KAPITEL 7

Äpfel oder Indianer

Warum es den Bewohnern mancher Regionen nicht gelang, Pflanzen zu domestizieren

Wir haben gerade erfahren, wie die Völker einiger Regionen begannen, Wildpflanzen zu kultivieren, und damit einen Schritt mit ebenso schwerwiegenden wie unabsehbaren Folgen für ihr Leben und den Platz ihrer Nachkommen in der Geschichte taten. Kehren wir nun zurück zu der Frage, warum die Landwirtschaft in einigen fruchtbaren, höchst geeigneten Regionen wie Kalifornien, Europa, Teilen Australiens mit gemäßigtem Klima und Afrika südlich des Äquators nicht unabhängig entstand, und weiter, warum sie in einigen der unabhängigen Entstehungszentren sehr viel früher in Erscheinung trat als in anderen.

Als Antwort bieten sich zwei gegensätzliche Erklärungen an: Schuld war entweder die örtliche Bevölkerung oder das örtliche Angebot an Wildpflanzen. Die eine Erklärung geht davon aus, daß in allen ausreichend bewässerten Gebieten der gemäßigten oder tropischen Breiten eine genügend große Zahl von Wildpflanzen, die sich zur Domestikation eignen, vorhanden sind. In diesem Fall wäre die Erklärung für die Nichtentstehung der Land­wirtschaft in einigen dieser Gebiete in kulturellen Eigen­schaften ihrer Bewohner zu suchen. Die andere Erklä­rung unterstellt, daß in jeder der großen Weltregionen wenigstens einige Menschen die Experimentierfreudig­keit besessen hätten, die zur Domestikation führte. Nur ein Fehlen geeigneter Pflanzenarten könnte dann er­klären, warum die Landwirtschaft in einigen Gebieten nicht auf den Plan trat.

Wie ich im nächsten Kapitel zeigen werde, ist das ent­sprechende Problem im Fall der Domestikation großer Säugetiere sehr viel einfacher zu lösen, was an der sehr geringen Zahl von Säugetier- im Vergleich zu Pflanzen­arten liegt. Auf der ganzen Welt gibt es nämlich nur etwa 148 Arten großer, wildlebender Landsäugetiere, die als Domestikationskandidaten prinzipiell in Betracht kom­men. Die Eignung einzelner Arten hängt von einer recht begrenzten Zahl von Faktoren ab. Deshalb kann für eine bestimmte Region ohne weiteres geprüft werden, ob die Nichtdomestikation dortiger Kandidaten womöglich auf das Fehlen geeigneter Arten anstatt auf irgendwelche Be­sonderheiten der örtlichen Vertreter der Spezies Mensch zurückzuführen ist.

Ein solches Vorgehen würde bei Pflanzen schon an der riesigen Artenzahl scheitern, gibt es doch nicht we­niger als 200 000 Arten von Blütenpflanzen, also jener in der Vegetation überwiegenden Gewächse, von denen die meisten unserer Kulturpflanzen abstammen. Es wäre ein aussichtsloses Unterfangen, alle Wildpflanzen selbst eines so begrenzten Gebiets wie Kalifornien untersuchen zu wollen, um zu beurteilen, wie viele von ihnen dome­stizierbar gewesen wären. Wir werden aber gleich sehen, wie sich dieses Problem umgehen läßt.

Angesichts der gewaltigen Zahl von Blütenpflanzen könnte einem zunächst der Gedanke kommen, daß bei solcher Überfülle jede Region mit einigermaßen mil­dem Klima mehr als genügend Arten aufweisen müß­te, um daraus eine Vielzahl von Kulturgewächsen zu züchten.

Man darf aber nicht vergessen, daß die allermeisten Wildpflanzen aus offenkundigen Gründen als Nah­rung nicht in Betracht kommen: Sie sind holzig, tragen keine eßbaren Früchte, und ihre Blätter und Wurzeln sind ebenfalls nicht genießbar. Von den rund 200 000 Wildpflanzenarten stehen nur wenige Tausend auf dem Speiseplan des Men schen, und nur einige Hundert da­von wurden mehr oder weniger domestiziert. Selbst von dieser relativ kleinen Zahl von Kulturpflanzen tragen die meisten nur unwesentlich zu unserer Ernährung bei und hätten allein kein ausreichendes Fundament für die Errichtung von Zivilisationen abgegeben. Über 80 Pro­zent der pflanzlichen Nahrung, die heute jährlich er­zeugt wird, entfällt auf ein bloßes Dutzend Arten. Dazu zählen Weizen, Mais, Reis, Gerste und Sorghum (Ge­treide), Sojabohnen (Hülsenfrüchte), Kartoffeln, Maniok und Süßkartoffeln (Wurzelknollen), Zuckerrohr, Zucker­rüben (Zuckerpflanzen) und Bananen (Obst). Über die Hälfte des Kalorienverbrauchs der Weltbevölkerung wird heute allein durch Getreide gedeckt. In Anbetracht einer so geringen Zahl bedeutender Kulturpflanzen, die aus­nahmslos schon vor Jahrtausenden domestiziert wurden, mag es nicht mehr ganz so überraschen, daß in vielen Regionen der Welt keine Wildpflanzen mit derart über­ragendem Potential als Nahrungspflanzen heimisch wa­ren. Daß in der Neuzeit keine einzige bedeutende An­baupflanze domestiziert wurde, legt den Schluß nahe, daß in vorgeschichtlicher Zeit schon praktisch sämtli­che für den Menschen nützlichen Wildpflanzen erkun­det und domestiziert wurden, sofern das eben möglich und lohnend war.

Dennoch gibt es einige Fälle, in denen schwer zu er­klären ist, warum bestimmte Wildpflanzen nicht dome­stiziert wurden. Am auffälligsten sind jene, wo bestimm­te Pflanzen in einem Gebiet domestiziert wurden, in ei­nem anderen jedoch nicht. In diesen Fällen steht außer Zweifel, daß es möglich war, aus den betreffenden Wild­pflanzen nützliche Anbaugewächse zu züchten, so daß wir fragen müssen, warum die Domestikation in man­chen Gebieten nicht stattfand.

Ein solches Rätsel gibt uns Afrika auf. Sorghum, eine wichtige Getreidepflanze, wurde in der Sahelzone südlich der Sahara domestiziert. Die Wildform kommt auch wei­ter südlich vor und ist selbst im südlichen Afrika heimisch, wo jedoch weder Sorghum noch irgendeine andere Pflan­ze kultiviert wurde, bis vor 2000 Jahren die Bantu-Bauern aus den Gebieten nördlich des Äquators ihr komplettes Bündel von Anbaupflanzen mitbrachten. Warum, so fragt man sich, kamen die Völker des südlichen Afrika nicht von selbst auf die Idee, Sorghum zu domestizieren?

Nicht minder rätselhaft ist das Ausbleiben der Do­mestikation von Flachs in seinem natürlichen Verbrei­tungsgebiet in Westeuropa und Nordafrika oder von Ein­kornweizen in seinem Verbreitungsgebiet im südlichen Balkan. Da beide Pflanzen unter den ersten acht Kul­turpflanzen des Fruchtbaren Halbmonds waren, zählten sie vermutlich zu den besonders leicht domestizierba­ren Wildpflanzen. Außerhalb Vorderasiens wurden sie als Anbaupflanzen erst übernommen, als sie zusammen mit dem gesamten Ensemble landwirtschaftlicher Tech­niken aus Vorderasien eintrafen. Warum hatten die Völ­ker dieser Regionen mit ihrem Anbau nicht schon frü­her aus eigenem Antrieb begonnen?

Ein ähnliches Beispiel betrifft die vier ältesten dome­stizierten Obstgewächse Vorderasiens, deren natürliche Verbreitungsgebiete weit über den östlichen Mittelmeer­raum, wo sie dem Anschein nach zuerst domestiziert wurden, hinausreichten: Oliven, Weinbeeren und Feigen waren auch in Italien, Spanien und Nordwestafrika hei­misch, während die Dattelpalme in ganz Nordafrika und Arabien wuchs. Diese vier zählten offensichtlich zu den am leichtesten domestizierbaren Fruchtbäumen. Warum wurden sie außerhalb Vorderasiens nicht ebenfalls do­mestiziert, sondern erst angebaut, nachdem sie im öst­lichen Mittelmeerraum domestiziert und von dort als fertige Kulturgewächse importiert worden waren?

Weitere krasse Beispiele sind Wildpflanzen, die in Ge­bieten, in denen sich die Landwirtschaft nicht von selbst entwickelte, nie domestiziert wurden, obwohl aus en­gen Verwandten dieser Arten anderswo erfolgreich Kul­turpflanzen gezüchtet wurden. So wurde beispielsweise im östlichen Mittelmeerraum die Olivenart Olea euro­pea domestiziert. Im tropischen und südlichen Afrika, in Südasien und Ostaustralien kommen etwa 40 ande­re Olivenarten vor, die zum Teil eng mit der Olea euro­pea verwandt sind, von denen jedoch keine einzige je­mals domestiziert wurde. Ein ähnliches Beispiel handelt von Äpfeln und Weinbeeren. In Eurasien wurde je eine Apfel- und eine Weinbeerenart domestiziert. Zahlrei­che verwandte Apfel- und Weinbeerenarten kommen in Nordamerika vor, und einige von ihnen wurden auch in jüngerer Vergangenheit mit ihren domestizierten eu­rasischen Pendants gekreuzt, um wertvollere Sorten zu gewinnen. Warum aber hatten die nordamerikanischen Indianer diese doch offenbar nützlichen Gewächse nicht selbst domestiziert?

Die Reihe derartiger Beispiele ließe sich endlos fort­setzen. Die Sache hat aber einen entscheidenden Ha­ken: Man darf sich die Pflanzendomestikation nicht so vorstellen, daß Jäger und Sammler eine einzige Pflanze domestizierten und ansonsten ihr Nomadenleben fort­setzten. Nehmen wir einmal an, aus den nordamerika­nischen Wildäpfeln wäre eine erstklassige Kulturpflanze geworden, wenn die örtlichen Jäger und Sammler seß­haft geworden wären und Apfelbäume kultiviert hät­ten. Aber nomadische Jäger und Sammler hätten ihre bisherige Lebensweise wohl kaum aufgegeben, um sich in Dörfern niederzulassen und Apfelgärten zu bestel­len, wenn nicht eine ganze Reihe weiterer domestizier­barer Wildpflanzen und -tiere verfügbar gewesen wären.

