu­nigung des technischen Fortschritts im Mittelalter, ver­glichen mit seiner Beschleunigung in der Bronzezeit, die wiederum seine Beschleunigung in der Jungsteinzeit in den Schatten stellte.

Einer der Gründe, warum die Technik ihr eigener Ka­talysator ist, liegt darin, daß Fortschritte stets von der vorhergehenden Lösung einfacherer Probleme abhän­gen. So begannen steinzeitliche Bauern nicht urplötz­lich mit der Gewinnung und Verarbeitung von Eisen mit Hilfe von Schmelzöfen. Vielmehr wuchs die Eisen­technik auf der Grundlage jahrtausendelanger Erfahrun­gen mit Metallen, die in der Natur in Reinform vorka­men und weich genug waren, um auch ohne Erhitzung durch Hämmern in die gewünschte Form gebracht zu werden (Kupfer und Gold). Sie konnte ferner auf jahr­tausendelangen Erfahrungen im Bau einfacher Öfen auf­bauen, die für die Töpferei benötigt wurden, sowie auf der späteren Gewinnung von Kupfererzen und der Ver­arbeitung von Kupferlegierungen (Bronze), wofür nied­rigere Temperaturen als bei der Eisenverarbeitung aus­reichten. Sowohl in Vorderasien als auch in China setzten sich Eisengegenstände erst nach rund zweitausendjäh­riger Erfahrung mit Bronze durch. Die Zivilisationen der Neuen Welt hatten gerade erst mit der Herstellung von Bronzeartefakten begonnen, als die Europäer ein­trafen und der eigenständigen Entwicklung abrupt ein Ende setzten.

Der andere Hauptgrund für den autokatalytischen Charakter der Technik besteht darin, daß neue Tech­niken und Werkstoffe die Entwicklung weiterer Tech­niken durch Rekombination ermöglichen. Warum etwa breitete sich die Drucktechnik im mittelalterlichen Eu­ropa so rasend schnell aus, nachdem Gutenberg 1455 seine Bibel gedruckt hatte, nicht aber nach der Herstel­lung der Scheibe von Phaistos durch jenen unbekannten Drucker um 1700 v. Chr.? Die Erklärung beruht zum Teil darauf, daß man in Europa in der Lage war, sechs tech­nische Errungenschaften zusammenzufügen, von denen die meisten dem Hersteller der Scheibe von Phaistos noch unbekannt waren. Von diesen Errungenschaften – Papier, Drucktypen, Metallverarbeitung, Pressen, Tin­te und Alphabetsschriften – waren zwei aus China nach Europa gekommen: Papier und die Idee der Drucktypen. Gutenbergs Entwicklung des Handsatzverfahrens mit gegossenen Metall-Lettern zur Lösung des fatalen Pro­blems ungleicher Typengröße basierte auf zahlreichen metallurgischen Fortschritten: Stahl für Patrizen, Mes­sing- oder Bronzelegierungen (später Stahl) für Druck­platten, Blei für Gußformen und eine Legierung aus Zinn, Zink und Blei für Schrifttypen. Gutenbergs Drucker­presse war eine Weiterentwicklung der Schraubenpresse, die ihm von der Wein- und Olivenölherstellung bekannt war, während die von ihm verwendete Druckfarbe eine Verbesserung existierender Tinten auf Ölbasis darstell­te. Die in Europa verwendeten Schriften, ein Erbe der dreitausendjährigen Alphabetsentwicklung, boten sich zum Typendruck an, da nur einige Dutzend Buchsta­benformen gegossen werden mußten (während die chi­nesische Schrift die Herstellung von mehreren Tausend solcher Formen erforderte).

In allen sechs Punkten mußte sich der Hersteller der Scheibe von Phaistos im Vergleich zu Gutenberg mit weit unterlegenen Techniken begnügen, die er zu ei­nem Druckverfahren kombinierte. Als Druckoberflä­che diente ihm Ton, der viel schwerer zu handhaben ist und mehr wiegt als Papier. Die metallurgischen Kennt­nisse, Druckfarben und Pressen im Kreta der Zeit um 1700 v. Chr. waren viel primitiver als die des Jahres 1455 in deutschen Landen, so daß die Zeichen von Hand auf die Scheibe aufgebracht werden mußten, statt von be­weglichen, in einen Metallrahmen gespannten und in Druckfarbe getauchten Typen aufgetragen zu werden. Bei der Schrift auf der Scheibe handelte es sich um eine Silbenschrift, die aus einer größeren Zahl von Zeichen bestand und obendrein komplizierter aufgebaut war als das von Gutenberg verwendete lateinische Alphabet. Die bei der Herstellung der Scheibe von Phaistos verwende­te Drucktechnik war folglich viel primitiver und bot we­niger Vorteile gegenüber dem Schreiben mit der Hand als Gutenbergs Druckpresse. Zu all diesen technischen Nachteilen kam noch hinzu, daß die Scheibe zu einer Zeit entstand, als die Kunst des Schreibens das Privileg einer kleinen Zahl von Palast- und Tempelschreibern war. Somit bestand wenig Nachfrage nach dem schö­nen Werk des Scheibenmachers und wenig Anreiz, in die Anfertigung von Dutzenden von Handstempeln zu investieren, die für weitere Scheiben erforderlich gewe­sen wären. Dagegen fanden sich angesichts des gewal­tigen potentiellen Absatzmarkts für Druckerzeugnisse im mittelalterlichen Europa zahlreiche Investoren be­reit, Gutenberg Geld zu leihen.