Erst dann hätte eine seßhafte bäuerliche Lebensweise womöglich Vorteile gegenüber der Jagd- und Sammel­wirtschaft gehabt.

Kurzum, wie beurteilt man das Domestikationspoten­tial der gesamten Flora einer Region? Im Fall der India­ner, die keine Äpfel domestizierten, lautet die Frage: Lag das Problem bei ihnen oder vielmehr bei den Äpfeln?

Um dieser Frage nachzugehen, wollen wir nun drei Regionen vergleichen, die unter den Zentren unabhän­giger Domestikation geographisch am weitesten ausein­anderliegen. Wie wir sahen, war eine von ihnen, der Be­reich des Fruchtbaren Halbmonds, wahrscheinlich das früheste Zentrum der Landwirtschaft und Ursprungsort einiger der wichtigsten Anbaupflanzen der Gegenwart sowie fast sämtlicher wichtiger Haustiere. In Neuguinea und im Osten der heutigen USA, den beiden anderen Regionen, wurden zwar örtlich vorkommende Pflanzen domestiziert, doch ihre Zahl war sehr gering, und nur eine von ihnen erlangte weltweite Bedeutung, so daß das daraus geschnürte Nahrungspaket nicht als Grundla­ge einer umfassenden technischen und politischen Ent­wicklung wie in Vorderasien taugte. Im Licht dieses Ver­gleichs werden wir fragen, ob Pflanzenwelt und Umwelt in Vorderasien eindeutige Vorteile gegenüber Neugui­nea und dem Osten der USA besaßen.

Einer der zentralen Tatbestände der Menschheitsge­schichte ist die frühe Bedeutung eines Teils Vorderasi­ens, der wegen des sichelförmigen Verlaufs seiner Ge­birgszüge den Namen »Fruchtbarer Halbmond« trägt (Abbildung 7.1). Diese Region war offenbar die älteste Stätte einer ganzen Kette von Entwicklungen; so ent­standen dort Städte, die Schrift, Reiche und das, was wir (im negativen oder positiven Sinne) »Zivilisation« nennen. Voraussetzung all dieser Entwicklungen waren große Siedlungsdichte, die Erwirtschaftung und Spei­cherung von Nahrungsüberschüssen und das »Durch­füttern« von nicht in der Landwirtschaft tätigen Spezia­listen, ermöglicht durch das Aufkommen von Ackerbau und Viehzucht. Die Landwirtschaft war die erste die­ser bedeutenden Neuerungen in Vorderasien. Deshalb muß jeder Versuch, die Ursprünge der modernen Welt zu verstehen, auch Antwort auf die Frage geben, warum die in Vorderasien domestizierten Pflanzen und Tiere dieser Region zu einem so gewaltigen Entwicklungs­vorsprung verhalfen.

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Abbildung 7.1 Fruchtbarer Halbmond – der Teil Vorderasiens, in dem in verschiedenen Gebieten schon vor 7 000 v. Chr. Land wirtschaft betrieben wurde

Glücklicherweise ist die Entstehung der Landwirt­schaft im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds unter al­len Regionen der Erde mit Abstand am gründlichsten untersucht worden. Für die meisten Anbaupflanzen, die dort oder in benachbarten Gebieten domestiziert wur­den, konnten die wildwachsenden Vorfahren ermittelt werden; ihre enge Verwandtschaft wurde durch gene­tische Untersuchungen nachgewiesen; ihr natürliches Verbreitungsgebiet ist bekannt; ihre Veränderungen im Zuge der Domestikation wurden bestimmt und konn­ten oft einzelnen Genen zugeordnet werden; die Verän­derungen sind in übereinanderliegenden Schichten von Ausgrabungsstätten zu beobachten; und schließlich sind auch in etwa Ort und Zeitpunkt der Domestikation be­kannt. Ich will nicht abstreiten, daß andere Gebiete, vor allem China, ebenfalls Vorteile als Stätte früher Dome­stikation besaßen. Am detailliertesten belegt sind die­se Vorteile und die aus ihnen resultierende Entstehung von Anbaupflanzen jedoch für Vorderasien.

Einer der Vorteile des Fruchtbaren Halbmonds ist sei­ne Lage inmitten einer mediterranen Klimazone, sprich einem Gebiet mit milden, feuchten Wintern und lan­gen, heißen, trockenen Sommern. Unter solchen klima­tischen Bedingungen gedeihen vor allem Pflanzen, die in der Lage sind, die lange Trockenzeit zu überdauern und bei Wiederkehr des Regens schnell aus der Erde zu sprießen. Viele Pflanzen Vorderasiens, insbesonde­re Gräser und Hülsenfrüchte, paßten sich an diese Be­dingungen in einer für den Menschen nützlichen Weise an: Es waren einjährige Pflanzen, die in der Trockenzeit austrocknen und absterben.

Innerhalb ihrer auf ein Jahr beschränkten Lebensspan­ne bleiben einjährige Pflanzen zwangsläufig kleinwüch­sig. Viele investieren ihre Energie statt in hochschießen­des Wachstum in die Ausbildung großer Samenkörner, die während der Trockenzeit im Ruhezustand verhar­ren und bei einsetzendem Regen zu sprießen beginnen. Einjährige Pflanzen verwenden mithin, anders als Bäu­me und Büsche, wenig Energie auf die Erzeugung von Holz und faserigen Stengeln. Dagegen sind viele der gro­ßen Samenkörner, insbesondere von einjährigen Getrei­dearten und Hülsenfrüchten, für Menschen genießbar. Sie stellen sechs der zwölf wichtigsten Anbaupflanzen der Gegenwart dar. Wer indes in waldreicher Umge­bung lebt, wird beim Blick aus dem Fenster bemerken, daß die meisten Pflanzenarten vor seinen Augen Bäu­me und Sträucher sind, die nur einen geringen Teil ih­rer Energie in eßbare Samen umwandeln. Zwar gibt es in Gebieten mit feuchtem Klima durchaus Bäume, die große, eßbare Samen hervorbringen, doch diese besit­zen nicht die nötige Anpassung, um lange Trockenzei­ten unbeschadet zu überstehen, und sind deshalb auch für eine längere Aufbewahrung durch den Menschen ungeeignet.

Ein zweiter Vorteil, den die Flora Vorderasiens gegen­über anderen Regionen besaß, lag darin, daß die wild­wachsenden Vorfahren vieler dortiger Kulturpflanzen bereits weit verbreitet und sehr ertragreich waren, so daß ihr Nutzen den örtlichen Sammlern kaum verborgen bleiben konnte. In experimentellen Studien, bei denen Botaniker etwa so, wie es Sammler vor über 10 000 Jah­ren getan haben mögen, Samen von natürlichem Wild­getreide ernteten, konnte gezeigt werden, daß jährliche Erträge von bis zu einer Tonne Samen pro Hektar mög­lich sind – das entspricht 50 Kilokalorien Nahrungsen­ergie bei einem Energieeinsatz von nur einer Kiloka­lorie. Indem sie große Mengen Wildgetreide innerhalb eines kurzen Zeitraums nach der Samenreife ernteten und anschließend als Nahrungsreserve für den Rest des Jahres lagerten, wurden einige Jäger- und Samm­lervölker Vorderasiens schon zu seßhaften Dorfbewoh­nern, noch bevor sie damit begannen, selbst Pflanzen zu kultivieren.

Da die Getreidearten Vorderasiens schon in ihren Wildformen ertragreich waren, bedurfte es zu ihrer Do­mestikation nur geringfügiger Veränderungen. Wie im vorigen Kapitel erörtert, stellten sich die wichtigsten da­von – der Verlust der natürlichen Samenverbreitungs­mittel und des Keimverzugs – automatisch und binnen kurzer Zeit ein, nachdem Menschen damit begonnen hatten, die Samen auf Feldern zu säen. Die wildwach­senden Vorfahren von Weizen und Gerste sehen unse­ren heutigen Getreidesorten so ähnlich, daß nie Zweifel hinsichtlich der Abstammung aufkamen. Da ihre Do­mestikation so einfach war, befanden sich großsamige einjährige Pflanzen unter den ersten Anbaugewächsen, die nicht nur in Vorderasien, sondern auch in China und in der Sahelzone Bedeutung erlangten.

Man vergleiche einmal diese rasche Evolution von Weizen und Gerste mit dem Aufstieg von Mais, der wich­tigsten Getreidepflanze der Neuen Welt. Der vermute­te Maisvorfahr, eine Wildpflanze namens Teosinte, un­terscheidet sich in Samen und Blütenbau so sehr von Mais, daß unter Botanikern lange umstritten war, ob Mais überhaupt von Teosinte abstammt. Der Wert dieser Pflanze als Nahrungslieferant dürfte Jäger und Samm­ler kaum sonderlich beeindruckt haben: Sie war in frei­er Natur nicht halb so ertragreich wie Wildweizen, pro­duzierte viel weniger Samenkörner als der spätere Mais, und ihre Samen waren in harten, ungenießbaren Schalen verborgen. Damit aus Teosinte ein nützliches Anbauge­wächs werden konnte, mußte sich ihre Reproduktions­biologie grundlegend ändern, ihre Samen mußten viel größer werden, und die harten Schalen um die Körner mußten verschwinden. Unter Archäologen wird immer noch lebhaft darüber debattiert, wie viele Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende wohl vergingen, bis die anfangs winzigen Maiskolben auch nur daumengroß waren. Klar erscheint indessen, daß es weitere Jahrtausende dauer­te, bis Maiskolben von heutiger Größe geerntet werden konnten. Diese Diskrepanz zwischen den natürlichen Vorzügen von Weizen und Gerste und den Schwierig­keiten bei der Domestikation von Teosinte waren wo­möglich von entscheidender Bedeutung für die unter­schiedliche Entwicklung der Gesellschaften in Eurasien und der Neuen Welt.

Ein dritter Vorteil der Pflanzenwelt Vorderasiens be­steht darin, daß sie einen hohen Prozentsatz zwittriger Selbstbestäuber aufweist, das heißt von Pflanzen, die sich normalerweise selbst befruchten, wobei gelegentli­che Kreuzbefruchtungen möglich sind. Wie schon er­wähnt, sind die meisten Wildpflanzen entweder regel­mäßig kreuzbefruchtete Zwitter oder sie treten in ge­trennter männlicher und weiblicher Form auf und sind auf gegenseitige Bestäubung angewiesen. Diese Fakten der Reproduktionsbiologie stellten frühzeitliche Bauern vor große Probleme, da immer dann, wenn sie einen er­tragreichen Mutanten entdeckt hatten, dessen Nachkom­men die geerbten Vorzüge durch Kreuzung mit ande­ren Pflanzen wieder verloren. Nicht zuletzt war dies der Grund, warum die meisten Kulturpflanzen zu dem ge­ringen Prozentsatz von Wildpflanzen gehören, die ent­weder selbstbestäubende Zwitter sind oder sich durch ungeschlechtliche Fortpflanzung vermehren (z. B. durch Bildung genetischer Doppelgänger aus den Wurzeln ei­ner Mutterpflanze). Der hohe Anteil zwittriger Selbstbe­stäuber an der Pflanzenwelt Vorderasiens stellte deshalb einen Vorteil für frühe Bauern dar, bedeutete er doch, daß ein hoher Prozentsatz der Wildpflanzen eine für den Menschen günstige Reproduktionsbiologie besaß.

Ein weiterer Vorteil von Selbstbestäubern lag darin, daß es bei ihnen von Zeit zu Zeit zu Kreuzbefruchtungen kam, wobei neue Sorten entstanden, unter denen dann ausgewählt werden konnte. Die gelegentlichen Kreuzbefruchtungen beschränkten sich nicht auf Pflanzen der gleichen Art, sondern bezogen auch verwandte Arten mit ein. Eine solche Artenkreuzung unter den Selbstbe­stäubern Vorderasiens brachte zum Beispiel den Brot­weizen hervor, eine der wertvollsten Anbaupflanzen der Gegenwart.

Die ersten acht bedeutenden Anbaupflanzen, die in Vorderasien domestiziert wurden, waren ausnahmslos Selbstbestäuber. Von den drei Getreidearten darunter – Einkornweizen, Emmerweizen und Gerste – besaßen die beiden Weizensorten den zusätzlichen Vorteil eines hohen Eiweißgehalts (8–14 Prozent). Demgegenüber hat­ten die bedeutendsten Getreidepflanzen Ostasiens und der Neuen Welt – Reis und Mais – den Nachteil eines geringeren Eiweißgehalts.

Damit sind einige der Vorteile genannt, die Vordera­siens Pflanzenwelt für die ersten Bauern bereithielt: Sie wies einen ungewöhnlich hohen Anteil von Wildpflan­zen auf, die sich zur Domestikation eigneten. Die me­diterrane Klimazone, in der Vorderasien liegt, erstreckt sich jedoch nach Westen über einen großen Teil Euro­pas und den Nordwesten Afrikas. Überdies weisen vier andere Regionen der Welt ebenfalls Zonen mit mediter­ranem Klima auf: Kalifornien, Chile, Südwestaustrali­en und Südafrika (Abbildung 7.2). Diese anderen Re­gionen waren aber nicht nur keine frühen Stätten der Landwirtschaft, sondern zählten überhaupt nicht zu den Orten, an denen sie unabhängig entstand. Was unter­schied jene mediterrane Klimazone im Westen Eurasi­ens von allen anderen?

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Abbildung 7.2 Die mediterranen Klimazonen der Welt

Wie sich herausstellt, hatte sie, und insbesondere ihr vorderasiatischer Teil, mindestens fünf Vorteile gegen­über anderen mediterranen Klimazonen. Erstens be­sitzt das westliche Eurasien bei weitem die größte Zone mit mediterranem Klima und weist deshalb eine viel größere pflanzliche und tierische Artenvielfalt auf als die vergleichsweise winzigen mediterranen Klimazo­nen Südwestaustraliens und Chiles. Zweitens sind die Klimaverhältnisse in Vorderasien von allen mediterra­nen Klimazonen am extremsten, mit starken Schwan­kungen zwischen den Jahreszeiten, aber auch von Jahr zu Jahr. Diese Schwankungen begünstigten die Evolu­tion einjähriger Pflanzen, deren Anteil in diesem Raum besonders hoch ist. Die Kombination dieser ersten bei­den Faktoren – große Artenvielfalt plus hohem Anteil einjähriger Pflanzen – führte dazu, daß die mediterra­ne Klimazone im westlichen Eurasien von allen Regio­nen der Welt mit Abstand die größte Vielfalt einjähri­ger Pflanzen aufweist.

Die Bedeutung dieser reichen botanischen Ausstat­tung für den Menschen wird durch die Untersuchun­gen des Geographen Mark Blumler über die Verbrei­tung von Wildgräsern veranschaulicht. Unter den Tau­senden von Wildgräsern, die auf der Welt vorkommen, ermittelte Blumler die »Crème de la crème«, sprich die 56 Arten mit den größten Samen (mindestens zehnmal schwerer als der Durchschnitt aller Gräser), und faßte sie übersichtlich zusammen (siehe Tabelle 7.3). Wie sich zeigte, sind fast alle in mediterranen Klimazonen oder anderen Regionen mit periodischen Trockenzeiten hei­misch. Außerdem ergab sich eine überwältigende Häu­fung im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds und in anderen Teilen der mediterranen Klimazone des west­lichen Eurasien, so daß angehende Bauern dort eine rie­sige Auswahl unter etwa 32 der 56 großsamigsten Wild­gräser vorfanden! Zu erwähnen sind insbesondere Ger­ste und Emmerweizen, die beiden ältesten bedeutenden Kulturpflanzen Vorderasiens, die unter den 56 führen­den Gräsern die Plätze 3 und 15 einnehmen. Demgegen­über fanden sich in der mediterranen Klimazone Chiles nur zwei dieser Arten, in Kalifornien und im südlichen Afrika nur jeweils eine und in Südwestaustralien über­haupt keine. Diese Tatsache allein ist schon von großer Tragweite für den Lauf der Geschichte.

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Mark Blumler führt in seiner Doktorarbeit mit dem Titel »Seed Weight and Environment in Mediterranean­type Grasslands in California and Israel« (University of California, Berkeley, 1992) in Tabelle 12.1 die 56 Wildgräser mit den schwersten Samenkör­nern (Bambus nicht mitgerechnet) auf, für die Daten vorlagen. Das Gewicht der Körner reichte bei den untersuchten Arten von 10 mg bis über 40 mg – das entspricht etwa dem Zehnfachen des mittleren Gewichts der Samenkörner aller Grasarten der Welt. Jene 56 Arten stellen weniger als ein Prozent aller Grasarten dar. Die obige Tabelle zeigt, daß sich diese »Supergräser« stark auf die mediterrane Zone des westlichen Eurasien konzentrieren.

Tabelle 7.1 Verbreitung großsamiger Gräser auf der Welt

Ein dritter Vorteil der mediterranen Klimazone in Vorderasien besteht in ihrer vielfältigen Topographie und den vielen verschiedenen Höhenlagen in geringer Ent­fernung voneinander. Das Spektrum reicht vom Toten Meer, dem niedrigsten Punkt der Erde, bis zu den über 5000 Meter hohen Berggipfeln unweit Teherans, mit der Folge, daß innerhalb kurzer Distanzen sehr unterschied­liche Umweltbedingungen herrschen, was wiederum zu einer großen Vielfalt von Wildpflanzen, den potentiellen Vorfahren unserer Kulturpflanzen, beitrug. Nicht weit von jenen steilen Berghängen liegen sanfte Flachland­zonen mit Flüssen, Überschwemmungsebenen und Wü­sten, die durch Bewässerung fruchtbar gemacht werden konnten. Im Gegensatz hierzu herrscht in den mediter­ranen Klimazonen vor allem Südwestaustraliens, aber auch Südafrikas und Westeuropas weniger Abwechs­lungsreichtum in puncto Höhenlagen, Lebensräume und topographische Gegebenheiten.

Eine Folge der vielfältigen Höhenlagen im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds waren gestaffelte Erntezeiten: Die Samen von Pflanzen, die in höheren Lagen wuch­sen, wurden etwas später reif als die in tieferen Lagen. Sammler konnten deshalb bequem bergan ziehen und in jeder Höhenlage die gerade reif gewordenen Getrei­dekörner ernten, statt sich einem Meer von Gräsern mit gleichzeitig reifenden Körnern gegenüberzusehen, die gar nicht auf einmal zu bewältigen waren. Der Übergang zum Getreideanbau war dann gar nicht mehr so ein gro­ßer Schritt. Die ersten Ackerbauern brauchten bloß die Samen von Wildgetreide zu ernten, das an Berghängen wuchs, wo es auf unberechenbare Regenfälle angewie­sen war, und diese dann in den feuchten Tälern auszu­säen, damit sie dort, bei verringerter Abhängigkeit von Regenfällen, unter Aufsicht gedeihen konnten.

Mit der biologischen Vielfalt Vorderasiens auf engem Raum hängt auch ein vierter Vorteil zusammen: der Reichtum dieser Region nicht nur an Vorfahren wert­voller Kulturpflanzen, sondern auch an Vorfahren do­mestizierter Säugetiere. Wie wir sehen werden, kamen in den mediterranen Klimazonen Kaliforniens, Chiles, Südwestaustraliens und Südafrikas nur wenige oder gar keine Säugetierarten vor, die zur Domestikation geeig­net waren. Demgegenüber wurden in Vorderasien vier Arten – Ziege, Schaf, Schwein und Rind – schon sehr früh domestiziert, vielleicht früher als irgendein ande­res Tier an irgendeinem Ort der Welt (mit Ausnahme des Hundes). Diese vier Arten zählen noch heute zu den fünf wichtigsten Haustierarten (Kapitel 8). Ihre haupt­sächlichen Verbreitungsgebiete lagen jedoch in verschie­denen Bereichen des Fruchtbaren Halbmonds, was dazu führte, daß sie auch an verschiedenen Orten domesti­ziert wurden: das Schaf wahrscheinlich im inneren Teil, die Ziege entweder in höhergelegenen Gebieten des öst­lichen Teils (iranisches Sagros-Gebirge) oder im Südwe­sten (Levante), das Schwein im nördlichen inneren Teil und das Rind im westlichen Teil einschließlich Anato­liens. Doch obwohl die Verbreitungsgebiete dieser vier ursprünglichen Vorfahren unserer Haustiere nicht iden­tisch waren, lagen sie doch dicht genug beieinander, um nach erfolgter Domestikation einen Austausch zu er­möglichen, so daß am Ende alle vier Arten in der gan­zen Region anzutreffen waren.