Von den ersten Steinwerkzeugen, die vor rund zweiein­halb Millionenjahren aufkamen, bis zu meinem Laser­drucker, der 1996 den völlig veralteten von 1992 ablö­ste und mit dem das Manuskript für dieses Buch aus­gedruckt wurde, hat die Technik einen langen Weg zurückgelegt. Am Anfang verlief die Entwicklung un­endlich langsam, und es vergingen Hunderttausende von Jahren ohne wahrnehmbare Veränderungen an den Steinwerkzeugen und ohne irgendwelche Hinweise dar­auf, daß auch Artefakte aus anderem Material herge­stellt wurden. Heute dagegen hat der technische Fortschritt ein solches Tempo erreicht, daß man aus der Ta­geszeitung davon erfährt.

In diesem langen Prozeß der Beschleunigung lassen sich an zwei Punkten besonders bedeutsame Entwick­lungssprünge ausmachen. Der erste fällt in den Zeit­raum vor 100 000 bis 50 000 Jahren und wurde vermut­lich durch genetische Veränderungen ausgelöst, näm­lich durch die Evolution der modernen menschlichen Anatomie, die den Weg zur modernen Sprache, zur modernen Hirnfunktion oder zu beidem ebnete. Die­ser Sprung führte zu Werkzeugen aus Knochen, steiner­nen Einzweck-Werkzeugen und solchen, die zu mehre­ren Zwecken benutztwerden konnten. Der zweite Sprung war das Resultat des Übergangs zur Seßhaftigkeit, der in verschiedenen Teilen der Welt zu unterschiedlichen Zeitpunkten erfolgte (in manchen bereits vor 13 000 Jah­ren, in anderen bis heute noch nicht). In den meisten Fällen fiel dieser Schritt mit der Einführung der Land­wirtschaft zusammen, die uns zum dauerhaften Aufent­halt in der Nähe unserer Felder, Obstgärten und Vor­ratsspeicher zwang.

Die seßhafte Lebensweise stellte einen wichtigen Ein­schnitt in der Geschichte der Technik dar, weil sie es den Menschen ermöglichte, Besitztümer anzuhäufen, die zu schwer waren, um sie ständig mitzuführen. Jäger- und Sammlernomaden können nur Dinge ihr eigen nen­nen, die sich leicht von einem Ort zum anderen trans­portieren lassen. Wer oft das Lager wechselt und nicht über Fahrzeuge oder Zugtiere verfügt, dessen Besitz ist zwangsläufig auf Babys, Waffen und die notwendigsten Utensilien beschränkt. Das Mitschleppen von Töpferwa­ren und Druckerpressen ist völlig ausgeschlossen. Die­ses praktische Problem erklärt zugleich, warum auf das frühe Auftauchen einiger Techniken eine rätselhaft lan­ge Zeit folgte, in der ihre weitere Entwicklung stagnierte. Ein Beispiel: Bei den ältesten durch Funde dokumentier­ten Vorläufern der Töpferei handelt es sich um Statuetten aus gebranntem Ton, die vor 27 000 Jahren im heutigen Siedlungsgebiet der Tschechen und Slowaken angefer­tigt wurden, also lange vor der Entstehung der ältesten bekannten Gefäße aus gebranntem Ton in Japan (Alter rund 14 000 Jahre). Aus demselben Gebiet und dersel­ben Zeit stammen auch die ältesten Zeugnisse der Web­kunst, während der älteste Korb aus einem anderen Teil der Welt rund 13 000 Jahre und der älteste Webstofferst rund 9000 Jahre alt ist. Trotz dieser sehr frühen Anfänge blieb der Töpferei ebenso wie der Webkunst der Durch­bruch versagt, bis der Schritt zur Seßhaftigkeit getan war und das Problem des Transports von Krügen und Web­stühlen kein Hindernis mehr darstellte.