Der Aufstieg der Landwirtschaft in Vorderasien wur­de durch die Domestikation von acht Anbaugewächsen ausgelöst, die wir als »Gründerpflanzen« bezeichnen (da sie die Landwirtschaft in der Region und vielleicht auf der ganzen Welt begründeten). Zu diesen acht Pflanzen zählten drei Getreidearten (Emmerweizen, Einkornwei­zen, Gerste), vier Hülsenfrüchte (Linse, Erbse, Kicher­erbse, Linsenwicke) und eine Faserpflanze (Flachs). Nur zwei der acht Gründerpflanzen, Flachs und Gerste, kom­men in größerem Umfang auch außerhalb des Fruchtba­ren Halbmonds und Anatoliens vor. Zwei weitere hatten ein sehr kleines natürliches Verbreitungsgebiet: Kicher­erbsen wuchsen nur im Südosten der Türkei und Em­merweizen nur im eigentlichen Gebiet des Fruchtba­ren Halbmonds. Die entstehende Landwirtschaft konnte sich also auf die Domestikation heimischer Wildpflan­zen stützen und war nicht auf den »Import« von Kul­turpflanzen angewiesen. Außerdem konnten zwei der acht Gründerpflanzen nirgendwo anders domestiziert werden, da sie außer in Vorderasien nirgendwo auf der Welt heimisch waren.

Die Existenz geeigneter Wildtiere und -pflanzen ver­setzte die frühen Bewohner Vorderasiens in die Lage, innerhalb kurzer Zeit ein vielversprechendes und aus­gewogenes Bio-Paket zu schnüren, das eine intensive Landwirtschaft ermöglichte. Es bestand aus drei Getreide­arten als Hauptlieferanten von Kohlehydraten, vier Ar­ten von Hülsenfrüchten mit 20–25 Prozent Eiweißge­halt und vier Haustierarten als Hauptlieferanten von Eiweiß, ergänzt durch den hohen Eiweißgehalt des Wei­zens, und Flachs als Faser- und Öllieferant (Leinsamen, wie die Flachssaat genannt wird, bestehen zu 40 Pro­zent aus Öl). Einige Tausend Jahre später wurden Tiere auch zur Gewinnung von Milch und Wolle, zum Pflü­gen von Feldern und als Transportmittel genutzt. Damit deckten die Anbaupflanzen und Tiere der ersten bäu­erlichen Kulturen Vorderasiens schließlich die gesam­ten wirtschaftlichen Grundbedürfnisse des Menschen nach Kohlehydraten, Eiweiß, Fett, Kleidung, Zugkraft und Fortbewegungsmitteln.

Ein letzter Vorteil der frühen Landwirtschaft im Be­reich des Fruchtbaren Halbmonds bestand darin, daß die Jagd- und Sammelwirtschaft dort möglicherweise weni­ger konkurrenzfähig war als in manchen anderen Regio­nen, so auch des westlichen Mittelmeerraums. Vorder­asien hat nur wenige große Flüsse, und auch die Küste ist verhältnismäßig kurz, so daß die Möglichkeit, den Speiseplan mit Fischen und Schalentieren anzureichern, eher gering war. Eine wichtige Säugetierart, die wegen ihres Fleischs gejagt wurde, die Gazelle, kam ursprüng­lich in riesigen Herden vor, wurde aber parallel zum An­wachsen der menschlichen Bevölkerung stark dezimiert, bis nur noch ein kleiner Restbestand übrig war. So dau­erte es nicht lange, bis die Landwirtschaft der Jagd- und Sammelwirtschaft überlegen war. Feste Dorfsiedlungen existierten zudem schon vor dem Aufkommen von Ackerbau und Viehzucht, so daß der Übergang zur Land­wirtschaft für die Jäger und Sammler der Region nahe­liegender war als anderswo. In Vorderasien vollzog sich der Übergang innerhalb einer relativ kurzen Zeitspanne: Wurden noch um 9000 v. Chr. weder Pflanzen angebaut noch Haustiere gehalten, so waren einige Gesellschaf­ten schon um 6000 v. Chr. vollständig auf domestizier­te Pflanzen und Tiere angewiesen.

Ganz anders war die Situation in Mesoamerika: Dort gab es nur zwei domestizierbare Tiere (Truthahn und Hund), die obendrein sehr viel bescheidenere Fleischlie­feranten waren als Rinder, Schafe, Ziegen und Schwei­ne, und die wichtigste Getreideart, Mais, ließ sich, wie schon erwähnt, schwer domestizieren und womöglich auch nur sehr langsam durch Züchtung verändern. All dies führte dazu, daß die Domestikation in Mesoameri­ka wahrscheinlich erst um 3500 v. Chr. begann (der ge­naue Zeitpunkt ist noch umstritten); feste Dorfsiedlun­gen entstanden sogar erst um 1500 v. Chr.

Bei der gesamten bisherigen Erörterung der Vorzüge, die Vorderasien im Hinblick auf die frühe Entstehung der Landwirtschaft besaß, mußten wir kein einziges Mal ir­gendwelche vermeintlichen Vorzüge der Bewohner dieser Region ins Feld führen. Mir ist auch niemand bekannt, der ernsthaft behaupten würde, daß die Völker Vordera­siens bestimmte biologische Eigenschaften besaßen, die zum Erfolg ihres Bündels von Anbaupflanzen und Haus­tieren beigetragen haben könnten. Vielmehr haben wir gesehen, daß zahlreiche Einzelmerkmale des Klimas, der Umwelt, der Pflanzen- und Tierwelt Vorderasiens zu­sammen eine überzeugende Erklärung liefern.

Da die Kombinationen aus Kulturpflanzen und Haus­tieren, die sich in Neuguinea und im Osten der USA entwickelten, bei weitem nicht so effektiv waren wie in Vorderasien, könnte man vielleicht auf die Idee kom­men, daß die dortigen Völker die Schuld daran trugen. Bevor wir uns näher mit den beiden Regionen beschäf­tigen, müssen wir uns mit zwei Fragen auseinanderset­zen, die sich für alle Gebiete der Welt stellen, in denen die Landwirtschaft entweder gar nicht unabhängig ent­stand oder wo weniger hochkarätige Bündel aus An­baupflanzen und Haustieren geschnürt wurden. Die er­ste Frage lautet, ob Jäger und Sammler und angehende Bauern alle örtlichen Wildpflanzen und ihre mögliche Verwendung wirklich gut kennen oder ob sie potentielle Vorfahren wertvoller Anbaupflanzen übersehen haben könnten. Falls ersteres zuträfe, würde die zweite Frage lauten, ob sie ihr Wissen auch tatsächlich zur Domesti­kation der nützlichsten Arten einsetzen oder ob kulturelle Faktoren sie daran hindern.

Was die erste Frage betrifft, widmet sich eine gan­ze Wissenschafts disziplin, die Ethnobiologie, der Er­forschung der Wissensbestände verschiedener Völker über die Flora und Fauna ihrer jeweiligen Umgebung. Schwerpunkt dieser Studien sind und waren in erster Linie die wenigen überlebenden Jäger- und Sammlervöl­ker der Erde sowie bäuerliche Gesellschaften, in denen Nahrung aus der Natur noch immer eine wichtige Rolle spielt. Die Untersuchungen kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, daß die Angehörigen dieser Völker geradezu wandelnde biologische Lexika sind, mit Na­men (in der jeweiligen Sprache) für bis zu tausend oder mehr Pflanzen- und Tierarten und präzisem Wissen über die biologischen Merkmale jeder Art, ihre Verbreitung und möglichen Verwendungszwecke. Nimmt im Lau­fe der Geschichte die Abhängigkeit von domestizierten Pflanzen und Tieren ab, verlieren diese traditionellen Kenntnisse langsam an Wert und gehen verloren. Am Ende der Entwicklung steht der moderne Supermarkt­besucher, der in der Natur ein Wildgras nicht von einer Hülsenfrucht unterscheiden kann.

Ich will ein typisches Beispiel geben. In den letzten 33 Jahren, in denen ich in Neuguinea immer wieder biolo­gische Studien durchgeführt habe, war ich bei der For­schungsarbeit ständig in Begleitung von Neuguineern, für die Wildpflanzen und -tiere noch heute eine große Rolle spielen. Eines Tages, als ich mit meinen Gefähr­ten vom Foré-Stamm im Dschungel ohne Nahrung fest­saß, weil ein anderer Stamm uns den Rückweg zu unse­rem Lebensmitteldepot versperrte, kehrte ein Foré-Mann mit einem großen Rucksack voller Pilze, die er gesam­melt hatte, zum Lager zurück und fing an, sie zu braten. Endlich wieder eine Mahlzeit! Doch dann kam mir ein beunruhigender Gedanke in den Sinn: Was, wenn die Pilze giftig waren? Geduldig erläuterte ich meinen Foré-Freunden, ich hätte gelesen, daß einige Pilzarten giftig seien, daß selbst einige amerikanische Pilzkenner gestor­ben seien, weil es so schwierig sei, Speise- von Giftpil­zen zu unterscheiden, und daß es sich nicht lohne, das Risiko einzugehen, auch wenn wir alle noch so hung­rig seien. An diesem Punkt wurden meine Gefährten ärgerlich und bedeuteten mir, ich solle ihnen jetzt ein­mal zuhören, sie würden mir gern einige Dinge klarma­chen. Wie konnte ich sie, nachdem ich sie jahrelang über die Namen Hunderter von Bäumen und Vögeln ausge­fragt hatte, jetzt so beleidigen, indem ich unterstellte, sie wüßten nicht die Unterschiede zwischen verschiedenen Pilzarten? Nur Amerikaner könnten so dumm sein, gif­tige mit eßbaren Pilzen zu verwechseln. Dann hielten sie mir noch Vorträge über 29 Arten von Speisepilzen, nannten für jede den Namen in der Foré-Sprache und erläuterten, wo man im Dschungel am besten nach ih­nen suchen sollte. Der Pilz, der die Diskussion ausge­löst hatte, hieß Tánti, wuchs auf Bäumen und war be­sonders schmackhaft und absolut ungiftig.