Abgesehen davon, daß sie die seßhafte Lebensweise und so auch die Anhäufung von Besitztümern ermög­lichte, markierte die Landwirtschaft aus einem weiteren Grund einen Einschnitt in der Geschichte der Technik. Zum erstenmal in der Menschheitsgeschichte konnten nun ökonomisch differenzierte Gesellschaften entstehen, in denen bäuerliche Untertanen eine Schicht von Spe­zialisten miternährten, die selbst keine Nahrung produ­zierten. Wie wir in Teil 2 dieses Buchs erfuhren, trat die Landwirtschaft jedoch auf den verschiedenen Kontinen­ten nicht zur gleichen Zeit auf den Plan. Wie ich in die­sem Kapitel außerdem gezeigt habe, wird der Stand der Technik an einem bestimmten Ort nicht nur von lokalen Erfindungen bestimmt, sondern auch von der Diffusion von Techniken fremder Herkunft. Aus diesem Grund entwickelte sich die Technik tendenziell auf jenen Kon­tinenten am schnellsten, auf denen ihrer Diffusion die geringsten geographischen und ökologischen Hinder­nisse im Wege standen. Zudem wächst die Wahrschein­lichkeit der Erfindung und Annahme neuer Techniken mit der Zahl der Zivilisationen auf einem Kontinent, da sich Gesellschaften aus vielerlei Gründen in ihrer Inno­vationsfreudigkeit unterscheiden. Unter sonst gleichen Umständen entwickelt sich die Technik somit in großen, fruchtbaren und bevölkerungsreichen Regionen mit ei­ner Vielzahl potentieller Erfinder und etlichen konkur­rierenden Gesellschaften am schnellsten.

Lassen Sie mich nun zusammenfassen, wie die Varia­tion dieser drei Faktoren – Zeitpunkt des Beginns der Landwirtschaft, Diffusionshemmnisse, Bevölkerungs­größe – geradewegs zu den beobachteten Unterschieden zwischen den Kontinenten in der Entwicklung der Tech­nik führten. Eurasien (wozu wir aus praktischen Grün­den auch Nordafrika zählen) stellt die größte Landmas­se der Erde dar und beherbergt zugleich die größte Zahl konkurrierender Gesellschaften. Hier finden wir auch die beiden frühesten Zentren der Landwirtschaft: den Fruchtbaren Halbmond und China. Die beherrschende Ost-West-Achse Eurasiens ermöglichte es, daß zahlrei­che Erfindungen, die sich an einem Ort durchgesetzt hatten, relativ rasch den Weg in andere Regionen Eu­rasiens mit vergleichbaren klimatischen Bedingungen fanden. Die ebenfalls stattliche Länge der eurasischen Nord-Süd-Achse steht im scharfen Kontrast zur Enge des Isthmus von Panama, um den Vergleich mit Ame­rika zu ziehen. Eurasien weist auch keine ernsten geo­graphischen Hindernisse wie jene auf, von denen die Hauptachsen Afrikas und Amerikas durchbrochen wer­den. Geographische und ökologische Barrieren, die der Diffusion neuer Techniken im Wege standen, waren so­mit in Eurasien weniger bedeutsam als auf den anderen Kontinenten. Aufgrund dieser Faktoren war Eurasien derjenige Kontinent, auf dem die Beschleunigung der technischen Entwicklung nach dem Ende des Eiszeital­ters am frühesten begann und zu der größten örtlichen Konzentration technischer Neuerungen führte.

Nord- und Südamerika werden gemeinhin als zwei getrennte Kontinente betrachtet. Sie sind allerdings seit mehreren Millionen Jahren miteinander verbunden und können zum Zweck des Vergleichs mit Eurasien getrost als Einheit behandelt werden. Der amerikanische Dop­pelkontinent stellt die zweitgrößte Landmasse der Erde dar, ist aber deutlich kleiner als Eurasien. Auch unter­scheidet er sich durch seine geographische und ökologi­sche Zweiteilung: Der Isthmus von Panama, an der eng­sten Stelle rund 50 Kilometer breit, bildet eine effektive geographische Trennlinie zwischen Nord- und Südame­rika, während die Regenwälder der Landenge von Dar­ién und die Wüste im Norden Mexikos ökologische Bar­rieren darstellen. So trennte die mexikanische Wüste die hochentwickelten Zivilisationen Mesoamerikas von de­nen Nordamerikas, während die Landenge von Pana­ma die mesoamerikanischen Zivilisationen von denen der Anden und des Amazonasgebiets abschnitt. Hinzu kommt, daß die geographische Hauptachse des ameri­kanischen Doppelkontinents in Nord-Süd-Richtung ver­läuft, so daß die Diffusion technischer Errungenschaften zum größten Teil nur unter Überwindung eines geogra­phischen (und klimatischen) Gefälles erfolgen konnte. Bis 3000 v. Chr. war zwar das Rad in Mesoamerika er­funden und das Lama in den Anden domestiziert, doch selbst 5000 Jahre später hatte noch immer keine Begeg­nung zwischen dem einzigen amerikanischen Lasttier und dem einzigen amerikanischen Rad stattgefunden, ob­gleich die Entfernung zwischen den Maya-Gesellschaften Mesoamerikas und der Nordgrenze des Inka-Reichs mit knapp 2000 km ein Katzensprung war, vergleicht man sie mit der zwischen Frankreich und China (rund 13000 km), die beide im Besitz von Rädern und Pferden waren. Ich denke, daß diese Faktoren den technischen Rückstand Amerikas im Vergleich zu Eurasien erklären.