Jedesmal, wenn ich Neuguineer auf Reisen in andere Teile ihrer Insel mitnehme, unterhalten sie sich häufig mit anderen Neuguineern, die uns begegnen, über die örtli­che Natur und pflücken potentiell nützliche Pflanzen, um sie mit in ihre Heimatdörfer zu nehmen und dort ver­suchsweise anzupflanzen. Meine Erfahrungen mit Neu­guineern decken sich mit denen von Ethnobiologen, die Völker mit traditioneller Lebensweise in anderen Regio­nen studiert haben. All diese Völker betreiben jedoch wenigstens in gewissem Umfang schon Landwirtschaft beziehungsweise sind die teilweise akkulturierten letzten Vertreter der alten Jäger- und Sammlerkulturen der Welt. Vor dem Aufstieg der Landwirtschaft, als alle Erdbewoh­ner noch ausschließlich von dem lebten, was ihnen die Natur bot, war das Wissen über wilde Arten vermutlich noch viel umfassender. Die ersten Bauern waren Erben dieses Wissensschatzes, den im Laufe von Jahrzehntau­senden Menschen, die in enger Gemeinschaft mit der Natur lebten, angehäuft hatten. Ich halte es deshalb für ausgesprochen unwahrscheinlich, daß potentiell nützli­che Arten ihrer Aufmerksamkeit entgangen sind.

Die zweite, mit der ersten eng verknüpfte Frage lau­tet, ob vorgeschichtliche Sammler und Ackerbauern ihr ethnobiologisches Wissen bei der Auswahl und späteren Kultivierung geeigneter Wildpflanzen praktisch umsetz­ten. Eine Möglichkeit, dieser Frage nachzugehen, bie­tet die archäologische Fundstätte Tell Abu Hureyra am Rande des Euphrattals in Syrien. Zwischen 10000 und 9000 v. Chr. lebte die dortige Bevölkerung, so wird ver­mutet, schon ganzjährig in festen Siedlungen, betrieb jedoch noch Jagd- und Sammelwirtschaft. Der Über­gang zur Landwirtschaft erfolgte erst ein Jahrtausend später. Die Archäologen Gordon Hillman, Susan Col­ledge und David Harris fanden an der Ausgrabungsstät­te große Mengen verkohlter Pflanzenreste, bei denen es sich wahrscheinlich um weggeworfene Reste von Wild­pflanzen handelte, die von den Bewohnern der Fund­stätte gesammelt und dorthin gebracht worden waren. Die Wissenschaftler analysierten über 700 Proben, von denen jede im Durchschnitt mehr als 500 identifizierba­re Samen von über 70 Pflanzenarten enthielt. Wie sich herausstellte, sammelten die Dorfbewohner eine unge­heure Vielzahl von Pflanzen (157 Arten!), die anhand ihrer verkohlten Samen bestimmt werden konnten, ganz zu schweigen von weiteren Pflanzen, deren Bestimmung heute nicht mehr möglich ist.

Sammelten jene naiven Dörfler wohl jede Art von Samenpflanze, deren sie habhaft werden konnten, tru­gen sie heim, vergifteten sich an den meisten Arten und ernährten sich von den wenigen übrigen? Sicher nicht. Während die Zahl von 157 Arten den Eindruck erwecken mag, als sei wahllos alles gesammelt worden, was nur zu finden war, fehlten unter den verkohlten Pflanzenresten doch viele Arten, die in der Umgebung ebenfalls wuch­sen. Die 157 in den Proben enthaltenen Pflanzen fallen in drei Kategorien. Viele haben ungiftige, ohne weiteres eßbare Samen. Bei anderen, zum Beispiel einigen Hül­senfrüchten und Senfgewächsen, sind die Samen zwar giftig, doch das Gift läßt sich leicht entfernen, so daß die Samen doch noch verspeist werden können. Einige wenige Samen gehören zu Arten, die traditionell zum Färben oder als Heilmittel verwendet wurden. Die zahl­reichen Wildpflanzen, die unter den 157 Arten nicht ge­funden wurden, sind genau jene, die für den Menschen nutzlos oder schädlich waren, wie etwa alle besonders giftigen Kräuter, die in der Umgebung der Fundstätte anzutreffen waren.

Die Jäger und Sammler von Tell Abu Hureyra ver­schwendeten ihre Zeit also nicht und brachten sich auch nicht in Gefahr, indem sie wahllos alle möglichen Wild­pflanzen heimtrugen. Sie waren mit der örtlichen Pflan­zenwelt offenbar ebensogut vertraut wie moderne Neu­guineer und setzten ihr Wissen ein, um nur die nütz­lichsten Samenpflanzen zu ernten. Eben diese bildeten aber vermutlich die Grundlage für die unbewußten er­sten Schritte in Richtung Domestikation.

Schauplatz meines zweiten Beispiels dafür, wie vorge­schichtliche Völker ihr biologisches Wissen zum eige­nen Vorteil nutzten, ist das Jordantal im 9. Jahrtausend v. Chr., als dort mit der Kultivierung von Anbaupflanzen begonnen wurde. Die ersten domestizierten Getrei­dearten des Flußtals waren Gerste und Emmerweizen, die noch heute zu den ertragreichsten Anbaupflanzen der Welt zählen. Doch wie in Tell Abu Hureyra muß es auch hier Hunderte anderer samentragender Wildpflanzenarten in der Umgebung gegeben haben, von denen 100 oder mehr eßbar gewesen und vor Beginn der Pflan­zendomestikation regelmäßig von Sammlern geerntet worden sein dürften. Was war das Besondere an Gerste und Emmerweizen, das die Wahl ausgerechnet auf sie fallen ließ? Waren jene ersten Bauern des Jordantals bo­tanische Stümper, die nicht wußten, was sie taten? Oder waren Gerste und Emmer tatsächlich die besten heimi­schen Wildgetreidearten der Region?

Zwei israelische Wissenschaftler, Ofer Bar-Yosef und Mordechai Kislev, bemühten sich um eine Antwort auf diese Frage, indem sie Wildgräser untersuchten, die im Jordantal noch heute vorkommen. Dabei ließen sie Ar­ten mit kleinen oder ungenießbaren Samen außer acht und wählten nur die 23 wohlschmeckendsten, großsa­migsten Wildgräser aus. Es überrascht nicht, daß sich darunter auch Gerste und Emmerweizen befanden.

Nun waren die 21 anderen Gräser auf der Liste aller­dings nicht alle gleich nützlich. Von den 23 Arten erwie­sen sich Gerste und Emmerweizen in vielerlei Hinsicht als die geeignetsten Kandidaten. Emmerweizen hat die größten Samenkörner, Gerste die zweitgrößten. In der Natur ist Gerste im Jordantal eines der vier Gräser mit der stärksten Verbreitung, Emmerweizen liegt im Mit­telfeld. Zu den weiteren Vorteilen der Gerste zählen ge­netische und morphologische Eigenschaften, durch die nützliche Veränderungen in den natürlichen Samenver­breitungsmitteln und im Keimverzug (siehe letztes Kapi­tel) binnen relativ kurzer Zeit geschehen konnten. Em­merweizen hat dafür andere Vorzüge zu bieten: Er läßt sich besser ernten als Gerste und unterscheidet sich von den meisten anderen Getreidearten dadurch, daß die Körner fest von Spelzen umschlossen sind. Die Nach­teile der 21 anderen Arten bestehen in kleineren Samen, geringerer natürlicher Verbreitung und zum Teil auch darin, daß es sich um perennierende statt um einjähri­ge Pflanzen handelt, was Veränderungen im Zuge ihrer Domestikation stark verlangsamt hätte.

Die ersten Ackerbauern des Jordantals entschieden sich mit anderen Worten für die zwei besten der 23 ge­eignetsten Wildgräser, die in ihrer Umgebung wuch­sen. Die evolutionären Veränderungen der Samenver­breitungsmittel und des Keimverzugs (nach Beginn der Kultivierung) waren natürlich unvorhergesehene Folgen des Handelns jener ersten Bauern. Die ursprüngliche Se­lektion von Gerste und Emmerweizen erfolgte aber be­wußt und beruhte auf den leicht erkennbaren Merkma­len Samengröße, Genießbarkeit und natürliche Verbrei­tung. Das Beispiel des Jordantals verdeutlicht ebenso wie das von Tell Abu Hureyra, daß die ersten Bauern ihre ausführlichen Kenntnisse über heimische Arten zum ei­genen Vorteil einzusetzen verstanden. Bei dem umfang­reichen Wissen über die Pflanzenwelt ihrer Umgebung, wie sie heute höchstens noch eine kleine Zahl studierter Botaniker besitzt, konnte es ihnen kaum passieren, daß sie eine nützliche Wildpflanzenart übersahen und zu kul­tivieren versäumten, die ähnlich gut zur Domestikation geeignet war wie Gerste und Emmerweizen.

Wir wollen nun untersuchen, wie sich Bauern in zwei Regionen der Welt (Neuguinea, Osten der USA) mit un­abhängig entstandener, aber anscheinend weniger effek­tiver Nahrungsproduktion (verglichen mit Vorderasien) verhielten, als ertragreichere Kulturpflanzen aus ande­ren Regionen eintrafen. Falls diese Pflanzen aus kultu­rellen oder sonstigen Gründen nicht übernommen wur­den, müßten wir weiter nagende Zweifel hegen. Unge­achtet alles bisher Gesagten bliebe der Verdacht, in der lokalen Wildflora könnte sich vielleicht doch ein Vor­fahr einer potentiell wertvollen Anbaupflanze verber­gen, der von den örtlichen Bauern aufgrund kultureller Faktoren nicht beachtet wurde. Am Beispiel der beiden Regionen wird uns außerdem eine entscheidende Tat­sache der Geschichte vor Augen geführt: daß nämlich Kultur pflanzen aus verschiedenen Teilen der Erde un­terschiedlich ertragreich waren.

Neuguinea, nach Grönland die zweitgrößte Insel der Welt, liegt nur etwas nördlich von Australien in Äqua­tornähe. Wegen seines tropischen Klimas und der äu­ßerst vielfältigen Lebensräume und Topographie besitzt Neuguinea eine reichhaltige Flora und Fauna (allerdings keine so reichhaltige wie vergleichbare festländische Tro­penregionen). Die Besiedlung Neuguineas durch den Menschen reicht mindestens 40 000 Jahre zurück – viel länger als die Nord- und Südamerikas und etwas län­ger als die Besiedlung Westeuropas durch anatomisch weiterentwickelte Menschen. Insofern hatten die Neu­guineer reichlich Gelegenheit, mit der örtlichen Pflan­zen- und Tierwelt vertraut zu werden. Waren sie aber auch motiviert, ihr Wissen einzusetzen, um eine land­wirtschaftliche Nahrungsproduktion aufzu bauen?

Ich erwähnte bereits, daß wir es beim Übergang zur Landwirtschaft mit einer Konkurrenzsituation zwischen dem Jagen und Sammeln auf der einen und Ackerbau und/oder Viehzucht auf der anderen Seite zu tun ha­ben. In Neuguinea ist die Jagd- und Sammelwirtschaft nicht in dem Maße lohnend, daß der Anreiz zur Nah­rungsproduktion dadurch geschmälert würde. Die heu­tigen Jäger und Sammler der Insel leiden besonders un­ter der ausgesprochenen Wildarmut: Unter den landbe­wohnenden Tierarten, die in Neuguinea heimisch sind, ist keins größer als der Kasuar, ein 100 Pfund schwe­rer flugunfähiger Vogel, und als ein 50 Pfund schweres Känguruh. Im neuguineischen Tiefland spielen in Kü­stennähe Fische und Schalentiere eine wichtige Rolle als Nahrungslieferanten, während viele Bewohner des Landesinneren noch als Jäger und Sammler leben und sich vorwiegend von wildwachsenden Sagopalmen er­nähren. Von den Hochlandvölkern Neuguineas hat je­doch keins die Jagd- und Sammelwirtschaft bis in die Gegenwart beibehalten; sie leben durchweg in bäuerli­chen Gesellschaften, die mit Nahrung aus der Natur le­diglich ihren Speiseplan bereichern. Begeben sich Hoch­landbewohner im Dschungel auf die Jagd, so nehmen sie als Proviant Gemüse mit, das aus ihren Gärten stammt. Falls sie das Pech haben, daß ihnen die Vorräte ausge­hen, müssen sie trotz ihrer detaillierten Kenntnis der heimischen Wildpflanzen und -tiere im Wald verhun­gern. Da die Jagd- und Sammelwirtschaft mit anderen Worten in großen Teilen des heutigen Neuguinea un­praktikabel ist, überrascht es nicht, daß alle neuguin­eischen Hochland- und die meisten Tieflandbewohner heutzutage seßhafte Bauern sind. Große, früher bewal­dete Gebiete des Hochlands wurden von traditionellen neuguineischen Bauern in abgezäunte, entwässerte, in­tensiv genutzte Ackerflächen verwandelt, die eine große Zahl von Menschen ernähren.

Archäologische Funde lassen den Schluß zu, daß die Landwirtschaft in Neuguinea schon vor langer Zeit be­gann, etwa um 7000 v. Chr. In jener Zeit waren alle Land­massen in der Umgebung der Insel noch ausschließlich von Jägern und Sammlern besiedelt, so daß die frühe Landwirtschaft auf Neuguinea unabhängig von äuße­ren Einflüssen entstanden sein muß. Zwar wurden bis­her keine eindeutigen Überreste von Anbaupflanzen aus vorgeschichtlicher Zeit entdeckt, doch dürften einige der gleichen Pflanzen darunter gewesen sein, die zur Zeit der europäischen Kolonisation angebaut wurden und von denen man inzwischen weiß, daß sie wilde neu­guineische Vorfahren besitzen. Von herausragender Be­deutung ist Zuckerrohr, die führende Anbaupflanze der heutigen Welt, deren Jahresproduktion in Tonnen fast so hoch ist wie die der Pflanzen auf den Rängen 2 und 3 (Weizen und Mais) zusammen. Andere Kulturpflanzen von unumstritten neuguineischer Herkunft sind unter anderem einige Bananenarten mit der Sammelbezeich­nung Australimusa, der Nußbaum Canarium indicum, Sumpftaro sowie verschiedene eßbare Gräser, Wurzeln und grüne Gemüse. Brotfruchtbaum, Jamswurzel und (gewöhnlicher) Taro wurden möglicherweise ebenfalls in Neuguinea domestiziert, doch läßt sich darüber nur spekulieren, da die wildwachsenden Vorfahren dieser Gewächse außer in Neuguinea auch in Teilen Südosta­siens vorkamen. Zur Zeit fehlen noch Hinweise, die ein­deutig darüber Auskunft geben, ob die Domestikation dieser Arten in Südostasien, wie bisher angenommen, oder auch eigenständig in Neuguinea (oder sogar nur dort) erfolgte.

Bei näherer Untersuchung stellt man allerdings fest, daß Neuguineas Flora und Fauna von drei schwerwie­genden Nachteilen geprägt ist. Erstens wurde auf der In­sel – im Gegensatz zu Vorderasien, der Sahelzone und China – kein einziges Getreide domestiziert. Mit der starken Konzentration auf Knollen- und Baumfrüchte verkörpert Neuguinea den Extremfall eines Phänomens, das auch in anderen feuchten Tropenregionen (Amazo­nasbecken, tropisches Westafrika, Südostasien) anzutref­fen ist, wo ebenfalls Wurzelfrüchte wichtige Anbauge­wächse darstellten; daneben wurden in diesen Regionen aber mindestens zwei Getreidearten (asiatischer Reis und Tränengras, ein besonders großkörniges asiatisches Ge­treide) domestiziert. Der Grund dafür, daß in Neugui­nea keine Landwirtschaft auf Getreidebasis entstand, lag vermutlich darin, daß kein entsprechendes Rohmaterial vorhanden war: Von den 56 großsamigsten Wildgräsern der Welt ist kein einziges auf der Insel heimisch.

Zweitens war unter den Tieren Neuguineas kein einzi­ges größeres Säugetier, das sich zur Domestikation geeig­net hätte. Die einzigen Haustiere, die heute auf der Insel gehalten werden, Schwein, Huhn und Hund, trafen in­nerhalb der letzten Jahrtausende auf dem Weg über Indo­nesien vom südostasiatischen Festland her ein. Während die Bewohner des Tieflands ihren Eiweißbedarf durch Fischfang decken, leiden die bäuerlichen Hochlandbe­wohner wegen des niedrigen Eiweißgehalts ihrer Grund­nahrungsmittel (Taro und Süßkartoffel) unter chroni­schem Eiweißmangel. So liegt der Eiweißgehalt von Taro bei nur 1 Prozent, also weit unter dem von Reis und noch weiter unter dem der Weizenkörner und Hülsen­früchte des Fruchtbaren Halbmonds (8–14 beziehungs­weise 20–25 Prozent).

Bei den Kindern im neuguineischen Hochland beob­achtet man noch heute geschwollene Bäuche, ein typi­sches Anzeichen von Eiweißmangel, gepaart mit der Auf­nahme großer Nahrungsmengen. Alte und junge Neu­guineer verspeisen regelmäßig Mäuse, Spinnen, Frösche und anderes Kleingetier, das in anderen Regionen, wo große Haustiere oder Wild zur Verfügung stehen, als Nahrungsquelle verschmäht wird. Wahrscheinlich ist Eiweißmangel auch die tiefere Ursache des verbreiteten Kannibalismus in den traditionellen neuguineischen Hochlandkulturen.

Und schließlich lieferten die in Neuguinea in frühe­rer Zeit angebauten Wurzelfrüchte nur begrenzte Kalo­rien- und Eiweißmengen, da sie in den großen Höhen, in denen viele Neuguineer heute leben, nicht gut gedei­hen. Vor mehreren Jahrhunderten kam jedoch mit der Süßkartoffel, die ursprünglich aus Südamerika stamm­te und wahrscheinlich über die Philippinen, wohin sie die Spanier brachten, nach Neuguinea gelangte, eine neue Wurzelfrucht auf die Insel. Verglichen mit Taro und anderen älteren neuguineischen Anbaugewächsen gedeiht die Süßkartoffel auch in höheren Lagen, zeich­net sich durch schnelleres Wachstum aus und liefert hö­here Hektarerträge, die noch dazu weniger Arbeitsein­satz erfordern. Die Folge des Imports der Süßkartoffel war eine Bevölkerungsexplosion im Hochland von Neu­guinea. Das zeigt, daß die heimischen Kulturpflanzen, die vor dem Eintreffen der Süßkartoffel seit Jahrtausen­den angebaut worden waren, sowohl der Bevölkerungs­dichte als auch dem Siedlungsgebiet (Höhenlage) Gren­zen gesetzt hatten.

Neuguinea bietet somit einen lehrreichen Gegensatz zu Vorderasien. Wie die Jäger und Sammler im Bereich des Fruchtbaren Halbmonds brachten auch die neuguin­eischen die Landwirtschaft eigenständig hervor. Ihr An­bausystem litt jedoch unter dem Fehlen domestizierba­rer Getreidearten, Hülsenfrüchte und Tiere, dem dar­aus resultierenden Mangel an eiweißreicher Nahrung im Hochland sowie dem schlechteren Gedeihen heimi­scher Wurzelfrüchte in höheren Lagen. Dabei können sich die Kenntnisse der Neuguineer über die Wildpflan­zen und -tiere ihrer Umwelt mit denen aller anderen Völker der Erde messen. Es darf getrost davon ausge­gangen werden, daß sie alle Pflanzenarten, deren Do­mestikation lohnend gewesen wäre, entdeckt und gete­stet hätten. Auch sind die Neuguineer sehr wohl in der Lage, sinnvolle Ergänzungen ihres Sortiments an An­baupflanzen zu erkennen, wie die eifrige Übernahme der Süßkartoffel beweist. Die gleiche Lehre vermitteln auch heutige Entwicklungen auf Neuguinea, wo Stämme mit leichterem Zugang zu importierten Anbaupflanzen und Haustieren (beziehungsweise höherer kulturell bedingter Übernahmebereitschaft) auf Kosten von Stämmen, de­nen es daran mangelt, expandieren. Der begrenzte Er­folg der Landwirtschaft auf Neuguinea hatte also nicht das geringste mit den Völkern Neuguineas zu tun, son­dern rührte ausschließlich von Flora, Fauna und Um­weltbedingungen her.

Mein zweites Beispiel dafür, wie eine unabhängig ent­standene Landwirtschaft durch die Gegebenheiten der örtlichen Pflanzenwelt in ihrer Entwicklung beschränkt wurde, liefert der Osten der USA. Wie in Neuguinea wurden dort heimische Wildpflanzen eigenständig do­mestiziert. Allerdings ist die früheste Entwicklung im Osten der USA weitaus besser erforscht als in Neugui­nea: Die Kulturpflanzen der ersten Ackerbauern konn­ten bestimmt werden, und auch Zeitpunkte und Rei­henfolge der lokalen Domestikation sind bekannt. Lan­ge vor der Ankunft von Anbaupflanzen aus anderen Gegenden siedelten sich nordamerikanische Indianer in Flußtälern an und betrieben dort auf der Grundla­ge lokaler Anbaugewächse eine intensive Landwirt­schaft. Sie waren mithin in der Lage, die Vorzüge der vielversprechendsten Wildpflanzen zu nutzen. Welche Pflanzen kultivierten sie am Ende, und wie schnitt ihr »Gründerpaket« im Vergleich zu dem des Fruchtbaren Halbmonds ab?