Afrika südlich der Sahara ist als drittgrößte Landmas­se der Erde wiederum erheblich kleiner als Nord- und Südamerika. In der Menschheitsgeschichte war dieser geographische Raum von Eurasien aus fast immer we­sentlich leichter zugänglich als Amerika, wobei die Sa­hara jedoch stets eine bedeutende ökologische Barrie­re darstellte, die das subsaharische Afrika von Eurasien und Nordafrika trennte. Erschwert wurde die Diffusion neuer Techniken – sowohl zwischen Eurasien und Afrika südlich der Sahara als auch innerhalb dieses Raums – zu­dem durch Afrikas dominierende Nord-Süd-Achse. De­ren Wirkung als Barriere sei nur an einem Beispiel ver­deutlicht: Töpferei und Eisenverarbeitung traten in der afrikanischen Sahelzone (nördlich des Äquators) min­destens so früh in Erscheinung wie in Westeuropa. Bis ans südliche Ende Afrikas gelangte die Töpferei jedoch erst um das Jahr 1 n. Chr., und die Metallverarbeitung war auf dem Landweg noch nicht einmal so weit vorge­drungen, als sie von Europa aus mit Schiffen eintraf.

Australien ist der kleinste Kontinent. Die sehr gerin­gen Niederschlagsmengen und die Unfruchtbarkeit wei­ter Regionen lassen ihn, gemessen an seiner Tragkraft als Lebensgrundlage menschlicher Populationen, sogar noch schrumpfen. Zudem ist Australien der abgelegen­ste Kontinent, auf dem die Landwirtschaft nie unabhän­gig entstand. Die Kombination dieser Faktoren führte dazu, daß Australien bis in die jüngere Vergangenheit der einzige Kontinent blieb, wo Artefakte aus Metall unbekannt waren.

Tabelle 12.1 übersetzt diese Faktoren in Zahlen, indem sie die Kontinente in bezug auf ihre Fläche und ihre ge­genwärtige Bevölkerungsgröße miteinander vergleicht. Wir wissen nicht, wie viele Menschen vor 10 000 Jahren, also kurz vor dem Beginn der Landwirtschaft, auf den verschiedenen Kontinenten lebten. Man kann aber da­von ausgehen, daß zumindest die Reihenfolge gleich war, da viele der heute besonders fruchtbaren Regionen ver­mutlich auch vor 10 000 Jahren für Jäger und Sammler lohnende Reviere darstellten. Die Unterschiede in den Bevölkerungszahlen sind eklatant: Eurasien (mit Nord­afrika) hat fast sechsmal so viele Einwohner wie Nord­und Südamerika, nahezu achtmal so viele wie Afrika und 230mal so viele wie Australien. Mehr Menschen bedeu­ten auch mehr potentielle Erfinder und mehr konkurrie­rende Gesellschaften. Allein damit trägt Tabelle 12.1 ein gutes Stück zur Erklärung der politischen, militärischen und technischen Überlegenheit Eurasiens bei.

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Tabelle 12.1 Einwohnerzahl und Größe der Kontinente

All diese Folgen, die die Unterschiedlichkeit der Kon­tinente hinsichtlich Größe, Einwohnerzahl, vorhande­ner Diffusionshemmnisse und des Beginns der Land­wirtschaft für den Aufstieg der Technik hatte, wurden noch verstärkt durch deren autokatalytischen Charak­ter. Aus Eurasiens beträchtlichem Vorteil in den Anfän­gen erwuchs auf diese Weise bis zum Jahr 1492 n. Chr. ein gewaltiger Vorsprung – aus Gründen, die mit Eura­siens besonderer Geographie, nicht aber mit der beson­deren Geisteskraft seiner Bewohner zusammenhingen. Unter den Neuguineern, die ich persönlich kennenge­lernt habe, sind auch einige potentielle Edisons. Ihren Einfallsreichtum widmeten sie jedoch solchen Dingen, die ihrer Lebenssituation entsprachen: dem Problem des Überlebens ohne importierte ausländische Erzeugnis­se im Dschungel von Neuguinea – nicht der Erfindung von Phonographen.