Vier »Gründerpflanzen« wurden im Zeitraum zwi­schen 2500 und 1500 v. Chr. im Osten der USA domesti­ziert, volle 6000 Jahre nach der Domestikation von Wei­zen und Gerste in Vorderasien. Eine örtliche Kürbisart lieferte neben kleinen Behältern eßbare Kerne. Die drei übrigen Gründerpflanzen wurden nur wegen der eßba­ren Kerne angebaut (Sonnenblume, ein Gänseblümchen-Verwandter namens Sumpfholunder und Gänsefuß, ein entfernter Verwandter des Spinats).

Drei Nahrungspflanzen und ein Gewächs zur Herstel­lung von Behältern ergaben jedoch noch keine ausrei­chende Grundlage für den Einstieg in die Landwirtschaft. Zwei Jahrtausende lang fristeten diese Gründerpflan­zen deshalb ein relativ unbedeutendes Dasein als Er­gänzung des Speiseplans der Indianerstämme im Osten der USA, die sich weiterhin in erster Linie von den Ga­ben der Natur ernährten (insbesondere von Wild und Wasservögeln, Fisch, Schalentieren und Nüssen). Erst ab 500–200 v. Chr., als noch drei weitere Anbaupflan­zen (Knöterich, Maygrass und Little Barley, eine Ger­stensorte) hinzugekommen waren, wuchs die Bedeutung der Landwirtschaft.

Ein moderner Ernährungswissenschaftler wäre von den sieben Anbaupflanzen des amerikanischen Ostens hellauf begeistert. Alle besaßen einen hohen Eiweißge­halt (17–32 Prozent gegenüber 8–14 Prozent bei Wei­zen, 9 Prozent bei Mais und noch weniger bei Gerste und weißem Reis). Zwei von ihnen (Sonnenblume und Sumpfgras) waren überdies sehr ölhaltig (45–47 Pro­zent). Vor allem Sumpfgras wäre mit 32 Prozent Eiweiß- und 45 Prozent Ölgehalt den Idealvorstellungen eines Ernährungswissenschaftlers sehr nahe gekommen. Wie kommt es dann, daß diese Idealkost von unserem Spei­seplan so gänzlich verschwunden ist?

Bei den meisten der genannten Gewächse standen dem Vorteil eines hohen Nährwerts schwere Nachteile ge­genüber. Gänsefuß, Knöterich, Little Barley und May­grass besaßen winzige Samen, deren Volumen nur einem Zehntel dessen von Weizen- und Gerstenkörnern ent­sprach. Noch schwerer wogen die Nachteile beim Sumpf­gras, einem windbestäubten Verwandten des Ambrosi­enkrauts, das als Heuschnupfenerreger verschrien ist. Wie Ambrosienkraut können auch Sumpfgraspollen Heuschnupfen auslösen, wenn die Pflanze in dichten Beständen wächst. Wen das noch nicht davon abbringt, Sumpfgras anzubauen, dem sei noch gesagt, daß dieses Gewächs einen starken Geruch verströmt, der nicht je­dem zusagt, und daß Berührungen zu Hautreizungen führen können.

Kurz nach Beginn unserer Zeitrechnung gelangten Kulturpflanzen aus Mexiko über Handelsrouten in den Osten der heutigen USA. Mais traf um 200 n. Chr. ein, spielte aber noch etliche Jahrhunderte eine sehr unter­geordnete Rolle. Um 900 n. Chr. tauchte endlich eine neue Maissorte auf, die an die kurzen Sommer in Nor­damerika angepaßt war, und mit der Ankunft der Boh­ne um 1100 n. Chr. war das mexikanische Trio aus Mais, Bohne und Kürbis schließlich komplett. Die Landwirt­schaft im Osten der USA erhielt dadurch kräftigen Auf­trieb, und am Mississippi und seinen Nebenflüssen ent­standen Reiche mit hoher Bevölkerungsdichte. In eini­gen Gebieten wurden die ursprünglich domestizierten Pflanzen parallel zu den viel ertragreicheren aus Mexiko weiter angebaut, in anderen jedoch vollständig von die­sen verdrängt. Kein Europäer erblickte je Sumpfgras in indianischen Gärten, da diese Pflanze zur Zeit der eu­ropäischen Kolonisation Nord- und Südamerikas, die 1492 begann, nicht mehr kultiviert wurde. Unter allen erwähnten frühen Anbaupflanzen des amerikanischen Ostens konnten sich nur zwei (Sonnenblume und Öst­licher Kürbis) in der Konkurrenz mit domestizierten Pflanzen fremder Herkunft behaupten und werden auch jetzt noch angebaut. Verschiedene heutige Kürbisarten sind direkte Nachfahren jener schon vor Tausenden von Jahren domestizierten amerikanischen Kürbisse.

Der Osten der USA hält somit, wie Neuguinea, eini­ge interessante Lehren bereit. Grundsätzlich hätte man dort die unabhängige Entstehung einer ertragreichen Landwirtschaft für wahrscheinlich halten können. Die Region besitzt fruchtbare Böden, es fällt genügend, aber nicht zuviel Niederschlag, und das Klima ist immerhin so günstig, daß den heutigen Farmern reiche Erträge beschert werden. Die Pflanzenwelt ist artenreich und besteht unter anderem aus wilden Nußbäumen wie Ei­che und Hickory. Die indianischen Bewohner der Re­gion begründeten die Landwirtschaft auf der Basis hei­mischer Pflanzen, die sie domestizierten, und wurden in Dörfern seßhaft; im Zeitraum zwischen 200 v. Chr. und 400 n. Chr. kam es sogar zu einer kulturellen Blü­te (Hopewell-Kultur im heutigen Ohio). Somit bestand mehrere Jahrtausende lang Gelegenheit, die nützlichsten Wildpflanzen der Region ausfindig zu machen und ge­gebenenfalls als Anbaupflanzen zu nutzen.

Wir dürfen aber nicht vergessen, daß die Hopewell-Blütezeit erst rund 9000 Jahre nach Entstehung der er­sten dörflichen Gemeinschaften in Vorderasien anbrach. Und selbst dann dauerte es noch bis etwa 900 n. Chr., bis das mexikanische Pflanzentrio ein starkes Bevölke­rungswachstum auslöste, in dessen Folge am Mississip­pi eine kulturelle Blütezeit begann, in welcher die größ­ten städtischen Siedlungen und die hochentwickeltsten Gesellschaften entstanden, die uns von Indianern nörd­lich Mexikos bekannt sind. Doch dieser Boom kam viel zu spät, um die Indianer Nordamerikas für die heran­nahende Katastrophe der europäischen Kolonisation zu wappnen. Eine Landwirtschaft, die allein auf den Pflan­zen des amerikanischen Ostens basierte, hatte aus nahe­liegenden Gründen nicht ausgereicht, um den Wachs­tumsschub auszulösen. Die heimischen Wildgetreide der Region waren nicht annähernd so potent wie Weizen und Gerste. Die Indianer des amerikanischen Ostens domestizierten auch niemals heimische Hülsenfrüchte, Faserpflanzen, Obst oder Nußbäume. Zudem besaßen sie außer Hunden, deren Domestikation wahrscheinlich in einem anderen Teil Nord- oder Südamerikas erfolgte, kein einziges Haustier.

Sicher ist auch, daß die Indianer im Osten der USA unter den Wildpflanzen ihrer Umgebung keine bedeu­tenden potentiellen Anbaupflanzen übersahen. Selbst Agrarwissenschaftler des 20. Jahrhunderts konnten, gestützt auf die gesammelten Erkenntnisse der moder­nen Forschung, nur geringe Erfolge bei der Nutzbarma­chung nordamerikanischer Wildpflanzen verbuchen. Es stimmt zwar, daß Pekannüsse und Blaubeeren domesti­ziert und einige eurasische Obstpflanzen (Äpfel, Pflau­men, Weinbeeren, Himbeeren, Brombeeren, Erdbeeren) durch Kreuzung mit ihren wilden nordamerikanischen Verwandten verbessert wurden. Diese wenigen Erfolge änderten jedoch unsere gegenwärtigen Ernährungsge­wohnheiten bei weitem nicht so nachhaltig, wie die der Indianer im Osten der USA durch die Einführung von Mais aus Mexiko in der Zeit nach 900 n. Chr. verändert wurden.

Diejenigen, die am meisten über die domestizierten Pflanzen des amerikanischen Ostens wußten, nämlich die dortigen Indianer, fällten ihr Urteil, indem sie sich nach Ankunft des mexikanischen Pflanzentrios ganz oder teilweise von ihnen abwandten. Das beweist zu­gleich, daß kein kultureller Konservatismus die ameri­kanischen Indianer davon abhielt, den Wert einer An­baupflanze, die ihnen zu Gesicht kam, zu erkennen und sie zu übernehmen. Ähnlich wie in Neuguinea war auch im Osten der heutigen USA der beschränkte Erfolg der eigenständigen Landwirtschaft nicht der indianischen Bevölkerung zuzuschreiben, sondern gänzlich der ame­rikanischen Fauna, Flora und Umwelt.

Wir haben bisher drei Regionen mit unabhängig ent­standener Landwirtschaft erörtert. Von ihnen ist der Fruchtbare Halbmond der eine Extremfall, den ande­ren bilden Neuguinea und der Osten der USA. Wir ha­ben gesehen, daß die Völker Vorderasiens mit Abstand als erste mit der Domestikation von Pflanzen began­nen. Sie domestizierten weit mehr Pflanzen, viel ertrag­reichere oder nützlichere Arten und ein erheblich brei­teres Spektrum von Anbaugewächsen. Zudem entwickelten sie intensivere Formen der Landwirtschaft, die höhere Bevölkerungsdichten ermöglichten. Das alles geschah in größerem Tempo als anderswo, was letzten Endes dazu führte, daß die Völker Vorderasiens mit hö­her entwickelter Technik, komplexeren Formen politi­scher Organisation und einer größeren Zahl epidemi­scher Krankheiten, mit denen sie andere Völker anstecken konnten, ins moderne Zeitalter eintraten.

Wir haben festgestellt, daß diese Unterschiede zwi­schen dem Bereich des Fruchtbaren Halbmonds, Neugui­nea und dem Osten der USA eindeutig aus der vorhande­nen Ausstattung mit Wildpflanzen und -tieren resultier­ten, die zur Domestikation zur Verfügung standen, nicht aber aus besonderen Merkmalen der dortigen Völker. Von außen eingeführte ertragreichere Kulturpflanzen (Süßkartoffel in Neuguinea, mexikanisches Pflanzentrio im Osten der USA) wurden prompt übernommen, mit der Folge einer Intensivierung der Landwirtschaft und eines steilen Bevölkerungsanstiegs. Entsprechend gehe ich davon aus, daß in Regionen der Erde, in denen die Landwirtschaft nicht unabhängig entstand – wie Kali­fornien, Australien, die argentinische Pampa und West­europa – wahrscheinlich noch weniger domestizierbare Wildpflanzen und -tiere vorkamen als in Neuguinea und im Osten der USA, wo die Landwirtschaft wenigstens ein bescheidenes Niveau erreichte. Mark Blumlers be­reits zitierte Analyse der weltweiten Verbreitung groß­samiger Wildgräser sowie die Untersuchung der Ver­breitung großer Säugetiere, die Gegenstand des näch­sten Kapitels sein wird, ergeben übereinstimmend, daß in all jenen Regionen, in denen die Landwirtschaft gar nicht entstand oder nie über das Anfangsstadium hin­auskam, ein Mangel an Wildvorfahren domestizierba­rer Vieh- und Getreidearten herrschte.

Erinnern wir uns, daß in der Anfangsphase der Land­wirtschaft auch die Konkurrenz zwischen Nahrungspro­duktion auf der einen und Jagd- und Sammelwirtschaft auf der anderen Seite eine Rolle spielte. Man könnte deshalb fragen, ob nicht überall dort, wo die Landwirt­schaft nur langsam oder gar nicht entstand, ein besonde­rer Ressourcenreichtum, der günstige Voraussetzungen für die Jagd- und Sammelwirtschaft schuf, die Ursache war, nicht aber eine besonders geringe Zahl domestizier­barer Arten. In Wirklichkeit war es so, daß die meisten dieser Regionen Jägern und Sammlern besonders wenig zu bieten hatten, da die meisten großen Säugetiere Au­straliens und Nord- und Südamerikas (anders als in Eu­rasien und Afrika) gegen Ende des Eiszeitalters ausge­storben waren. Die Landwirtschaft wäre somit in diesen Regionen auf noch weniger Konkurrenz gestoßen als in Vorderasien. Erstklassige Jagdreviere können demnach nicht dafür verantwortlich gemacht werden, wenn die Landwirtschaft nicht entstand oder in den Kinderschu­hen verharrte.

Um Mißverständnissen vorzubeugen, sei an dieser Stelle noch einmal hervorgehoben, daß weder die Be­reitschaft zur Übernahme besserer Anbaupflanzen und Haustiere noch die Beschränkungen aufgrund des loka­len Angebots an Wildpflanzen und -tieren überbetont werden sollten. Beides sind keine absoluten Gegeben­heiten. Wir haben bereits zahlreiche Beispiele erörtert, bei denen ertragreichere Anbaupflanzen fremder Her­kunft übernommen wurden. Daraus kann geschlossen werden, daß Völker in der Lage sind, nützliche Pflanzen zu erkennen, daß sie deshalb besser geeignete domesti­zierbare Pflanzen – sofern vorhanden – wahrscheinlich auch erkannt hätten und nicht durch kulturellen Kon­servatismus oder Tabus daran gehindert wurden. Ei­ner wichtigen Ergänzung bedarf diese Aussage jedoch: All dies gilt nur bei langfristiger und großräumiger Be­trachtung. Jeder Kenner der Geschichte menschlicher Kulturen kann nämlich zahllose Beispiele anführen, bei denen Anbaupflanzen, Haustiere und andere Neuerun­gen abgelehnt wurden, obwohl sie durchaus nützlich ge­wesen wären.

Natürlich hege ich nicht die naive Vorstellung, daß jede Gesellschaft sofort jede Neuerung übernimmt, die für sie von Vorteil wäre. Tatsache ist vielmehr, daß bei Betrachtung ganzer Kontinente und anderer geogra­phischer Großräume mit Hunderten konkurrierender Gesellschaften einige dieser Gesellschaften eine aufge­schlossenere Haltung gegenüber Neuerungen einneh­men und andere eine ablehnendere. Die aufgeschlosse­neren Gesellschaften, die sich für die Übernahme neuer Anbaupflanzen, Haustiere oder Techniken entscheiden, sind wahrscheinlich diejenigen, die sich besser ernäh­ren, rascher vermehren und am Ende innovationsscheue Gesellschaften verdrängen oder gar vernichten. Wir ha­ben es hier mit einem wichtigen Phänomen zu tun, des­sen Erscheinungsformen weit über die Einführung neu­er Kulturpflanzen hinausgehen und auf das wir in Ka­pitel 12 zurückkommen werden.

Überbetont werden sollten auch nicht die Beschrän­kungen, die sich aus dem vorhandenen Angebot an Wild­pflanzen und -tieren für die Entstehung der Landwirt­schaft ergeben. Ich sage ausdrücklich nicht, daß die Landwirtschaft in jenen Regionen, in denen sie bis in die jüngere Vergangenheit nicht eigenständig hervor­gebracht wurde, nie von selbst entstanden wäre. Wenn heute davon gesprochen wird, daß die australischen Ab­origines bei Anbruch der Neuzeit noch in der Steinzeit lebten, steht dahinter oft die Vorstellung, daß dieser Zu­stand ewig fortgedauert hätte.

Um den darin liegenden Trugschluß zu begreifen, stellen wir uns einmal vor, ein Besucher aus dem All würde der Erde im Jahr 3000 v. Chr. einen Besuch abstatten. Der Außerirdische fände im Osten der USA keinerlei Spuren der Landwirtschaft vor, weil diese in dem Gebiet erst um 2500 v. Chr. auf den Plan trat. Zöge der Besucher im Jahr 3000 v. Chr. den Schluß, negative Merkmale der Pflan­zen- und Tierwelt im Osten der USA würden die Ent­stehung der Landwirtschaft dort für alle Zeit unmög­lich machen, hätten ihn die Ereignisse im Jahrtausend darauf Lügen gestraft. Selbst ein Besucher Vorderasiens hätte zu dem Fehlurteil verleitet werden können, diese Region sei für die Landwirtschaft verloren, wenn seine Visite im Jahr 9500 v. Chr. und nicht erst 8500 v. Chr. stattgefunden hätte.

Meine These lautet demnach nicht, daß es in Kalifor­nien, Australien, Westeuropa und all den anderen Gebie­ten, in denen die Landwirtschaft nicht unabhängig ent­stand, keine domestizierbaren Arten gab und daß dort für immer nur Jäger und Sammler gelebt hätten, wenn keine fremden Völker oder an fremden Orten domesti­zierten Pflanzen und Tiere eingetroffen wären. Vielmehr stelle ich fest, daß zwischen den Regionen große Unter­schiede in der Zahl der vorhandenen domestizierbaren Arten bestanden, daß sich die Regionen entsprechend auch im Zeitpunkt der Entstehung der Landwirtschaft unterschieden und daß in einigen fruchtbaren Regio­nen bis in die Neuzeit hinein keine Nahrungsprodukti­on unabhängig entstand.

Australien, der vermeintlich »rückständigste« Konti­nent, liefert hierfür ein gutes Beispiel. Im mit Wasser reich gesegneten Südosten, dem für die Landwirtschaft am besten geeigneten Teil Australiens, schlugen örtliche Aborigines-Gesellschaften offenbar in den letzten Jahr­tausenden einen Weg ein, der irgendwann einmal zur Nahrungsproduktion geführt hätte. So hatten sie bereits Winterdörfer errichtet und damit begonnen, ihre Um­welt systematisch zu bewirtschaften, indem sie Fischfal­len, Netze und sogar lange Kanäle bauten. Hätten die Europäer Australien nicht 1788 kolonisiert und dieser Entwicklung ein Ende gesetzt, wären australische Abo­rigines möglicherweise binnen weniger Jahrtausende zu Nahrungsproduzenten geworden, mit Fischteichen und Feldern, auf denen domestizierte australische Jamswur­zeln und kleinsamige Gräser wuchsen.

Vor diesem Hintergrund können wir nun auch die in der Überschrift dieses Kapitels gestellte Frage beantwor­ten, ob nämlich der Grund dafür, daß die nordameri­kanischen Indianer keine Äpfel domestizierten, bei ih­nen oder bei den Äpfeln zu suchen sei.

Es soll nicht unterstellt werden, daß Äpfel in Nordame­rika nie hätten domestiziert werden können. Bedenken Sie, daß Apfelbäume historisch zu den am schwersten domestizierbaren Obstbäumen zählten und wegen der komplizierten Veredelungsverfahren, die dazu erforder­lich waren, auch in Eurasien erst sehr spät domestiziert wurden. Es gibt keine Anzeichen, die dafür sprechen, daß mit der Kultivierung von Äpfeln auf breiter Front selbst in Vorderasien und Europa früher begonnen wur­de als zur Zeit des klassischen Hellenismus, sprich 8000 Jahre nach dem Aufkommen der Landwirtschaft in Eu­rasien. Hätten die amerikanischen Indianer im gleichen Tempo Veredelungstechniken erfunden beziehungswei­se übernommen, wären auch sie am Ende zur Domesti­kation von Äpfeln gelangt – etwa im Jahr 5500 n. Chr., also rund 8000 Jahre nach dem Beginn der Pflanzendo­mestikation in Nordamerika um 2500 v. Chr.

Die »Schuld« daran, daß die nordamerikanischen In­dianer vor dem Eintreffen der Europäer keine nordame­rikanischen Äpfel domestizierten, ist also weder den In­dianern noch den Äpfeln anzulasten. Was die biologi­schen Voraussetzungen der Apfeldomestikation betrifft, so unterschieden sich weder indianische Bauern noch nordamerikanische Äpfel von ihren eurasischen Pen­dants. Einige der Supermarktäpfel, die Lesern dieses Ka­pitels vielleicht besonders schmackhaft erscheinen, wur­den sogar erst vor relativ kurzer Zeit durch Kreuzung eurasischer und wilder nordamerikanischer Apfelsor­ten gezüchtet. Der Grund für das Ausbleiben der Ap­feldomestikation in Nordamerika lag vielmehr in der gesamten Pflanzen- und Tierwelt, die von den dortigen Bewohnern vorgefunden wurde. Ihr vergleichsweise ge­ringes Domestikationspotential erklärt den späten Start der Landwirtschaft in Nordamerika.